Die Wahlen und die Oppositionsbewegung in Senegal

Es reicht nicht

Nach wochenlangen gewalttätigen Demonstrationen, die sieben Menschen das Leben kosteten, fanden im Senegal die Präsidentschaftswahlen statt. Nicht nur die institutionellen Parteien protestieren gegen den alten Präsidenten, sondern auch eine neue politische Bewegung, die von Rappern angeführt wird.

»Es ist unglaublich, dass Wade nicht einsieht, dass er die Macht abgeben muss. Er macht sich über uns lustig, indem er uns ignoriert«, sagt Moussa Penne über den noch amtierenden senegalesischen Präsidenten Abdoulaye Wade. Bei den Präsidentschaftswahlen verpasste der »alte Mann«, wie er dieser Tage oft herablassend genannt wird, mit 34,8 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit. Nun muss er am 25. März in einer Stichwahl gegen den früheren Premierminister Macky Sall antreten, der 26,6 Prozent der Stimmen erhielt und nun als Favorit gilt. In den Wochen vor den Wahlen hatte die Entscheidung des obersten Gerichts heftige Proteste ausgelöst, Wade für eine dritte Amtszeit kandidieren zu lassen, obwohl die Verfassung nur eine einmalige Wiederwahl erlaubt. Wade besteht auf sein Recht, für eine dritte Periode kandidieren zu dürfen, da die Beschränkung auf zwei Amtszeiten erst 2001 in der Verfassung festgeschrieben wurde, ein Jahr nach seinem Einzug in den Präsidentenpalast.
Moussa ist einer von vielen jungen Menschen, die in Dakar gegen Wade protestierten. Der 28jährige wollte nach dem Abitur eigentlich nach Frankreich gehen, wo ein Cousin von ihm lebt: »Er hatte alles schon geregelt, mir einen Studienplatz besorgt und dafür viel Geld bezahlt«, erzählt Moussa, »aber ich bekam kein Visum.« Daraufhin begann er sein BWL-Studium an der staatlichen Universität Cheikh Anta Diop in Dakar. Die Universität hat einen hervorragenden Ruf in Afrika, von den etwa 60 000 Studierenden kommen viele aus dem Ausland. Doch ebenso wie Lehrer an staatlichen Schulen sind Hochschuldozenten in Senegal chronisch unterbezahlt und befinden sich daher ständig im Streik. Vorlesungen und Prüfungen fallen aus, der Zustand des Bildungssystems ist kata­strophal, und den Studierenden bleibt nichts anderes übrig, als ebenfalls zu streiken.

Moussa kann sich glücklich schätzen, denn ein Onkel, der in den USA bei der Weltbank arbeitet, finanziert ihm nun das Studium an einer privaten Universität. Trotzdem wird es nicht leicht für ihn sein, einen Job zu finden, zumal das Geld reichen soll, um eine eigene Familie zu gründen und die Eltern und Geschwister zu unterstützen. In seinem kleinen, an das Haus eines Onkels angebauten Zimmer, das er mit einem Cousin teilt, empfängt er am Abend vor der Wahl einige Freunde, gemeinsam verfolgen sie die neuesten Nachrichten im Internet und im Radio. Die Mutter eines Anwesenden ruft an, der Sohn solle wählen gehen und Wade seine Stimme geben. Er habe schließlich einen Onkel in der Regierung, der könne ihm sicher einen Job besorgen. »Und dass soll eine Demokratie sein?« empört sich Moussa, selbst wenn er auch zu denjenigen gehört, die von diesem System profitieren. Wütend sind er und seine Freunde trotzdem. Wie viele andere junge Menschen wollen sie gleiche Chancen für alle und eine Regierung, die sich an die demokratischen Regeln hält.
Spätestens nachdem Wade im Juni vergangenen Jahres eine Verfassungsänderung durchsetzen wollte, um eine Machtübergabe an seinen unbeliebten Sohn Karim zu ermöglichen, hat er die Unterstützung der Senegalesen verloren. Damals gründeten Oppositionsparteien und zivilgesellschaftliche Organisationen das Bündnis M23, das unter dem Motto »Hände weg von meiner Verfassung« Wades Rücktritt forderte.
Eine wichtige Stimme der Opposition neben dem Bündnis M23, dem alle wichtigen Kandidaten gegen Wade angehören, ist die Gruppe Y’en a marre (»Es reicht«). Die Gruppe, die von Journalisten und einigen bekannten Rappern wie Fou Malade und Thiat gegründet wurde und geführt wird, steht keiner Partei nahe. Sie versteht sich als Jugendbewegung, die einen »neuen Typ Senegalesen« schaffen will, wie der Journalist Fadel Barro, der Sprecher der Gruppe, im Interview erklärt: »Wir wollen eine nicht korrupte, verantwortungsvolle Regierung und politisch aktive Bürger.« Seit einem Jahr ermutigt die Gruppe unter dem Motto »Mein Wahlzettel, meine Waffe« junge Menschen in Senegal, sich in die Wählerlisten einzutragen.

Die protestierenden Journalisten und Rapper wurden in den vergangenen Monaten zum Ziel der staatlichen Repression und verbrachten immer wieder einige Tage im Gefängnis. Zum Schweigen konnte die Regierung Y’en a marre allerdings nicht bringen. Im Dezember kam die Single »Faux pas forcer« heraus, deren Text sich direkt an Wade richtet und ihn zum Rücktritt auffordert. Und am 27. Januar, dem Tag, als Wades Kandidatur vom Verfassungsgericht bestätigt wurde, veröffentlichten die Rapper ein Album und gaben ein großes Konzert auf dem Obeliskenplatz in Dakar.
Das Konzert und eine ergreifende Rede des Rappers Thiat bewegten Moussa dazu, politisch aktiv zu werden. Er hat sich ein Facebook-Account zugelegt und engagiert sich seitdem ununterbrochen. Den »neuen Typ Senegalesen«, von dem die Rapper erzählen, sieht er vor allem als jemanden, der sich traut, auf die Straße zu gehen und zu rebellieren.
Täglich fanden in den Tagen vor der Wahl ungenehmigte Demonstrationen statt. Täglich eskalierte die Situation. Die Demonstrierenden errichteten brennende Barrikaden aus allem, was nicht niet- und nagelfest war. Die Polizei setzte Tränengasgranaten ein, es wurde auch scharf geschossen. Insgesamt sieben Menschen kamen während des Wahlkampfs ums Leben.
Schutz vor dem Tränengas suchend, sammeln sich auf einer dieser Demonstrationen ein Dutzend Menschen vor einer Bank, doch die Türen werden schnell verriegelt, ein Wachmann schickt die Demonstrierenden weg. »Du bist kein Patriot!« brüllt Moussa ihm hinterher. Die Demonstranten, fast ausschließlich Männer, verstehen sich als Patrioten. Auf Demonstrationen werden Slogans wie »Befreit das Volk!« skandiert und auch in den Aufrufen wird an den Nationalstolz appelliert. Viele der jungen Senegalesen, die in diesen Tagen auf die Straße gehen, gehören wie Moussa der Mittelschicht an, sie studieren und haben genug von den verantwortlichen Politikern in ihrem Land, von der Korruption, der Arbeitslosigkeit, den steigenden Lebenskosten in der Metropole Dakar und der ökonomischen Misere.
Von dem »alten Mann« war ihnen die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lageversprochen worden, als er mit seiner Demokratischen Partei im Jahr 2000 die seit 40 Jahren regierenden Sozialisten an der Macht ablöste. Viele der Menschen, die Wade damals unterstützten, kämpfen heute auf den Straßen von Dakar für seinen Rücktritt. Statt Korruption zu bekämpfen, ist der Staatsapparat unter Wade weiter angewachsen. Das Budget des Präsidenten beträgt fast fünf Prozent des Staatshaushalts. Die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich seit 2000 verdoppelt bis verdreifacht. Die Wirtschaft stagniert, es wird kaum in die Industrie oder Landwirtschaft investiert. Sein System aus Patronage und Klientelismus verteidigt der alte Präsident nun mit aller Macht.

Am Wahlsonntag tauchen vor den Wahlbüros in Dakar Jeeps auf, in denen Gruppen junger Männern sitzen. Die Polizei hält sie davon ab, in die Wahlbüros zu kommen. »Wenn sie hier wohnen würden, kämen sie nicht mit dem Auto. Das sind Jugendliche aus den Vororten und aus den Dörfern, die für ein wenig Geld mit gefälschten Karten für Wade wählen sollen«, sagt Nando Gomis und erklärt, dass auf manchen Namen mehrere Wahlkarten ausgestellt sind. Gomis ist Volontär bei der Zeitung Sud Quotidien und besucht an diesem Tag die Wahlbüros, um sich zu erkundigen, ob alles mit rechten Dingen zugeht.
In den Wahlbüros liegen 14 Stapel mit Wahlzetteln. 14 Kandidaten sind zur Wahl zugelassen. Die Wähler sollen alle 14 Zettel mit in die Kabine nehmen und einen in den Umschlag stecken. Der Rest wird weggeworfen. So können auch Analphabeten anhand des Bildes ihres Kandidaten wählen. Wades Stapel seien allerdings in vielen Wahlbüros größer als die anderen geblieben, sagt Gomis: »Viele Menschen, die seine Kandidatur nicht anerkennen, nehmen seinen Zettel demonstrativ erst gar nicht mit in die Kabine.«
Gomis ist mit dem Verlauf insgesamt zufrieden. Bis auf einzelne Zwischenfälle mit gefälschten Wahlkarten ist alles ruhig geblieben. Die Presse, staatliche Wahlbeobachter sowie Beobachter der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft und der EU melden keine Unregelmäßigkeiten.
»Auch wenn es ab und zu staatliche Repression gibt, ist die Presse im Senegal recht vielfältig und kann, im Vergleich zu anderen afrikanischen Ländern, weitgehend unbehelligt arbeiten«, berichtet Madior Fall, der Chefredakteur von Sud Quotidien. Hierzu hat er selbst maßgeblich beigetragen. Sud war die erste unabhängige Zeitung Senegals, die 1986 aus einem Lesekreis kritischer Journalisten gegründet wurde. »Unsere Idee war, qualitativ hochwertige, unabhängige Nachrichten aus dem Süden und für den Süden zu produzieren«, erzählt der ältere, charismatische Sozialist in Cordjacke. Mittlerweile ist aus dem Projekt eine Mediengruppe geworden, die nicht nur eine Zeitung in Print und online herausbringt, sondern auch einen Radiosender und sogar eine renommierte Journalistenschule betreibt. Hier hat etwa Fadel Barro von Y’en a marre studiert, und auch Nando Gomis hat sich aufgrund des guten Rufs und der unabhängigen Berichterstattung für eine Ausbildung bei Sud entschieden. Auch er war an den Protesten beteiligt.
In einigen Wochen wird es eine Stichwahl geben. Macky Sall gilt schon jetzt als Favorit. Sall gehörte ursprünglich dem oppositionellen Bündnis M23 an, kurz vor der Wahl wandte er sich jedoch von diesem ab. Die Demonstrationen seien ihm zu gewalttätig gewesen, lautete die Begründung. Für einen Politikwechsel, für einen »neuen Typ Senegalesen« steht Sall ganz sicher nicht. »Wenn sich nichts ändert, muss der Kampf weitergehen. Es kann gut sein, dass wir in ein paar Jahren wieder an der gleichen Stelle stehen und wieder gegen einen Präsidenten auf die Straße gehen«, steht für Gomis und vermutlich für viele andere in der Bewegung fest.
Auf einem Minibus steht in großen Buchstaben: »Tunesien 2011, Senegal 2012«. Vergleiche mit dem »arabischen Frühling« sind allerdings unangemessen. Auch wenn viele Menschen im Senegal nicht mehr hinter dem Präsidenten stehen, eine neue Politik und eine gesellschaftliche Veränderung sind bisher nicht in Sicht. Die Proteste der jungen Männer, die in den vergangenen Wochen auf die Straße gingen, bedeuten noch lange nicht das Ende des bestehenden politischen Systems.
Auch herrscht in Senegal keine Diktatur. Der erste senegalesische Präsident Leopold Sedhar Senghor wählte 1960 einen friedlichen Weg in die Unabhängigkeit. Er berief sich auf die Werte der Französischen Revolution und auf den Begriff der »Négritude«, er wollte einen »afrikanischen Weg« zur Demokratie begründen. Der französische Einfluss ist heute vor allem im kulturellen Bereich noch stark, auch wirtschaftlich entwickelte sich das Land im Vergleich zu den Nachbarstaaten relativ gut. Wade reihte sich durch seine engen Kontakte zum Westen in diese Geschichte ein. Vor allem die Wirtschaftsbeziehungen zu Europa werden heute von den jungen Demonstrierenden als »postkolonial« kritisiert. Zu Recht, wenn es um subventionierte EU-Exporte geht oder um Konferenzen in Frankreich, auf denen Präsidenten afrikanischer Staaten und europäische Konzernmanager sich die Hand reichen. Doch allzu oft schlägt die Kritik in Verschwörungstheorien um. Etwa wenn behauptet wird, die USA und Israel regierten die Welt oder der französische Kolonialismus sei weitaus schlimmer als der Holocaust gewesen.
Auch Religionskritik ist in der Bewegung kaum zu vernehmen. Zwar werden die Verbindungen der Marabouts, der religiösen Oberhäupter der einflussreichsten muslimische Gruppe in Senegal, mit der Politik kritisiert. Doch Religion darf auch bei den meisten Protestierenden nicht in Frage gestellt werden, genauso wenig die patriarchale Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Politik sei etwas für echte Kerle, davon sind sie alle überzeugt. »Senegalesische Frauen sind nun einmal anders, die interessiert Politik gar nicht«, so viel steht für Moussa fest.

In den letzten Wochen vor der Wahl, als die USA und die EU auf die Proteste reagieren mussten und sich von Wade abwandten, fing auch der senegalesische Präsident an, wie seine Kritiker von »Imperialismus« zu reden und im wildesten Tonfall den Westen zu beschimpfen. Der Versuch, die Protestbewegung für sich zu gewinnen, scheiterte, wie die Wahlergebnisse gezeigt haben.
In Moussas Zimmer laufen am Wahlabend auf mehreren Computern Liveticker mit ersten Hochrechnungen, Radionachrichten ertönen aus den Handys, die Ergebnisse aus den einzelnen Städten schallen durch den Raum. In Touba, auch als »Senegals Mekka« bekannt, hat Wade eindeutig gewonnen. Die Marabouts leben dort auf Staatskosten und sichern dafür die Herrschaft ab. Wades persönlicher Marabout sagte der Presse entgegen allen Fakten, Wade habe im ersten Wahlgang mit 53 Prozent gewonnen. In Fatick liegt dagegen Sall weit vorne – was zu erwarten war, denn es ist seine Geburtsstadt. Begeisterung regt sich allerdings kaum unter Moussas Freunden. »Wenn Macky Präsident wird, wird sich die Situation erst einmal beruhigen«, glaubt Moussa, »aber in ein paar Jahren ist die Enttäuschung wieder dieselbe und die Geschichte wird sich wiederholen.«
An eine Wand seines kleinen, bücherlosen Zimmers hat Moussa mit Filzstift ein Hegel-Zitat geschrieben: »Nichts Großes geschieht ohne Leidenschaft.«
Wenn der »neue Typ Senegalese« Kraft aus seinem Hegel-Zitat schöpft, ist das möglicherweise ein Anfang. Tunesien und Ägypten sind allerdings nicht nur geographisch meilenweit entfernt.