Ostdeutschland und die postnazistische Gesellschaft

Gemeinschaft über alles

Mehr als 20 Jahre nach der Wende in der DDR gilt nach wie vor die Diagnose: Ostdeutschland ist eine Sonderbewusstseinszone in der postnazistischen Gesellschaft der Bundesrepublik. Der Nationalsozialistische Untergrund ist das originäre Erbe der DDR.

Der Soziologe Winfried Gebhardt beschreibt am Anfang seines Aufsatzes »›Warme Gemeinschaft‹ und ›kalte Gesellschaft‹. Zur Kontinuität einer deutschen Denkfigur« eine Begebenheit, die tatsächlich so stattgefundenen haben soll: Ein Streit über die Raumtemperatur in einem Bürogebäude eskaliert zwischen den ost- und den westdeutschen Angestellten. Während diese eine Temperatur von 20 Grad Celsius favorisieren, bestehen jene darauf, »in der vertrauten Geborgenheit einer 25 Grad warmen Stube ihr Tagwerk verrichten zu können«. Die Auseinandersetzung gipfelt in der Anklage der Ostdeutschen: »Ihr nehmt die Kälte, die ihr verströmt, gar nicht mehr wahr!«

Bis heute sind ostdeutsche Gemüter von der Vorstellung beherrscht, man selbst verkörpere menschelnde Wärme, Nähe und Geborgenheit, wohingegen den arroganten Wessis soziale Kälte, Egoismus und Unpersönlichkeit zur Last gelegt werden. Diese Vorwürfe gleichen fast wortwörtlich jenen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland gegen die amerikanische Gesellschaft erhoben wurden. Der völkische Soziologe Werner Sombart fasste damals die von Vertretern aller politischen Lager vertretene Ansicht zusammen, wonach in Amerika »alles organisch Gewachsene ausgelöscht« sei. Der Gemeinschaftstheoretiker Ferdinand Tönnies sekundierte, dass in Folge dessen »die Mechanisierung des Lebens auf die Spitze getrieben« worden sei.
Ganz in der deutschen Tradition stehend solidarisierte sich der Dramatiker Heiner Müller 1992 in der Frankfurter Rundschau mit den von amerikanisierten Westdeutschen ausgebooteten Ossis und gab unmissverständlich einen Ausblick, worauf die Sucht nach menschlicher Wärme und autochthoner Gemütlichkeit letztlich hinausläuft: »Im Meer der Überfremdung ist Deutschsein die letzte Illusion und Identität, die letzte Insel.« Während in der Bundesrepublik die Präsenz der Westalliierten die Westbindung Konrad Adenauers forcierte, wurde in der nestwarmen Nischengesellschaft der DDR jener unheimliche Gemeinschaftsgeist konserviert und weiter kultiviert, der auch schon den Nationalsozialismus zur Massenbewegung werden ließ.

In der Konsequenz ist die auf den ersten Blick harmlos klingende Ostidentität vom Wahn eines nationalen Sozialismus nicht zu trennen, basiert doch beides auf der Affirmation von Scholle und Tradition, von sowohl egalitärer wie autoritärer Gemeinschaft, auf der Verherrlichung schaffender Arbeit und auf antisemitischen Projektionen. Es ist daher alles andere als Zufall, dass der Zerfall des autoritären Antifaschismus solche Zombies wie den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) hervorbrachte. Vielmehr ist dieser ein originäres Erbe der DDR.
In diesem Zusammenhang bietet sich die Betrachtung der Arbeits- und Sozialbeziehungen in den Betrieben der ehemaligen DDR an, die nicht nur Ort der Produktion waren, sondern zugleich auch Lebensmittelpunkt und Sozialisationsinstanz. Hier wurden traditionelle Vorstellungen von Gemeinschaft und Kollektiv am Leben gehalten, die auf dem Prinzip der NS-Betriebsgemeinschaften basierten. Ein hoher Grad an persönlicher Abhängigkeit, auch gegenüber der Partei, der das genaue Gegenteil abstrakter Beziehungen und einer rationalen Bürokratie ist, die Übertragung von Funktionen jenseits der Produktion an die Betriebe etwa in Form von Ferienhäusern, Geschäften, Kitas und Ärzten, die eine hiervon losgelöste private Lebensführung unnötig erscheinen ließen, und nicht zuletzt die symbolische Überhöhung des produktiven Arbeiters verstärkten dieses Arrangement.
Die anfängliche Euphorie in Erwartung der Wiedervereinigung verflog in dem Maße, wie sich die marode DDR-Ökonomie mit dem kapitalistischen Markt konfrontiert sah. Der ostdeutsche Produzentenstolz musste die Kränkung hinnehmen, dass das in die Form des Subjekts gebannte Individuum der kapitalisierten Gesellschaft ein bloß zeitweilig mit kapitalproduktiven Aufgaben betrauter Staatsbürger ist, wie es Joachim Bruhn 1994 treffend formulierte. Mit anderen Worten: Jeder ist potentiell überflüssig für den Fortgang des Betriebs, erst recht in einer Zerfallsökonomie. Unter dem Slogan »Die machen hier alles platt« bezogen sich die gekränkten Ostdeutschen immer stärker auf die Gemeinschaft früherer Tage.
Der ganze Osten wurde zu einer Trutzburg, in der die Selbstethnisierung als Opfer fremder Mächte bis heute zum guten Ton gehört. Man wähnt sich wahlweise betrogen oder verfolgt. Jedes individuelle Unglück wird als Resultat einer von außen kommenden Verschwörung gedeutet, als Angriff auf das eigene Kollektiv, ganz so, als sei die Wiedervereinigung die Folge einer Invasion von Aliens gewesen.
Wer es dann doch ganz nach oben geschafft hat, wie etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel, zieht den Volkszorn auf sich. In der Heitmeyer-Studie »Deutsche Zustände« gibt etwa eine Simone zu Protokoll: »Und wenn ich dann noch Frau Merkel höre, das ist in meinen Augen die größte Vaterlandsverräterin! (…) Sie ist doch ’ne Ostdeutsche! Aber sie hat absolut nichts für den Osten übrig.« Außerdem lasse sie sich »von den Wessis beeinflussen«.
In jenen originär ostdeutschen Unternehmen, die vielfach Ausgründungen ehemaliger Abteilungen der Großbetriebe waren und deren Management aus dem vormaligen mittleren Führungspersonal bestand, wurde der Gemeinschafts- und Kollektivkult ganz offensiv weiter gepflegt: nun als Überlebens- und Wehrgemeinschaft gegen die Zumutungen des Marktes. Das bot sich schon deshalb an, da die Belegschaften, die aus dem ehemaligen Kollegenkreis rekrutiert wurden, für weitreichende Rationalisierungskonzepte gewonnen werden mussten, was unentgeltliche Mehrarbeit einschloss.

Die jüngste Manifestation ostdeutschen Opferkultes ereignete sich vor wenigen Wochen in Jena, das den Ruf hat, vergleichsweise geringe Probleme mit Neonazis zu haben. Für die ZDF-Sendung »Aspekte« wurde mit dem Schriftsteller Steven Uhly, dessen aktueller Roman »Adams Fuge« die eine oder andere Parallele zu den Ermittlungspannen im Zusammenhang mit der rechtsextremen Terrorgruppe NSU enthält, in Jena gedreht. Es sollte der Frage nachgegangen werden, ob Uhlys Furcht, als nicht deutsch aussehender Mensch Ostdeutschland zu bereisen, berechtigt ist.
Dass das ZDF diese Frage überhaupt ernsthaft stellte, veranlasste einige enthusiastische Heimatschützer zu einer Online-Petition, die in Windeseile mehr als 4 500 Beleidigte unterzeichneten: »Sehr geehrte ZDF-Redaktion, wir erwarten eine öffentliche Entschuldigung bei den Bürgern Jenas.« Kommentiert wurde das ganze Unterfangen u. a. so: »Ich kann gar nicht so viel Galle haben, wie ich kotzen möchte (...) Der Beitrag ist eine einzige Frechheit. Und ein Fausthieb in die Gesichter aller Bewohner der neuen Bundesländer, die der Westen immer noch würdelos ›Ossis‹ nennt. Wessis, schämt Euch!«