Die versprochenen Reformen in Kuba bleiben aus

Rum zu Bonbons

Reformieren oder abstürzen – so lautet die Parole, die Kubas Staatspräsident Raúl Castro im November 2010 ausgegeben hat. Seitdem gab es in Kuba einige ökonomische Reformen, aber der Aufschwung lässt auf sich warten.

»Wir sind zum Warten verdammt und natürlich hoffen hier viele auf weitere Reformen, auf die Möglichkeit, selbst handeln zu können. Aber bisher passiert da nicht viel«, sagt Enrique Gómez Rodríguez. Der 62jährige Mann sitzt im Rollstuhl und hat mit zahlreichen Krankheiten zu kämpfen. Diabetes, Gastritis und eine Knochenerkrankung sorgten dafür, dass der ehemalige Schulleiter schon früh in Rente gehen musste. 242 Pesos nacionales (etwa 7,80 Euro) erhält der sympathische Mann monatlich vom Staat und obendrein bezahlt dieser ihm eine Reinigungsfrau, die auch einkauft. Doch ohne die Hilfe der protestantischen Kirche der Stadt Cárdenas, die ihm täglich eine Mahlzeit liefert, würde der Rentner nicht über die Runden kommen. »Selbst mit dem Lohn eines Arztes von rund 600 Pesos kann man in Kuba keine Familie mehr ernähren, die Lebenshaltungskosten steigen, aber die Löhne halten nicht Schritt«, schildert Gómez das Problem.

Das von ihm beschriebene Phänomen bestimmt den kubanischen Alltag seit Beginn der neunziger Jahre. Ein Blick in die Statistiken belegt den starken Verfall der Reallöhne. 2006 betrug der Durchschnittslohn in Kuba 385 Pesos nacionales. Doch diese Summe hatte nur noch die Kaufkraft von 45 Pesos nacionales, wenn die Preise von 1989 zugrunde gelegt werden. Die Inflation habe die kubanischen Gehälter »wie Butter in der Sonne schmelzen« lassen, konstatierte das Studienzentrum der kubanischen Wirtschaft 2007 in einer Studie. Die Entwicklung hält an. »Kein Wunder, denn hier wird doch kaum noch etwas produziert«, sagt Gómez. »Schauen Sie sich in Cárdenas um. Die Stadt, einst ein blühender Industriestandort, ist auf den Hund gekommen. Die Werften gibt es nicht mehr, die Waggonfabrik, die Leichtindustrie. Eine der beiden Rumdestillen produziert nur noch Bonbons und auch die Landwirtschaft rund um meine Heimatstadt funktioniert schon lange nicht mehr«, schildert er das ökonomische Desaster, das die Hafenstadt seit Beginn der neunziger Jahre durchmacht. Die goldenen Jahre, die Siebziger und Achtziger, haben viele Rentnerinnen und Rentner noch in Erinnerung. Doch seit Fidel Castro 1991 den »Período Especial« ausrief, den Sonderzeitraum nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers, hat sich Kubas Ökonomie nicht wieder erholt. Das Produktionsniveau liegt bei etwa der Hälfte von 1989, dem letzten Jahr vor der Krise. Das soll sich nun ändern.

»Wir können nicht mehr ausgeben, als wir einnehmen«, lautet einer der Leitsätze, mit denen der seit Februar 2008 offiziell amtierende Präsident Raúl Castro, der seit April 2011 auch dem Zentralkomitee der kommunistsichen Partei vorsitzt, die Genossinnen und Genossen seit 2007 zu Wirtschaftsreformen drängt. Seitdem werden staatliche Ausgaben verringert, Effizienz wird eingefordert. Es wird gegen die Korruption vorgegangen und an einer Veränderung des ökonomischen Modells gearbeitet. Dazu gehörte in einem ersten Schritt die Entlassung von 500 000 Staatsangestellten bis zum April 2011, um die Staatskasse zu schonen. Bis 2015 sollen sogar 1,8 Millionen Angestellte, etwa 40 Prozent der Erwerbstätigen, entlassen werden. Große Einschnitte seien nötig, denn sonst drohe die Volkswirtschaft und mit ihr das revolutionäre Gesellschaftssystem zu zerbrechen, mahnte Castro. Mehr Markt, mehr Pragmatismus und weniger Bürokratie sollen Kubas ökonomisches System zukünftig bestimmen, beschloss die kommunistische Partei auf ihrem Parteitag im vergangenen April.
Veränderungen sind auch in Cárdenas zu erkennen. Es gibt inzwischen Straßencafés, die Kuchen, Kaffee, Sandwiches und Süßigkeiten anbieten, und einen Markt für Kunsthandwerk, auf dem Lederschuhe, Kleidung und Ketten verkauft werden. Das hat ein bisschen mehr Leben in die Stadt gebracht. Landesweit sind nun etwa 350 000 Selbständige tätig. Aber ein genauerer Blick zeigt, dass in Cárdenas kaum junge Leute auf den Straßen unterwegs sind, und dass der Verfall auch vor prächtigen Kolonialgebäuden nicht Halt macht.

»Mittlerweile wandert auch die Jugend ab, weil es kaum Jobs gibt«, bestätigt Stirlitz González. Der 36jährige Volkswirt arbeitet im Dienst der Kirche in Cárdenas. Nur im nahegelegenen Touristenzentrum von Varadero gebe es Arbeit, die einigermaßen gut bezahlt werde, sagt er. Der Zuckerrohranbau, der früher einmal die Region prägte, findet kaum mehr statt und auch die Viehwirtschaft leidet unter Versorgungsproblemen. Futter könne in den heißen Monaten des Jahres durchaus knapp werden und es fehle an Speichern, um Vorratshaltung zu betreiben, schildert der Volkswirt ein weiteres Problem. Dabei könnte die Landwirtschaft eigentlich die Versorgung der internationalen Touristinnen und Touristen in Varadero übernehmen, wovon alle profitieren würden. Aber obwohl der internationale Tourismus seit Mitte der neunziger Jahre zu den wichtigsten Devisenbringern gehört und mittlerweile sogar der wichtigste ist, spielt die lokale Landwirtschaft nur eine untergeordnete Rolle.
Seit Ende November 2011 dürfen Privatbauern und Staatsfarmen jedoch endlich direkt an die Hotels und Restaurants verkaufen. Ein Schritt, der in Cárdenas genauso begrüßt wird wie die Ankündigung, Genossenschaften und Kooperativen in der Landwirtschaft sowie in der Produktion und im Dienstleistungssektor zuzulassen. »Doch seit der Ankündigung Ende 2010 ist nichts mehr passiert«, sagt Aurora Valestero García. Die 51jährige Altenpflegerin hat Volkswirtschaft studiert und in den Hotels von Varadero gearbeitet. Der Rentner Gómez ist einer ihrer Patienten. »Hilfe von den Nachbarn ist längst nicht mehr selbstverständlich. Mit der Krise ist auch die soziale Kälte gekommen«, sagt Valestero, deren Großeltern aus Spanien nach Cárdenas kamen. Nun droht der Stadt die Überalterung, denn die Jugend geht und der Anteil der Älteren wird landesweit größer. Derzeit sind 16 Prozent der kubanischen Bevölkerung über 60 Jahre alt, in wenigen Jahren werden es 22 Prozent sein, und darauf seien sie gar nicht vorbereitet, sagt Valestero.
Handfeste Herausforderungen für die Sozialpolitik der Insel seien das, betonen Sozialwissenschaftler wie Pavel Vidal Alejandro. »Der Wandel des planwirtschaftlichen Modells sollte dem Markt eine größere Bedeutung geben. Das zentralisierte System hat 1001 Mal gezeigt, dass es in Kuba und anderswo ineffizient ist«, sagte er im Interview mit der Kirchenzeitung Espacio Laical. Er plädiert für die zügige Fortsetzung der Reformen und für internationale Unterstützung bei der Kreditvergabe, Besteuerung und Beratung von Selbständigen und kleinen Genossenschaften. Diese sollen Vidal zufolge einen neuen Sektor im kubanischen Wirtschaftssystem bilden. Das ist auch erklärtes Programm der Regierung. »Allerdings warten wir immer noch auf Großmärkte, die die Regierung in Aussicht gestellt hat, um die Selbständigen zu versorgen«, ärgert sich ein Konditor in Cárdenas, der anonym bleiben will. Auch bei den angekündigten Kreditprogrammen hat es mehr als ein Jahr gedauert, bis sie umgesetzt wurden, und nicht alle können daran teilnehmen, denn die Fonds sind nur schlecht gefüllt. Ende Januar hat Präsident Castro Geduld mit den Reformen angemahnt.

Siehe auch Interview-Seite 20