Das Wuchern der Platten

Berlin Beatet Bestes. Folge 139. Sy Oliver & Orchestra: When The White Lilacs Bloom Again (1956).

Seit zweieinhalb Jahrzehnten bemühe ich mich jetzt schon, inspiriert zu bleiben, immer auf der Suche nach etwas Neuem, mir Unbekanntem. Mir bleibt auch gar nichts anderes übrig. Solange der große Erfolg ausbleibt, muss ich zumindest die vage Hoffnung in mir und anderen nähren, dass ich als Comic­zeichner noch den großen Durchbruch erlebe. Ein hilfreicher Trick ist es, sich künstlich dumm zu halten. Wer sich sehr gut mit allem auskennt, läuft Gefahr, abzustumpfen und sich zu langweilen. Leider ist es fast unmöglich, seine Erfahrungen zu verleugnen. Alter bringt Auskennen mit sich. Als Teenager kannte ich mich zwar nicht aus, kannte aber jede einzelne Platte in meiner Plattensammlung. Eine neue Platte, die mich begeisterte, spielte ich, bis sie mir zu den Ohren rauskam. Heute besitze ich wahrscheinlich um die 10 000 Schallplatten, und wenn ich blind eine beliebige aus dem Regal ziehen und abspielen würde, könnte ich möglicherweise nicht mal sagen, um welche es sich handelt.
Ich habe ein wenig den Überblick verloren. Zudem braucht es mit zunehmendem Alter stärkere Impulse, um in Schwung zu kommen. Ein Indiz dafür ist der riesige Appetit, mit dem ich Musik erwerbe. Ich kaufe nie nur eine Platte, ich kaufe immer gleich 20. Wenn ich nur eine Platte kaufe, weiß ich, was ich kriege. Es könnte aber sein, dass sich unter den 20 eine echte Überraschung verbirgt. Aber es steckt auch reine Gier dahin­ter. Mit derselben Gier stopfen sich viele Leute ihre Festplatten voll, mit wahllos und in großen Mengen aus dem Internet heruntergeladener Musik und Filmen, ohne das Material überhaupt noch konsumieren zu können. Irgendwie besitzen wir alle diese unübersichtlichen Mengen digitaler Musik. Während ich mir früher noch jede Platte selbst kaufen musste, die mich interessierte, haben Teenager heute so viel Musik zur Verfügung wie keine Generation zuvor. Mit riesiger Geschwindigkeit werden immer neue digitale Geräte auf den Markt gebracht. Wer wollte da nicht innehalten, um sich in Ruhe mit Musik zu beschäftigen?
Retro gibt es für mich aber nicht. Ich finde, wenn Musik heute gemacht wird, selbst in der Absicht, so »alt« wie möglich zu klingen, ist sie dennoch aus dieser Zeit: also »neu«. Musik ist nie statisch. Musiker entwickeln immer neue Ideen, selbst wenn sie auf alte Ideen zurückgreifen. Und auf was sollten sie auch sonst zurückgreifen? Das Neue trägt immer das Alte in sich.
Gestern gekauft für 50 Cent: Diese Single von Sy Oliver, dem berühmten Jazztrompeter und Arrangeur von Jimmie Lunceford. Bigband Swing goes Rhythm & Blues. Kannte ich noch nicht. Ist echt toll!