Italiens Verurteilung wegen Menschenrechtsverletzungen im Umgang mit Flüchtlingen

Im Mittelmeer schwimmen jetzt auch Menschenrechte

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat vergangene Woche die italienische Regierung nach einer Klage nordostafrikanischer Flüchtlinge wegen des Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt. Menschenrechte gelten damit auch auf hoher See.

Ende Mai 2009 strengten 13 eritreische und elf somalische Staatsbürgerinnen und -bürger ein Verfahren gegen die italienische Regierung wegen Menschenrechtsverletzungen an. Die Flüchtlinge waren am Anfang Mai 2009 bei dem Versuch, gemeinsam mit 207 weiteren Personen mit Schlauchbooten von Libyen nach Italien zu gelangen, aus Seenot gerettet worden. Daraufhin wurden sie jedoch nicht, wie bis dahin offiziell üblich, zur 35 Seemeilen entfernten Insel Lampedusa gebracht, sondern auf direkte Anweisung des italienischen Innenministeriums zurück nach Libyen transportiert – ohne dass jemand sie über das Fahrtziel informiert oder nach ihren Namen, ihrer Herkunft und dem Grund der Überfahrt gefragt hatte.
Am Morgen des 7. Mai wurden die Flüchtlinge im Hafen von Tripolis gegen ihren Willen und teils unter Gewaltanwendung den libyschen Behörden übergeben, die sie in diverse Haftzentren sperren ließen. Dem italienischen Flüchtlingsrat gelang es vor Ort, die Vollmachten für die Klage einzuholen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) unterzog solche »Push-Back-Operationen« auf der Hohen See in dem anschließenden Verfahren einer juristischen Prüfung.

Das am Donnerstag vergangener Woche verkündete Urteil stellt eine Grundsatzentscheidung dar, denn nicht nur in Italien wird diese Praxis angewandt, sondern die europäische Grenzpolitik folgt ihr überall. Durch Einsätze der Grenzschutzagentur Frontex und bilaterale Verträge zwischen EU-Staaten und nordafrikanischen Transitstaaten wie Libyen werden Migrantinnen und Migranten der Zugang zum europäischen Territorium und Asylverfahren faktisch verwehrt. Dem steht das völkerrechtliche Zurückweisungsverbot entgegen, das sich in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) findet und Staaten verbietet, Menschen in Länder zurück abzuschieben, in denen ihnen eine Gefahr für Leib oder Leben droht.
Unter Berufung auf bilaterale Abkommen zwischen Italien und Libyen wurden Menschen in libysche Gefängnisse gesteckt, die eigens zum Zweck der Inhaftierung illegalisierter Migrantinnen und Migranten errichtet worden waren – teils mit finanzieller Unterstützung der italienischen Regierung und der EU. Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch und Pro Asyl weisen seit Jahren auf das Fehlen eines funktionierenden Asylsystems in Libyen und die katastrophalen Zustände in libyschen Gefängnissen hin, in denen Migrantinnen und Migranten gefoltert werden und keinerlei Rechtsschutz genießen.
Die libysche Revolution hat daran nichts geändert. Die italienische Regierung verhandelt bereits seit Juni vergangenen Jahres mit dem libyschen Übergangsrat über eine Fortsetzung der gemeinsamen Migrationskontrollen. Der neue italienische Ministerpräsident Mario Monti sagte auf einer Pressekonferenz in Tripolis Ende Januar, dass es ihm übereilt erscheine, Vermutungen über eine Veränderung der italienischen Politik gegenüber »illegaler Einwanderung« anzustellen und dass die Einhaltung der Menschenrechte auf jeden Fall eine Priorität der italienischen Regierung bleibe. Anscheinend hat diese viele weitere Prioritäten.
Bei der öffentlichen Gerichtsverhandlung im Fall »Hirsi Jamaa und andere gegen Italien«, die im Juni 2011 vor dem EGMR in Straßburg stattfand, brachte die italienische Regierung nur ein einziges im Ansatz überzeugendes Argument vor. So hätte deren Anwältin Silvia Coppari zufolge eigentlich die gesamte EU auf der Anklagebank sitzen müssen, schließlich hatte Italien ganz im Sinne der Ziele der europäischen Migrationspolitik gehandelt. Während Coppari die Klageschrift als »politisches Manifest gegen Italien« bezeichnete, warfen die Anwälte der Flüchtlinge, Antonio Lana und Andrea Saccucci, der italienischen Regierung vor, mit den sogenannten Push-Back-Operationen rechtsfreie Räume errichten zu wollen.

Das Urteil des EGMR ist nicht nur ein Schlag für die italienische, sondern auch für die europäische Migrationspolitik insgesamt. Die Richterinnen und Richter in Straßburg folgten der Anklage in allen Punkten. Italien habe nicht nur gegen Artikel 3 der EMRK verstoßen, sondern auch gegen das Verbot von Kollektivausweisungen. Der EGMR stellte klar, dass staatliche Hoheitsbefugnisse und Menschenrechte auch auf hoher See gelten – ein singuläres Urteil in der Geschichte des Völkerrechts. Die italienische Regierung muss nun je 15 000 Euro an die Flüchtlinge zahlen, von denen einige mittlerweile den Weg nach Europa geschafft haben und als Asylsuchende anerkannt wurden. Für zwei von ihnen kommt das Urteil hingehen zu spät: Sie sind beim erneuten Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ertrunken. Es spricht für sich, dass der damals verantwortliche italienische Innenminister Roberto Maroni in einer ersten Reaktion bemerkte, er halte das Urteil für falsch und würde heute wieder genauso handeln.
Beeindruckend ist insbesondere das Sonder­votum des portugiesischen Richters Pinto de Albuquerque. Auch er stimmte der Verurteilung der italienischen Regierung in allen Punkten zu. Er betonte jedoch, die Vertragsparteien der EMRK seien auch dann für deren Einhaltung verantwortlich, wenn auf ihr Geheiß Maßnahmen der Migrationsabwehr auf dem Territorium von Drittstaaten durch deren Behörden oder private Akteure ausgeführt würden. Damit greift der Richter einer möglichen Konsequenz vor, die zynischerweise aus diesem Urteil gezogen werden könnte: die weitere Verlagerung der »Bekämpfung illegaler Migration« in die Herkunfts- und Transitstaaten. Angesichts der bisherigen Entwicklung der europäischen Migrationspolitik ist damit zu rechnen, dass auch künftige Maßnahmen darauf abzielen werden, sich aus der Verantwortung für den Umgang mit Migrantinnen und Migranten zu stehlen.
Die Entscheidung des EGMR zeigt, dass politische Kämpfe unter bestimmten Bedingungen auch über die Gerichte geführt werden können, wenn sie über andere Institutionen zu keinen Ergebnissen führen. Das Urteil könnte der Kritik antirassistischer Gruppen und Menschenrechtsorganisationen mehr Gehör verschaffen.
Eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem EU-Grenzregime ist seit langem überfällig. Hierzu gehört auch eine Problematisierung der künstlichen juristischen Trennung zwischen asylberechtigten Flüchtlingen und illegalisierten Migrantinnen und Migranten. Das Urteil erhält diese Unterscheidung jedoch prinzipiell aufrecht.