Warmsingen

Rente – ein schlimmes Wort. Denn die Rente ist der klägliche Zeitraum, der einem bleibt, um sich darüber zu ärgern, dass einem das sogenannte Erwerbsleben 30 oder 40 Jahre lang das richtige Leben gestohlen hat. Manche Rentner haben nicht einmal Gelegenheit, sich über das ganze Ausmaß ungelebten Lebens aufzuregen. Sie sind zwar in Rente, kriegen aber eine, die vorne und hinten nicht reicht, und müssen weiterbuckeln. So wie die beiden grauhaarigen, faltigen Herren, die sich neulich bei mir ums Eck abmühten, Passanten bei Nieselregen Zeitungsabos aufzudrücken. Einer stellte sich Fußgängern mit einer Zeitung in der Hand und einem gequälten Lächeln im Gesicht in den Weg. Der andere sollte hinter dem Werbestand offenbar wie ein Marktschreier das grandiose Angebot anpreisen. Doch aus ihm kam ein zwar lauter, aber mitleiderregender Singsang heraus, ein erbarmungswürdiges Mantra, in dem man nur mit Mühe die Worte identifizieren konnte: »Berliner Zeitung!« Niemand blieb stehen, um einen Wisch für ein Probe-Abo auszufüllen. Angesichts des mageren Ergebnisses seiner Arbeit hatte der Mann, dessen Entlohnung sich branchenüblich nach der Zahl der angeworbenen Kunden gerichtet haben dürfte, auf jeden Fall Anlass, ein Klagelied anzustimmen. Ich glaube aber, er hat seine Lebenslage vertont: das ganze Elend, nie richtig Geld verdient zu haben und irgendwann alt, arm und arbeitend im Regen herumzustehen. Seitdem habe ich ein flaues Gefühl im Magen und frage mich:
Soll ich mich schon mal warmsingen?