Pop in London

Pop Saved the Queen

Swinging London: Vom Aufstieg und Niedergang der britischen Metropole.
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Sie sind endgültig wieder zurückgekehrt, die Accessoires der Sechziger: der eng anliegende Rollkragenpullover, die Hochwasserhose, die mächtige Hornbille. Auf T-Shirts prangen die Lifestyle-Ikonen jener Jahre, etwa das Antlitz des für seine Magerkeit berühmten Models Twiggy. Die Einrichtung von Friseursalons und der Ikea-Katalog sprechen eine vielleicht noch deutlichere Sprache: Die Sehnsucht nach dem Stil, ja sogar der Zukunft von damals – Stichwort: Retrofuturismus – grassiert.
Warum ist diese Sehnsucht so heftig geworden? Dieser Frage nähert sich Rainer Metzgers Großessay über Aufstieg und Fall von »Swinging London«. So titulierte das Time Magazine vom 15. April 1966 die Stadt, feierte ihre Szene hymnisch und gab damit zugleich einer ganzen Ära den Namen. Umso erfreulicher ist es, dass der Wiener Brandstätter-Verlag Metzgers Essay in einem wahrhaft opulenten Bildband veröffentlicht hat. Zwar ziert Twiggy den Einband, doch für Metzger ist eher Petula Clark die Ikone des »Swinging London«, weil sie mit ihrem Song »Downtown« als erste Britin überhaupt den ersten Platz der amerikanischen Single-Charts erklommen hat. In dem Song geht es um das Lebensgefühl der Großstadt: Hier in London, so der Song, entstehe eine nächtliche Solidarität der Tanzenden und Umherschweifenden, die das krasse Gegenstück zum Leben der in der Enge der Peripherie Festgenagelten darstelle: When you’ve got worries, all the noise and the hurry seems to help, I know – downtown. Just listen to the music of the traffic in the city, linger on the sidewalk where the neon signs are pretty. How can you lose?
Doch warum konnte ausgerechnet London zum Mekka des Pop werden? Die Stadt wirkte nach 1945 grau, trist und schien gezeichnet zu sein von der Anstrengung des Krieges gegen Nazideutschland. Während sich aber in deutschen Städten längst das Wirtschaftswunder entfaltete, mussten die Briten noch bis 1954 mit Bezugsscheinen für rationierte Konsumgüter leben. Und doch besaß nur London die Möglichkeiten, um zur Metropole des Nachkriegsbooms zu avancieren: Zuvorderst war es schon durch die Sprache problemlos möglich, an den musikalischen Umwälzungen teilzuhaben, die aus den USA kamen, am Rock’n’Roll natürlich, aber wichtiger noch an den schwarzen Subkulturen des Blues, Jazz und später des Soul, fast unmittelbar teilzuhaben. Eine besondere transatlantische Beziehung entstand somit durch die blue notes.
Was aber in den USA meist durch Milieu- und Rassenschranken getrennt blieb, das mischte sich in England munter zusammen: eine mehrheitlich weiße, aber an Hautfarben prinzipiell desinteressierte jugendlichen Subkultur wie die der Mods (Abkürzung für »Modernists«), die sich über Modern Jazz und Soul definierte und ihren pseudoaristokratischen Kleidungsstil und die italienischen Motorroller bewusst mit den typischen kleinkrempigen Hüten konterkarierte, die eigentlich das Erkennungsmerkmal der westindischen Einwanderer waren. Die Mods verehrten überdies den aggressiven Gitarrenrock von The Who. Eine stilistische Mischung, die so wohl nur in England entstehen konnte. Überhaupt wurde der synthetisierende Eklektizismus das englische Erfolgsrezept: London destillierte aus dem Amalgam verschiedener Subkulturen die Jugendkultur schlechthin, deren ästhetische Modelle auch in der bildenden Kunst und im Design verbindlich für die west­liche Welt werden sollten.
Zu diesem einzigartigen Verschmelzungsprozess trug wesentlich der britische Gestus von Distinktion und Exzentrik bei: Der Dispens des Individuellen vom Kollektiven wird zur Regel, Exzentrik ist nicht einfach nur geduldet, sondern gilt als ein gängiges Modell, um die Spannung zwischen den eigenen Wünschen und der gesellschaftlichen Norm zu mildern. Schrille Klänge und schrille Mode wurden in Großbritannien nicht als Gefährdung eines einheitlichen Lebensmodells empfunden, zumal sich unter dem Schutz der Klassenschranken das Ideal der Verknüpfung von Phantasie, Müßiggang und Kunstproduktion erhalten hatte. Und das galt nicht nur für die Absolventen der Art Schools: Die Exzentrik des Normalbürgers fand im »beautiful game«, dem Fußball, ihr Residuum. Teil einer bunten, ironischen, ab und an auch bösartigen Subkultur zu sein, gehörte zumindest für männliche Engländer lange schon zum Grundbestand der Lebenserfahrung.
Die Tradition des Distinktiven wurde von der britischen Popmusik keineswegs zerstört, sondern ganz im Gegenteil weitergeführt. Auf dieses Erbe baute etwa Petula Clark mit ihren naiven und liebenswerten Zeilen, die den freien Umgang der Verschiedenen priesen. Selten war »Swinging London« deshalb mehr bei sich, als im November 1963: Im Prince Of Wales Theatre in Soho traten die Beatles in Anwesenheit der Königinmutter auf. Bevor sie »Twist and Shout« spielten, forderte John Lennon das Publikum zur allgemeinen Erheiterung breit lächelnd auf: »Would the people in the cheaper seats clap your hands. And the rest of you, if you’ll just rattle your jewelry … «
Solche Despektierlichkeit gegenüber dem Königshaus war historisch eine Domäne des niederen Adels, und die Protagonisten des »Swinging London«, vor allem Musiker, aber auch Autoren, Schauspieler, Regisseure, Models, Modeschöpfer, Grafiker, Maler und Fotografen, traten denn auch in die Fußstapfen der adligen Sonderlinge. Deren Kriterien von »style, taste and sensitivity« griff die Pop-Meritokratie auf und machte die luxuriöse Existenz des sinnierenden Müßiggängers, der jede Beschäftigung nur aus Lust an der Sache selbst beginnt, ein ungeregeltes Leben führt und sich treiben lässt, zu einem Ideal der Massen. Es war ein widersprüchliches Glück, das nicht von Dauer sein konnte, aber deshalb wohl bis heute eine un­gebrochene Anziehungskraft ausübt. »Was diese wenigen Jahre ausmacht, ist die Überzeugung, sie seien für alle da. Natürlich liegt darin ein gehöriges Stück Eskapismus und genauso ein gehöriges Stück Utopismus. Es ist jene glückliche Situation, in der eine Kultur vom Orchideenstatus des Spezialisierten in die Zugänglichkeit fürs Allgemeine hinüberwechselt und dabei die Balance hält zwischen dem Gespreizten und dem Banalen. Moden sind ganz bei sich, wenn sie Trends verkörpern, ohne ihre Herkunft aus der Bastelei im Hinterhof, aus der kruden Garagenband oder aus der wilden Träumerei in der Stammkneipe zu verleugnen«, schreibt Rainer Metzger.
Entrücktheit war das Stichwort des populären Dandyismus: Der Blick von oben und aus der Distanz auf den Alltag der Metropole war die bevorzugte Perspektive. 1966 war das neue Drehrestaurant auf dem Post Office Tower der letzte Schrei. Etwa zur selben Zeit gaben die Beatles auf dem Dach der Apple-Studios in der Londoner Savile Row unter freiem Himmel ihr letztes öffentliches Konzert. Die Droge der Ära war nicht Koks, sondern LSD, eine Droge, die das produk­tive Zeitregime überhaupt in Frage stellt, die verlangsamt und nicht beschleunigt: »Granny takes a trip« (Oma geht auf Reisen/wirft einen Trip) hieß passenderweise eine der angesagtesten Boutiquen in Chelseas King’s Road.
So sehr »Swinging London« der Eleganz und dem Exquisiten huldigte, beruhte sein globaler Erfolg auf einem Massenphänomen: dem symbolisch aufgeladenen Konsum der Jugend, den es so zuvor nicht gegeben hatte. Zugang zur Konsumgesellschaft hatte jedoch nur derjenige, der über Lohn und Arbeit verfügte, was wiederum so gar nicht den Idealen der Popkultur entsprach. Dandyismus versus Konformität – hier tat sich ein Widerspruch auf, den das Modedesign geradezu revolutionär zu lösen suchte, indem es Konfektionsware konzipierte, die so beschaffen war, dass sie sich durch den Körper des Tragenden individualisierte. Mary Quants Minikleider aus dehnbarem, eng anliegendem Stoff (mit Reißverschlüssen statt Knöpfen) – ihr Äquivalent waren die immer enger geschnittenen Männerhosen – waren genormt und doch wieder nicht, weil eben kein Paar Beine dem anderen gleicht. So wurde der Minirock als Beitrag zur Individuation verstanden, als Aufforderung zum Ausscheren aus der als kollektives Frauenschicksal verordneten Rolle als Hausmütterchen. Und nur vor diesem Hintergrund ist heute noch zu verstehen, wie entschlossen junge Frauen damals um ihr Recht kämpften, den Mini tragen zu können.
Emma Peel, die Agentin, die Diana Rigg in der TV-Serie »The Avengers« (»Mit Schirm, Charme und Melone«) spielte, verkörperte diesen neuen eleganten Frauentypus: kultiviert, kühl, aber zur Not auch handgreiflich, gekleidet wie die Mensch gewordene Op-Art; eine Mischung, mit dem die Serie den Stil des neuen London mit dem des alten Britanniens verbindet, verkörpert von Patrick Macnee als John Steed. Als Emma Peel 1968 aber zum letzten Mal über den Bildschirm fegte, war »Swinging London« bereits dabei, Geschichte zu werden. »Sophistication for the masses«, die der Essayist Reyner Banham noch 1963 erhofft hatte, war an eine unüberwindbare Grenze gestoßen.
Es wirkte wie ein Signal, als sich die Beatles 1966 aus der Öffentlichkeit zurückzogen, um sich von einem zum Wahn ausgewachsenen Kult zu befreien und zugleich andere, deutlich avanciertere Musik als bisher zu machen. Für die Produktion von »Strawberry Fields Forever«, der ersten Single nach dem Rückzug, zogen sie sich ins Studio zurück und experimentierten mit elektronischen Sounds. Damit entfernte sich die Band von ihren Fans, die daraufhin Engelbert Humperdincks Schmachtfetzen »Release me« zur Nummer eins der britischen Hitparade machten. Die stete Verfeinerung des Geschmacks verprellte nicht nur die Käufer, sondern affizierte auch den Stil der Künstler. Viele Musiker konzentrierten sich wieder auf sich selbst und den eigenen Narzissmus. John Lennon und Yoko Ono erfreuten ihr Publikum 1968 beispielsweise mit einer Platte, die die Geräusche einer gemeinsamen Nacht dokumentierte. War das noch ein eher komischer Fehltritt, so gab er doch die Richtung vor. E- und U-Musik rückten auch in der populären Musik wieder weiter auseinander, was beiden Sparten ganz schlecht bekam – aber dennoch unvermeidbar war.
Es war das Fernsehen, das diese Entwicklung schnell reflektierte und kommentierte. Das Gefängnis der psychedelischen Selbstbezüglichkeit ist Thema der 1967 ausgestrahlten Serie »The Prisoner« (»Nummer 6«), in der ein Agent kündigen will, aber entführt wird und fortan in einem hippen Retortenparadies weiterleben muss. Diese Parabel auf den Umschlag von Freiheit in Trott traf offenbar die Empfindungslage der auf sich selbst zurückgeworfenen Künstler: Gewaltphantasien grassierten, die Beatles zitierten sie noch allegorisch mit »Helter Skelter« herbei, die Stones – wie immer – plakativ mit »Sympathy For the Devil«, der große Off-Shot des Jahres 1967, Pink Floyd, schließlich Gänsehaut einflößend mit »Careful with that Axe, Eugene«. In Antonionis Filmepos »Zabriskie Point« werden zu diesem Soundtrack Industriellenvillen gesprengt, Godards »One to One« politisiert mit den Stones die Gewalt des Ennui, während in Lindsay Andersons »If … « einfach in die Masse geschossen wird.
Auch die dunkle Seite der Individuation qua Körperlichkeit zeigt sich nun offen: Sexualität wird scheinbar zur ultimativen Waffe, so wie sie der Dramatiker Peter Orton pries: »Sex ist der einzige Weg, sie so richtig wütend zu machen, es ist die einzige Möglichkeit, die elende Zivilisation zu zerschlagen.« Der damalige Kult um Marquis de Sade und die Mode der Antipsychatrie machten den Horror in Downtown salonfähig.
Die Schriftstellerin Germaine Greer brach schließlich in »The Female Eunuch« (1970) mit dem Glauben an die heilsame Wirkung des Cocktails aus Sex und Gewalt. Drei Jahre zuvor hatte bereits der Hype um das Model Twiggy gezeigt, dass der Körper nicht unbeschadet bleiben kann, wenn er als Vehikel vermeintlicher Befreiung und Individuation dienen muss: Er verliert seine Schwerkraft und Eigenwilligkeit und verweigert damit all das, was das Jahrzehnt von ihm erwartet hatte.
So zieht Metzger ein ernüchterndes Fazit: Die Emanzipation hatte ihren eigenen Stil in private Geschmäcker aufgelöst. Seither bleibt die Öffentlichkeit der ästhetischen Tyrannei des Intimen, Beliebigen und Monströsen unterworfen. Etwas Hoffnung bleibt allerdings, solange noch die Sehnsucht nach dem beschwingten London weiterwirkt. Nur sollte man, wenn es denn schon Motto-Shirts sein müssen, das Twiggy-Motiv gegen ein Emma-Peel-Bild tauschen.

Rainer Metzger: Swinging London. Leben & Kultur 1956 – 1970. Brandstätter, Wien 2011, 368 Seiten, 49,90 Euro