Auszug aus dem Buch »Schlimme Nächte. Von Abstürzen und bösen Überraschungen«

Schlimme Nächte

Vier Geschichten

Geburtstag
Geburtstag! Ich habe Geburtstag! Mein Ehrentag! Das erfahre ich, als ich am Abend nach Hause komme und den Briefkasten öffne. Ein Hotel aus Hanau gratuliert mir. Mit einer richtigen Glückwunschkarte. Von vier Mitarbeitern handschriftlich unterschrieben. Ich bin verwundert. Ich kenne niemanden in Hanau. Erst recht kein Hotel. Ach, halt, doch – vor fünf Jahren war da eine Tagung. Da habe ich in einem Hotel übernachtet.
Aus dem Osten sind die ganzen Frauen in den Westen abgehauen, weil sie da keine Perspektive mehr für sich gesehen haben. Das wurde allseits bejammert. Warum eigentlich? Wo ist das Problem, wenn sich da ganze Landstriche entvölkern? Wenn da demnächst nur noch Wölfe leben, ist das doch ein echter Fortschritt für alle. In Hanau aber hauen die Frauen nicht ab. Sie sind zu schwach dazu, zu deprimiert, zu fatalistisch. Wohin sollten sie auch? Hanau ist ja schon im Westen.
Seither jedenfalls war ich nie wieder in der Stadt, und ich bin sehr froh darüber. Offenbar hat es sich in den letzten fünf Jahren nicht zum Guten gewendet in Hanau, sonst müsste das Hotel am Ort nicht desperate Glückwunschschreiben an Leute verschicken, die dort zufällig mal vor einem halben Jahrzehnt eine Nacht abgestiegen sind. Diese Geburtstagsgrußkarte ist offenkundig ein Dokument der Verzweiflung.
Außerdem ist noch ein Brief von »Hardy’s Videothek« im Kasten, wo ich mir Videos ausgeliehen hatte, als es noch Videokassetten gab. »Hallo Herr Werning«, steht dort, »zu Ihrem Ehrentag möchten wir Ihnen hiermit nur herzlichst alles erdenklich Gute wünschen!! Wir hoffen, dass Sie diesen Abend im Kreise vieler guter Freunde (feucht/fröhlich!!!???) verbringen, haben jedoch auch eine tolle Alternative!!« Eine tolle Alternative zu einem feucht-fröhlichen Abend mit Freunden ist schließlich immer – sich einen Film aus der Videothek zu leihen. Auch dieses Schreiben macht mich traurig.
Einerseits. Aber andererseits – hey, guck mal, wenigstens die Videos habe ich überlebt, denke ich, das ist doch schon was. Ich glaube, ich war so um die zehn Jahre alt, als Videorecorder aufkamen. Eine große technische Revolution. Man konnte damit das Fernsehprogramm aufzeichnen und sich so praktisch unabhängig machen vom Programmablauf der drei Sender, man konnte also eine Sendung einfach so aufnehmen, mit einer sogenannten Timerfunktion, dann während der Ausstrahlung etwas ganz anderes machen, z. B. sich feucht-fröhlich mit Freunden treffen, und dann zu einem günstigen Zeitpunkt trotzdem die Sendung sehen. Verrückt! Meine Eltern hielten nichts von solchen Neuerungen. Sie schienen ihnen nur einen weiteren Verfall der Sitten und Werte zu bringen. Die Jugend wird verwahrlosen, weil sie sich nun an gar keine Ordnung mehr halten muss. Ich glaube, der Gedanke, die »Tagesschau« nicht um 20 Uhr sehen zu müssen, machte ihnen Angst. Rein theoretisch hätten sie jetzt ja bis, sagen wir, 20.30 Uhr bei den Nachbarn bleiben können, und dann nach dem Heimkommen trotzdem die »Tagesschau« sehen können. Oder, noch wagemutiger: Sie hätten, wenn es sich denn so ergäbe, den ganzen Sonntagabend bei irgendwem bleiben können und dann, sagen wir, am Montag den »Tatort« auf Video anschauen können. Einfach so. Meine Eltern aber wollten die »Tagesschau« nicht um 20.30 Uhr gucken. Und erst recht nicht den »Tatort« am Montag. Wo kämen wir denn da hin? Wenn sich alle Strukturen auflösten? Wenn nichts mehr Bestand hätte? Sollten sie dann womöglich am Freitag auch nicht »Derrick« gucken? Und Kulenkampff demnächst am Mittwoch, oder wie? Ein Videorecorder, soviel war klar, ein Videorecorder war ein Gerät aus der Hölle, dazu erschaffen, Chaos und Anarchie in die letzten Trutzburgen eines geordneten Lebens zu bringen. Wahrscheinlich eine Erfindung des KGB, um den Westen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.
Die Sowjetunion gibt es längst nicht mehr, und Videorecorder sind auch schon wieder von der Bildfläche verschwunden. Aber ich bin noch da. Und habe Geburtstag. Genau wie die Diddlmaus. Die hat am selben Tag Geburtstag wie ich. Da haben wir also was gemeinsam, die Diddlmaus und ich. Was für ein irrer Zufall! Mir wird ganz warm ums Herz.
Das Telefon klingelt. Bestimmt will mir noch jemand gratulieren. Ich war ja auch den ganzen Tag nicht da. Ich hebe ab. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!« dringt es tatsächlich aus dem Hörer. Eine Computerstimme. Sie teilt mir mit, dass sie mir für das kommende Lebensjahr viel Glück und Erfolg wünsche, Erfolg vor allem, und da könne sie mir gleich mal ein bisschen auf die Sprünge helfen, sicher suchte ich doch eine Möglichkeit, ganz unkompliziert viel Geld zu verdienen, und deshalb bräuchte ich nur die folgende Nummer anzurufen, und schon könne man mir einen Platz in einem hochmo­tivierten Callcenter-Team versprechen, das nur auf mich und mein Engagement warte, in einem hellen, geräumigen Großraumbüro, und dass dies die Chance sei, meinem Leben eine entscheidende Wendung zum Guten zu geben.
Vielleicht, so überlege ich, wäre eine Wendung nicht das Schlechteste, was meinem Leben geschehen könnte, wenn mir nur noch verzweifelte Hoteliers und Computer zum Geburtstag gratulieren und mein ehemaliger Videoverleiher meint, »Die drei ???« zu schauen, sei das angemessene Programm für eine Feier für mich.
Aber, ach was, Geburtstag – was hat das schon zu sagen. Älter wird man ja jeden Tag. Symbolischer Unsinn einer auf alberne Anlässe fixierten Gesellschaft. Für einen aufgeklärten Menschen nichts, womit man sich befassen müsste.
Ich setze mich an den Computer. Eine Mail der Bahn. Sie gratuliert mir: »Sehr geehrter Herr Werning, zu Ihrem Geburtstag wünschen wir Ihnen alles Gute. Lassen Sie sich heute gebührend feiern und reich beschenken! Natürlich haben wir auch an Sie gedacht und schenken Ihnen 50 bahn.bonus-Extrapunkte.« Ich bin gerührt. 50 bahn.bonus-Extrapunkte! Das bin ich der Bahn wert! 50 bahn.bonus-Extrapunkte. Schon für 500 bahn.bonus- Punkte könnte ich im Bordbistro eines ICE meiner Wahl einen Genussgutschein im Wert von 5 Euro erhalten! Man könnte also sagen, die Bahn schenkt mir – einfach so zum Geburtstag! – eine Fünftel-Tasse Kaffee in ihrem Bordbistro! Das heißt, wenn ich noch 20 Cent drauf lege. Ich bin glücklich. Nun bin ich also stolzer Besitzer eines Anrechts auf ca. 35 ml frisch gebrühten Bordbistrokaffees, aber das ist noch längst nicht alles: »Das ist aber noch längst nicht alles: Hier wartet noch eine kleine Überraschung auf Sie.« Vor dem »hier« ist ein kleines Pfeilchen, ein Link, was mag sich dahinter verbergen? Ich klicke den Pfeil an und folge der Bahn in das weltweite Netz, das sie im Gegensatz zu seinem Pendant bei der Berliner S-Bahn hoffentlich einigermaßen im Griff hat, und … ein niedliches kleines Mädchen steht auf einer grünen Wiese, im Hintergrund rauscht ein animierter ICE über den Bildschirm. Das Mädchen hält einen roten Luftballon in der Hand. Süß. Ich lese: »Für Ihren Geburtstag haben wir uns diesmal etwas ganz Besonderes einfallen lassen: das Luftballonspiel. Pumpen Sie einfach den roten Ballon auf, und mit ein bisschen Glück können Sie sich auf unserer Bestenliste verewigen.« Das ich das noch erleben darf! Ich muss nicht in Hanau leben, ich habe die Videokassette kommen und gehen sehen, die Diddlmaus werde ich auch noch schaffen, und nun darf ich mich womöglich auf der Bahn-Bestenliste der zehn größten Geburtstagsballonpumper verewigen.
Als ich die Tränen der Rührung aus den Augen gewischt habe, kann ich weiterlesen: »Um Ihren Geburtstagsballon aufzupumpen, klicken Sie einfach mit der Maus auf die Luftpumpe.« Mit der Diddlmaus? Ach was, weiter: »Über die anschließenden Mausbewegungen blasen Sie den Ballon auf. Sie haben 30 Sekunden Zeit, so viel Luft wie möglich in den Luftballon zu pumpen. Nach Ablauf der Zeit entschwebt der Ballon in den virtuellen Himmel und Ihr erreichter Punktestand wird angezeigt. Sollten Sie zu den zehn größten Ballonpumpern gehören, haben Sie die Highscore geknackt und können sich in die Bestenliste eintragen.« Ich klicke auf den Los!-Button. Ist das spannend! Ich pumpe wie ein Besessener, ich pumpe und pumpe, noch zehn Sekunden, ich kann die Maus kaum halten mit meinen schweißnassen Fingern, 4, 3, 2, 1 – da entschwebt mein roter Ballon in den virtuellen Himmel. Das ist blanke Poesie. 4,3 m groß ist er, wird mir mitgeteilt, aber dennoch: »Sie haben es leider nicht in die Highscore geschafft!« Ich versuche es noch ein paarmal, aber immer dasselbe Ergebnis: »Sie haben es leider nicht in die Highscore geschafft!« Na ja, man muss den Hals auch mal voll bekommen können.
Neugierig klicke ich auf die Liste, um zu schauen, wie groß die Ballons der 10 besten Ballonpumper denn so geworden sind. »Die besten Platzierungen im Überblick«, steht über der Seite, darunter eine Liste mit zehn leeren Zeilen. Keinerlei Einträge. Das Ergebnis ist ebenso eindeutig wie ernüchternd. Niemand hat es in »die Highscore« geschafft. Kein Kunde kann den Anforderungen der Bahn genügen. Wir sind einfach nicht gut genug. Eine kleine Lektion in Sachen Demut zu meinem Ehrentag. Danke, liebe Bahn. Und mir bleiben ja schließlich die 50 bahn.bonus-Sonderpunkte.
Spät in der Nacht klingelt es an der Tür. Ich öffne. Davor stehen Hardy von »Hardy’s Videoverleih«, die Diddlmaus und ein Mädchen mit einem roten Luftballon. Hardy hat eine »­Drei-???«-DVD in der Hand, die Diddlmaus überreicht mir freudestrahlend einen Pappbecher mit einer kleinen Kaffeepfütze darin. Wir setzen uns gemeinsam aufs Sofa und schauen uns den Film an. Nächstes Jahr, so beschließen wir, fahren wir alle vier zusammen mit der Bahn nach Hanau.

McDonalds & ich
Berlin, Bahnhof Zoo. Vor mir läuft ein Mittzwanziger-Pärchen entlang. »Ich hab Hunger«, nörgelt er, findet bei ihr aber keine Gnade: »Wir sind doch bald zu Hause.« »Ach komm, lass uns doch einfach zu McDonalds gehen.« Sie daraufhin aufrecht entrüstet: »Jetzt, wo die Amerikaner den Irak angegriffen haben?«
Ich bin bezaubert. So etwas hatte ich ja schon seit Jahren nicht mehr gehört! Ich dachte, so etwas wäre mit den Achtzigern ausgestorben. Oder hätte sich transformiert in: »Bei Burger King sind aber gerade mexikanische Wochen, lass uns lieber dahin gehen«.

Ich denke an meine frühe Jugend zurück. Erstmals von McDonalds erfahren – in Münster gab es sowas in den frühen Achtzigern noch gar nicht! – hatte ich mit dreizehn im Zeltlager der katholischen Gemeinde. Die Betreuer waren natürlich alle, wie damals noch üblich, grünalternativ und wollten bei ihren Schützlingen das richtige politische Bewusstsein entwickeln. So mussten wir denn auf einer schnitzeljagdähnlichen Veranstaltung, bei der es diverse Aufgaben zu bewältigen gab, unter anderem »eine große amerikanische Abfütterungsanstalt« finden und dort möglichst viele Argumente gegen sie aufschreiben. Ich war natürlich der Einzige, der keinen Schimmer hatte, wovon überhaupt die Rede war, und vermutlich wäre ich noch bis zum Ende der Sommerferien durch Coburg geirrt, wären meine Mitstreiter nicht besser informiert gewesen. Als wir das »etwas andere Restaurant« gefunden hatten, waren wir schon ganz schön hungrig, und ich wollte mal gucken. Ein Altersgenosse aus meiner Gruppe beschied aber bestimmt: »Da darf man nicht essen!«
Meine späteren Versuche, die Gründe für dieses kategorische Verbot zu erfragen, waren lange Zeit nicht richtig von Erfolg gekrönt. Ich stieß auf eine Wand eisigen Schweigens, die Statements beschränkten sich auf kurze Ablehnung oder wenig erhellende Erläuterungen wie »Das ist total eklig« oder »Das ist völlig ungesund«. »Ja, aber sonst gehen wir doch auch immer zum Dorf-Grill, das ist doch wohl kaum gesünder … « Wer den Dorf-Grill kannte, weiß, wie Recht ich hatte.
Es half nichts. Wahrscheinlich wussten sie es wirklich nicht. Klar war nur: Irgendwie waren alle dagegen: die Eltern und Lehrer wegen Kulturverlust und ungesund, die coolen, älteren, friedensbewegten Jugendlichen mit ihren Strickpullovern und Langhaartrachten wegen den bösen Amis, dem Regenwald und überhaupt.
Wie auch immer, die Indoktrination hatte gesessen. Als ich später in Münster den ersten McDonalds entdeckte, war ich zwar sehr neugierig, traute mich aber nicht rein, weil ich Angst hatte, jemand könnte mich sehen. Ein bisschen wie Sex-Shop.
Erst viel später war ich souverän genug, die Sache mit ein paar Bestellungen zu erkunden. Ich fand’s ganz okay, ein bisschen teuer im Vergleich zur normalen Pommesbude und etwas weniger lecker, weil nicht so schön fettig. Und sie hätten Ronald McDonald meinetwegen mal ein längeres Bad in einer der Fritteusen gönnen können. Schon damals ging mir dieser ganze Gute-Laune-Terror erheblich auf die Nerven. Vielleicht wäre das der richtige Grund gewesen, die Läden einfach alle platt zu machen, vielleicht hätte man damals alles Weitere noch verhindern können. Aber nun ist es, wie es ist, wir haben die Spaßgesellschaft und die »Sat 1 Comedy Nacht« und Mario Barth, jetzt müssen wir sehen, wie wir damit fertig werden.
Was McDonalds anging, blieb aber die etwas mystische Aura des Verbotenen, erst recht, als ich nach Berlin umzog. In meinem ökologisch orientierten Studiengang, wo ich mir schon heftige Rüffel einfing, wenn ich mal irgendwo mit einer Plastiktüte auftauchte, wäre das Bekenntnis, dass man den Laden soooo schlimm eigentlich gar nicht findet, Rufselbstmord gewesen.
Die ersten Monate in der neuen Stadt und an der Uni waren für mich eine in jeder Hinsicht aufgewühlte Zeit. Mein Bewusstsein wurde um einige Dimensionen erweitert, ich erlernte die geschlechtsneutrale Sprache – einzig: Ich kam nicht recht zum Vögeln. Also beschloss ich, mich politisch zu engagieren.
Eines Abends landete ich mit einer Mitaktivistin in der Kneipe. Sie war immer eine der Selbstbewusstesten und Radikalsten, ungefähr fünfzehn Jahre älter als ich, und hatte eine wüste Prä-Studiums-Biographie aufzuweisen. Es wurde ein schöner Abend. Und irgendwann nachts, als die Stühle hochgestellt wurden, sagte sie: »Ich habe noch Hunger. Kommst du mit zu McDonalds?« Das war der Moment, in dem ich mich sofort Hals über Kopf in sie verliebte. Sie berichtete, dass sie mal, kurz bevor sie als Kaffee-Ernte-Helferin nach Nicaragua gegangen sei, ein Jahr in Detroit gelebt hätte, in einem Projekt zur Stärkung der Gewerkschaftsstrukturen, und dass sie Fast Food aus dieser Zeit noch sehr schätzte und ihr das ganze ideologische Gebrabbel »auf die Eierstöcke« ging – ganz echt, so wurde damals gesprochen.
Anschließend fragte sie mich, ob ich mit zu ihr kommen wollte. Ich torkelte mit weichen Knien hinter ihr her.
Bei ihr angekommen, tranken wir noch ein Bier, dann knutschten wir ein wenig. Schließlich sagte sie, dass es Zeit sei, ins Bett zu gehen. Sie zog sich aus und legte sich auf ihren 2x2-Meter-Futon. Ich war schreckstarr. »Was’n los? Komm schon«, forderte sie mich auf, im normalsten Tonfall der Welt. Zögernd zog ich mich auch aus und legte mich zu ihr, und als sie bemerkte, dass ich natürlich ziemlich erregt war, musste sie kurz lachen und meinte zu meiner völligen Verwirrung: »Ach so, na das!« Dann hockte sie sich neben mich und holte mir einen runter. Danach meinte sie: »Du bist wirklich süß. Manchmal tut’s mir fast leid, dass ich lesbisch bin.« Sie küsste mich, schmiegte sich in meinen Arm und schlief ein. Ich lag verwirrt neben ihr, wagte die ganze Nacht kaum zu atmen und tat kein Auge zu.
Lange hatte ich mich danach gesehnt, und das war er nun also: mein erster Sex in Berlin. Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. Ein bisschen wie ein Besuch bei McDonalds. Man fühlt sich immer etwas deplatziert, wird zwar schon irgendwie satt, aber richtig befriedigend ist es nicht.

Romantik
Vielleicht war ich einfach ein bisschen sehr romantisch veranlagt damals. Jedenfalls lief das so: Ich war restlos verliebt in Sarah. Ich hätte mir alles, wirklich alles mit ihr vorstellen können. Mit einer Ausnahme: darüber zu reden, dass ich in sie verliebt war. Sie würde es schon merken mit der Zeit und sich zurückverlieben. Davon war ich fest überzeugt.
Wir verbrachten viele Abende zusammen, und unsere Beziehung wurde immer inniger, einzig: Sie wurde keine Beziehung. Nur Geduld, ermahnte ich mich selbst, nur Geduld. Sie würde es schon merken. Es würde ihr ohnehin nicht viel anderes übrig bleiben, als mich zu nehmen, denn nach und nach machte ich mich unentbehrlich in ihrem Leben und wurde immer raumgreifender. Kaum ein Wochenende verging, an dem wir nichts zusammen unternahmen, kaum ein Tag ohne ausführliches Telefonat. Im Grunde waren wir eigentlich längst zusammen, verglichen mit dem, was ich bei Freunden so beobachtete. Wir verbrachten mehr Zeit miteinander als die meisten Paare, und wir kamen offenkundig auch besser miteinander aus. Wahrscheinlich war sie schon lange in mich verliebt, und sie merkt es nur noch nicht, dachte ich.
So ging das monatelang, ohne dass die Situation sich in irgendeiner Weise änderte. Ein vollständiges Patt. Ich wurde immer unglücklicher. Klar, wir hatten eine wunderbare Zeit zusammen, das wollte ich keinesfalls aufs Spiel setzen. Ich hatte Angst davor, dass sie auf Abstand gehen würde, wenn ich es ihr sagte. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich fand sie ja gut, weil sie an sich eine wunderbare Person war, das war schließlich ganz unabhängig von ihrer Haltung zu mir. Und niemals würde ich riskieren, diese Freundschaft wegen so etwas Profanem wie, sagen wir, dem Wunsch nach Sex aufs Spiel zu setzen. Wie gesagt, vielleicht war ich einfach ein bisschen sehr romantisch veranlagt damals. Wenn ich es heute recht überlege: Vielleicht war ich auch ein ziemlicher Depp damals.
Aber dann kam dieser Abend. Bei ihr. Spät. Kerzen. Die richtige Musik. Draußen Frost. Drinnen Kohleofen. Nicht wirklich warm. Decke. Kuschlig. Wir berührten uns. Also: weil wir so eng beieinander saßen. Vielleicht hätte ich aus den zufälligen Berührungen gezielte machen müssen. Aber bloß nichts kaputt machen durch voreiliges Agieren! Würde ich nicht den ganzen Abend entweihen und unter den Generalverdacht des billigen Kalküls stellen, würde ich jetzt eindeutige Absichten zeigen? Müsste sie sich nicht fragen, ob ich nicht die ganze Zeit nur mit ihr vögeln wollte, wie all die anderen Typen auch? Nein, so jemand wollte ich nicht sein. Ach was, Romantik. Ich war ein Volltrottel.
»Willst du nicht hier bleiben heute?« fragte sie plötzlich. Mein Herz pochte. Allerdings! Aber was jetzt? Müsste ich irgendwas tun? Bloß nichts überstürzen, ermahnte ich mich erneut, am Ende empfindet sie es als Vertrauensbruch, wenn ich mich jetzt einfach an sie heranmache. Es würde sich schon ergeben. Sie würde mir schon ein Signal geben, wenn sie so weit wäre. »Dann lass uns mal ins Bett gehen«, sagte sie. Wir war das denn jetzt gemeint?
Gut, sie zog sich aus. Aber was hatte ich erwartet? Das macht man schließlich, wenn man ins Bett geht. Sie zog sich aus, bis auf die Unterwäsche. Ich tat es ihr vorsichtig nach, war allerdings sehr darauf bedacht, mich ihr nicht im falschen Winkel zu zeigen, denn natürlich hätte sie meine eigentliche Intention nun sehr leicht erkennen können. Sie bestieg ihr Hochbett und legte sich hinein, ich stand ratlos davor. Ich nahm allen Mut zusammen und fragte: »Wo soll ich schlafen?« Sie lachte überrascht auf: »Na, hier oben natürlich, hier ist doch das Bett.« Tja, da hatte sie natürlich Recht. Da war ja das Bett. Das hätte ich eigentlich auch selbst bemerken können. War ja nur eine Einzimmerwohnung. Schnell schlüpfte ich zu ihr hinein. Und lag nun also neben ihr. Und jetzt? Irgendwas tun? Oder würde alles von allein gehen? Ich war unglaublich aufgeregt, wähnte mich fast am Ziel, nach all den quälenden Monaten. Jetzt nur auf den letzten Metern nichts mehr falsch machen. Sorgfältig achtete ich darauf, jede Lage zu verhindern, die sie unweigerlich auf meinen physiologischen Zustand aufmerksam gemacht hätte. Nicht, dass ich den grundsätzlich vor ihr geheim halten wollte, im Gegenteil, aber eben alles zu seiner Zeit, sie sollte ja auf keinen Fall denken, dass ich nur mit ihr ins Bett gekommen bin, um – mit ihr ins Bett zu kommen.
Ich lag also starr da und versuchte ängstlich, Abstand zu halten. Längere Zeit passierte nichts. Schließlich wisperte sie: »Na dann: gute Nacht!« Sie drehte sich auf die Seite. »Gute Nacht«, erwiderte ich überrascht. Was war das denn jetzt? Eine Art Vorspiel? Erotik findet ja bekanntlich vor allem im Kopf statt. Wollte sie die Spannung steigern? Das wäre allerdings zumindest von meiner Seite aus völlig unnötig gewesen. Und bei ihr schien es auch nicht recht zu klappen, denn ihre ruhigen Atemzüge klangen eher … verdammt, sie schlief. Ich lag da im emotionalen Ausnahmezustand, die Liebe meines Lebens im Bett direkt neben mir – und sie war einfach eingeschlafen. In meinem Kopf drehte sich alles. So lag ich starr da, machte kein Auge zu und konnte auch sonst nichts machen. Es wurde eine schreckliche Nacht.
Und es blieb nicht die einzige. Nachdem nun also auch offiziell zusammen Schlafen, ohne zusammen zu schlafen, zu unserem Freundschaftsrepertoire gehörte, hielten wir es fortan immer so. Und jedes Mal dachte ich: Vielleicht wird’s ja heute Nacht endlich was. Sie muss doch auch was merken. Oder wenigstens: Sie muss doch auch mal Lust haben, auch mal Triebe spüren.
Mit dieser Annahme lag ich letztlich richtig. Ausgerechnet ein Typ von einer Werbeagentur. Ich war entsetzt. Der neue Mann in ihrem Leben, von dem sie mir eines Abends, während wir uns am Ofen zusammengekuschelt hatten, freudig erzählte, traf mich wie ein Schlag in die Magengrube.
Sie rief noch hin und wieder an, im Wesentlichen aber, um sich zu entschuldigen, dass sie sich nicht mit mir treffen könne, weil sie mit ihrem neuen Freund an die Ostsee fahre. Oder in den Harz. Oder gottweißwohin. Bald darauf verließ sie die Stadt ganz, zusammen mit ihm.
Was mir aus dieser furchtbaren Zeit blieb: eine tiefe Kenntnis des Schaffens von Tom Waits; überraschenderweise tatsächlich trotzdem so etwas wie eine Freundschaft; und ein quälendes Gefühl des Unerreichbaren. Ich glaube, wenn wir wenigstens mal Sex gehabt hätten, und sei es ein einziges Mal, dann wäre es leichter gewesen, greifbarer, entmystifiziert. Ich trug lange daran.

Viele Jahre später besuchte ich sie in Wien. Spät am Abend fragte ich es dann doch. Ob sie damals eigentlich gewusst habe, dass ich in sie verliebt war? Geahnt habe sie es wohl, aber nicht wahrhaben wollen. Sie war halt nicht verliebt in mich, aber es wäre so schön mit mir gewesen, so vertraut, so freundschaftlich.
Das hatte ich mir schon gedacht. Doch das war nicht alles. Ich musste es jetzt wissen. Ob sie denn in all diesen Nächten, die wir gemeinsam verbracht hätten, nie Lust gehabt hätte, einfach so mal Sex zu haben? Doch, schon, sagte sie, sehr sogar, immer wieder. Aber ich hätte mir ja nie was anmerken lassen. Da habe sie sich einfach nicht getraut, sie hätte eben nichts ­kaputt machen wollen. Verdammt. Romantik – was für ein hirnloser Scheiß.
»Schlaf mit mir. Jetzt, sofort«, antwortete ich. Sie sah mich verblüfft an. »Keine Sorge«, beruhigte ich sie, »es ist schon lange vorbei. Ich will’s einfach nur wenigstens mal getan haben. Vielleicht … vielleicht verändert es irgendwas.«
Sie zögerte kurz, aber dann schliefen wir zusammen, diesmal mit Zusammenschlafen. Ich sag mal so: Es war ganz okay.
Aber nichts hat sich verändert. Wien sah am nächsten Morgen genauso aus wie zuvor, Berlin dann am Abend ebenfalls.
»Es ist selten zu früh und nie zu spät«, hat der große Philosoph Alf, dieses zottelige Wesen aus dem Weltraum, einst gesagt. Damit lag er aber mal wirklich sowas von daneben.

Gedanken in der Nacht vor der Geburt
Alles wie gehabt. Vor der Geburt unseres ersten Kindes war es dasselbe Spiel, da wurden uns dramatischste Änderungen unseres Lebens prophezeit. Ach was: Leben – das könne man dann im Prinzip gar nicht mehr so nennen. Zu unserer Erleichterung blieb dann unterm Strich alles aber doch ganz angenehm, wir fanden sogar richtig Spaß an der Sache, so dass wir uns bald zu Kind Nummer zwei entschlossen.
Und wieder klangen uns dunkelste Prophezeiungen entgegen: »Ein Kind ist noch Hobby, beim zweiten wird es Arbeit«, »Mit dem zweiten Kind verdoppelt sich die Arbeit nicht, sie steigt exponentiell an«, »Erst mit zwei Kindern weiß man überhaupt, was es heißt, Eltern zu sein« usw. Die Botschaft ist klar: Das Leben, so wie wir es bisher kennen, ist ab dann aber wirklich mal vorbei.
Das ist auf eine gewisse Art ganz beruhigend, nährt es doch unsere Hoffnung, dass es mit dem zweiten Kind genauso nett und entspannt werden könnte wie mit dem ersten. Beziehungsweise hoffentlich sogar noch entspannter. Nach den etwas dramatischen Geburtsumständen beim ersten Durchgang haben wir uns nun diesmal gleich zum Kaiserschnitt entschlossen. Meine Freundin argumentierte, dass sie keine Lust habe, wieder zwölf Stunden vor sich hin zu pressen, während irgendwelche Hebammen die ganze Zeit etwas von der Großartigkeit des Geburtserlebnisses faseln, und das Geburtserlebnis besteht dann doch letztlich im Absacken der Herztöne des Babys und einer Notoperation, da könne sie sich diesmal auch gleich aufschneiden lassen. Ich persönlich schätze es ja ­eigentlich nicht so sehr, wenn wildfremde Menschen meiner Freundin den Bauch aufschneiden und in ihrem Inneren herumwühlen, aber in diesem Fall will ich mal nicht so sein. Zumal, wie Freund und Arzt Jakob Hein mir versichert hat, ein geplanter Kaiserschnitt in einer spezia­lisierten Klinik im Grunde »reinstes Ballett« sei. Vermutlich deshalb dürfen wir auch unsere eigene Musik für die OP mitbringen. Die wird dann morgen gespielt, während sie unser Kind herausschnitzen. Ich kann dann mit dem Fuß dazu im Takt wippen. Meine Freundin leider nicht, wegen der Rückenmarksnarkose. Aber was wäre der passende Soundtrack? Zur Narkose: »You Take My Selfcontrol«? Danach dann: »Lady In Red«? »Life Is Life«? »Smells Like Teen Spirit«? »I Want To Break Free«? Und beim Zunähen dann: »Wrap Her Up«? Beziehungsweise: »Zieh den Kreis nicht zu klein«?
Ach, ich glaube, wir lassen das mit der Musik lieber. Sinnloses Hintergrundgedudel wird der Kleine in seinem Leben noch genug ertragen müssen, da muss man ja nicht gleich am ersten Tag mit anfangen.
Anschließend noch ein paar Tage Schonzeit, die die beiden im Krankenhaus verbringen, dann kommen Freundin und Kind nach Hause. Und dann geht alles wieder von vorne los: Das Schreien und Nuckeln und Windeln und Nachtsaufstehen und, und, und.
So ist es halt. Mir macht das nichts aus. Ein neues, junges Leben kommt zu uns ins Haus. Das ist schön.
Trotzdem bekümmert mich der Gedanke, dass damit das Leben, so wie wir es kennen, tatsächlich endgültig zu Ende sein wird. Denn der Einzug des zweiten Kindes, das ist definitiv der Moment, wo das eigene, langsame Sterben unwiderruflich beginnt. Viele ängstigen sich vor dem 30. und dann wieder vor dem 40. Geburtstag oder vor dem ersten grauen Haar oder davor, zum ersten Mal in der U-Bahn von den Türken-Kids gesiezt zu werden – alles Quatsch. Das ist immer nur zunehmende Reife.
An diesem Wochenende haben wir die ganzen alten Babysachen aus den Kisten geholt und wieder in den Schrank geräumt. Das war sehr rührend, ein Moment der Erinnerung und der Vorfreude zugleich.
Letztlich aber vor allem eine letzte Vitalisierungsspritze, ein letztes Aufbäumen vor dem eigenen endgültigen Verfall. Nicht, dass unser Leben sich mit einem zweiten Kind dramatisch ändern würde, wie die anderen Elternveteranen uns drohen, die doch nur eine Rechtfertigung dafür suchen, dass sie zu bequem geworden sind, noch irgendwas zu machen, nicht das also ist das Problem. Sondern dass unser Leben sich mit dem zweiten Kind final dem Ende zuneigt. Trotzig recken wir dem Tod noch einmal die niedlichen kleinen Strampelanzüge, die Handschühchen und Schlafsäckchen und Mützchen und Bommelchen und Bärchen und Häschen entgegen.
Aber wir wollen kein weiteres Kind mehr. Es soll das Letzte sein. Und das ist gleichbedeutend mit dem Anfang von unserem Ende.
Von jetzt an ist jede Kiste mit Kleidern, aus denen der Kleine herausgewachsen sein wird, unwiederbringlich nutzlos. Die muss nicht mehr in die Abstellkammer. Die muss weg. Kann zu anderen jungen Eltern, die alles noch vor sich haben. Mit jeder Kiste, die erst in den Keller und dann aus dem Haus gebracht wird, wird auch ein bisschen von uns abtransportiert. Wir werden sie nicht mehr brauchen. Nie wieder.
Bis hierher konnte immer noch etwas wirklich wesentlich Neues im Leben beginnen. Auszug, Studium, Wahl von Berufen und Frauen, schließlich: Kinder. Was aber soll danach noch sub­stantiell Neues geschehen? Wir könnten umziehen? Na toll, die Kisten vom letzten Mal sind noch nicht mal alle ausgepackt, das wäre ja mal was völlig anderes. Nach fünf Büchern jetzt das sechste schreiben? Huch, wie aufregend. »Liebling, um die Ecke hat ein neuer Italiener aufgemacht« – geh weg.
Ab jetzt wird nur noch abgewickelt. Es nimmt seinen vorgezeichneten Gang: Die Kinder werden größer und hässlicher und unfreundlicher und dann gehen sie aus dem Haus, und dann reicht uns auch eine kleinere Wohnung und schließlich eine kleinere Konfektionsgröße und eine kleinere Portion beim Essen und eine kleinere Menge zum Betrinken, und dann ist es aus. Von jetzt an geht es nur noch in eine Richtung – in Richtung Grab. Man muss den Tatsachen ins Gesicht sehen.
Aber vorher gehen wir jetzt erst mal noch mal gebären. Morgen früh nämlich. Vielleicht sollten wir doch Musik mitnehmen. »Requiem«, das wäre vielleicht passend.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Heiko Werning: Schlimme Nächte. Von Abstürzen und bösen Überraschungen. Edition Tiamat, Berlin 2012, 192 Seiten, 14 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.