Die Situation der Kopten in Ägypten

Choräle gegen Kamele

Nach dem Tod des Papstes Shenouda III. diskutieren die ägyptischen Kopten über ihre Rolle in Staat und Gesellschaft. Die Revolution schien Verbesserungen zu bringen, doch vor allem von den Salafisten wird die christliche Minderheit bedrängt.

»Wir sind acht Millionen, haben aber nichts zu sagen in diesem Land«, sagt Amira. Die junge Frau führt stolz über das Kirchengelände, wie es ihr der Priester Assanasius aufgetragen hat. Auf dem Areal der koptischen Kirche der Heiligen Damiana und der 40 Jungfrauen befindet sich ein kleines Dorf hinter hohen Mauern, abgeschottet von den belebten Gassen des Kairoer Innenstadtviertels Bulaq. Zwei Kirchen, eine Kapelle, eine Kantine, ein Bolz- und ein Spielplatz und viel Platz fur Versammlungen unter Bäumen bietet die Kirche ihren Gläubigen. Es ist ein Hort der Ruhe im Großstadtchaos und zugleich bescheidener Luxus: Öffentliche Bolz- und Spielplätze gibt es in Kairo sonst kaum.
An der wuchtigen Kirche im Zentrum des Ensembles hängt ein Transparent mit dem Bild des im März verstorbenen Papstes Shenouda III. Seit 1971 war der als Nazir Gayed Geborene der Papst der Kopten. Viele kannten nie einen anderen. Die koptischen Christen machen rund zehn Prozent der 83 Millionen Ägypter aus. Die Gründung ihrer Kirche führen sie auf den Evangelisten Markus zurück, sie sehen sich als Ureinwohner Ägyptens – das Wort Kopten leitet sich von Ägypten ab.
Nach dem Tod ihres Papstes fürchten nun viele Führungslosigkeit in diesen turbulenten Zeiten. »Erst war die Revolution gut, aber dann wurden die Salafisten und Muslimbrüder gewählt«, sagt Amira. »Wir haben Angst, unsere Meinung zu sagen.« Amira wird nicht zur Demonstration am Freitag gehen, obwohl sie weiß, dass es dort auch um die Rechte der Christen geht. Der Protest richtet sich gegen die Zusammensetzung der verfassungsgebenden Versammlung. Die Muslimbrüder, die mit ihrer »Partei für Freiheit und Gerechtigkeit« die stärkste Fraktion im Parlament bilden, haben die verfassungsgebende Versammlung entsprechend den Stimmverhältnissen im Parlament zusammengesetzt. Fast die Hälfte der 100 Mitglieder sind Muslimbrüder, weitere 20 Prozent Salafisten. Nur sechs Frauen und sechs Christen sollten daran teilnehmen.

Säkulare, Christen und Frauen protestieren dagegen. Ihr Argument: Eine Verfassung müsse von der gesamten Gesellschaft getragen werden und dürfe nicht allein die Ansichten der derzeitigen Mehrheit im Parlament wiedergeben. Bis Ende März verließen 24 Anhänger säkularer Parteien und Unabhängige die Versammlung. Am 1. April verkündete auch die koptische Kirche, es sei sinnlos, sich zu beteiligen. Die verbliebenen Kopten, die nicht schon als Säkulare zurückgetreten waren, verließen die Versammlung. Damit sind dort praktisch nur noch Islamisten vertreten. Ägypten hat eine Verfassungskrise, bevor die Arbeit an der Verfassung begonnen hat.
Dass der 20köpfige Kirchenrat solch drastische Worte für die neuen Mehrheitsführer fand, kann als Wandel gegenüber der Politik Shenoudas gedeutet werden. Shenouda unterstützte bis zum Schluss das Regime Hosni Mubaraks, das danach herrschende Militär kritisierte er nur milde. Immer wieder ermahnte er seine Schäfchen, sich nicht an Demonstrationen zu beteiligen. Viele Christen hoffen nun darauf, dass ein neuer Papst die Kirche stärker der Gesellschaft öffnen werde. Abgeschottet habe Shenouda die Gemeinde – wie die hohen Mauern der St. Damiana.
In der christlichen Gemeinde selbst hat der Wandel längst stattgefunden. An das Demonstrationsverbot hielten sich viele nicht. Mariam Ki­rollos berichtet sogar von offener Rebellion: »Während der Papst am 10. Oktober seine Predigt in der Kathedrale von Abbassia hielt, standen die Leute auf und riefen: Nieder mit dem Militärregime.« Die 22jährige Studentin der Amerikanischen Universität in Kairo glaubt, das die Christen sich seit der Revolution weniger als Minderheit fühlen. »Ich entscheide, ob ich Minderheit bin«, sagt sie. Sie selbst hat an allen wichtigen Demonstrationen teilgenommen – nicht als Mitglied der koptischen Gemeinde, sondern mit ihren zumeist muslimischen Freunden.
Nun steht sie am südlichen Ende des Tahrir-Platzes und fotografiert mit ihrem Handy, wie junge Aktivisten die Blöcke einer Mauer auf die Straße stoßen. Das Militär hat diese Mauern an Zugangswegen zum zentralen Platz Kairos errichtet, um große Demonstrationen besser unter Kontrolle zu halten. Grüne Laser-Pointer tanzen auf den Oberkörpern der Demonstranten, die auf der Mauer stehen. Besorgt beobachtet Kirollos die Szene: »Wir hatten diesen Monat noch keine Märtyrer. Ich habe Angst, dass sie heute wieder schießen.« Sie glaubt, es sei Zeit zu gehen: »Wir haben verabredet, dass wir diesmal abhauen, bevor sie uns umbringen. Wir brauchen nicht noch mehr Tote.«

In der Kneipe al-Hurriya (Freiheit), keine fünf Minuten vom Midan al-Tahrir (Platz der Befreiung) entfernt, erzählt sie mehr über die koptische Gemeinde. Furchtbar konservativ seien die Christen, aber das sei einfach ägyptisch. Doch den Wandel ihrer Glaubensgenossen nimmt sie freudig zur Kenntnis. »Am Sonntag nach der Kamelschlacht kam ein christlicher Chor zum Tahrir-Platz. Sie haben Choräle gesungen«, erzählt sie strahlend, aber schüttelt auch den Kopf angesichts dieses Bildes. Als Kamelschlacht bezeichnen die Ägypter den 2. Februar 2011, als Mubarak Schlägertrupps auf Kamelen auf die Demonstranten losließ. Doch bezeichnet Kamelschlacht ursprünglich die Entscheidungsschlacht vor 1 356 Jahren zwischen den Fraktionen, die später Sunniten und Schiiten werden sollten.
Shenouda III. galt trotz seiner Zurückhaltung bei der Revolution gegen das Mubarak-Regime als politischer Papst. Er kritisierte Mubaraks Vorgänger Präsident Anwar al-Sadat für dessen nachgiebigen Kurs gegenüber den Islamisten. Auch der Friedensvertrag mit Israel war seiner Meinung nach ein Fehler. Seinen Gläubigen verbot er selbst nach der Unterzeichnung die Pilgerfahrt nach Jerusalem. Sadat verbannte den aufmüpfigen Koptenpapst in ein Wüstenkloster. Erst 1985 kam er unter Präsident Hosni Mubarak wieder frei.
Danach setzte Shenouda vor allem auf den Ausbau der Institutionen. Viele Klöster entstanden in seiner Amtszeit. Die Kirche baute er als gesellschaftlichen Raum aus und schuf damit eine Parallelgesellschaft: vom Kindergarten über Jugendgruppen bis zu Feriengestaltung für Familien. Sie wurde zum Rückzugsort in einer immer feindlicheren Umgebung. Seit den achtziger Jahren gewann der Islamismus in Ägypten an Einfluss. Militante Islamisten verübten nicht nur Anschläge auf Touristen, sondern immer häufiger auch auf Kirchen und Christen. In der Hochphase des militanten Islamismus zwischen 1992 und 1998 wurden 127 Kopten ermordet. Die dafür verantwortlichen Jama’at al-Islamiya haben der Gewalt abgeschworen und sind nun eine politische Partei. Doch immer noch gibt es Anschläge auf Kirchen.
Im vergangenen Jahr starben bei einem Bombenanschlag in Alexandria 21 Menschen während der Neujahrsmesse. Es war nicht der erste Angriff während eines großen Gottesdienstes. »Jedes Weihnachten, jede Neujahrsmesse sitzen wir in der Kirche und haben Angst, dass eine Bombe hochgeht«, erzählt Mariam Kirollos. »Solange ich denken kann.«
Aber auch der Staat diskriminierte die Kopten. Kirchen durften sie nur mit Erlaubnis des Präsidenten bauen, sogar für Anbauten musste Mubarak konsultiert werden. Als Gegenleistung für Shenoudas treue Unterstützung machte Mubarak Weihnachten zum nationalen Feiertag.
Bei der Wahl des neuen Papstes vertrauen die Kopten auf Gott. Eine 1 500köpfige Vollversammlung aus Bischöfen, Mönchen und prominenten Laien wählt drei Kandidaten aus. Ein vier- bis fünfjähriger Junge zieht dann mit verbundenen Augen einen der drei Namenszettel. »Wer immer der nächste Papst wird, es wird nicht so sein wie vorher«, glaubt Mariam Kirollos. Die Revolution habe das gesamte Land verändert, auch die Christen. Die ersten Wochen auf dem Tahrir-Platz nennt sie »eine Utopie«. Völlig egal sei es gewesen, ob man Mann oder Frau, Muslim oder Christ gewesen sei.
Doch dann begannen die Angriffe auf die Kopten. Im Mai setzten Salafisten im Stadtteil Imbaba mehrere Kirchen in Brand. Die Soldaten schauten zu, es heißt sogar, sie hätten die Angreifer ermutigt. Es wurde behauptet, Kopten hätten eine Muslimin entführt. Vermeintliche oder tatsächliche Entführungen von Musliminnen sind seit Jahren ein Vorwand für Angriffe auf Christen. Häufig mag es sich dabei schlicht um ein Mädchen handeln, das sich in einen Kopten verliebt hat. Der Islam verbietet Frauen die Heirat mit einem Christen, die Konversion zum Christentum ist in Ägypten verboten. Umgekehrt dürfen muslimische Männer aber Christinnen heiraten. Kein Gesetz verbietet es, Muslim zu werden.
Mariam Kirollos glaubt, dass die Kopten im Oktober ihr Selbstbewusstsein gefunden hätten. Die Ereignisse in Maspero hätten »das Fass zum Überlaufen gebracht«. Am 9. Oktober demons­trierten Zehntausende vor dem staatlichen Fernsehgebäude für Gerechtigkeit. »Muslime und Christen sind eins«, riefen die mehrheitlich christlichen Demonstranten und forderten den Rücktritt von Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, dem Vorsitzenden des herrschenden Militärrats. Die Armee schoss in die Menge, 27 Menschen starben. Bis in die Nacht hinein jagten Schlägertrupps die zumeist friedlichen Christen.

»Die Kopten haben drei Tage gefastet und zugleich weiter demonstriert«, erzählt Kirollos. »Wir haben keine Angst mehr zu sagen: Das ist auch unser Land. Wir verlangen, am politischen und kulturellen Leben als Gleiche teilzunehmen.« Dazu gehört für sie auch, dass Kopten Präsident werden dürfen. »Immer stellen wir nur den Umweltminister.«
Zum Platz vor dem staatlichen Fernsehgebäude kommt man nun nur noch durch einen schma­len Durchgang in einer Stacheldrahtabsperrung. »Keine Fotos«, rufen Passanten. »Das Militär erlaubt es nicht.« Neben einem Panzer vor dem Gebäude beißt ein Soldat in ein Sandwich, sonst ist weit und breit kein Militär zu sehen. Nach einiger Diskussion mischt sich ein Teeverkäufer ein. »Fotos, kein Problem«, sagt er und posiert vor dem Stacheldraht. Er stellt sich als Abu Iman vor und zeigt stolz sein Handy. Darauf ist er mit Gasmaske zu sehen – gegen das Tränengas. »Wir haben hier gemeinsam mit den Christen demons­triert«, erzählt er. »Ich gehe zu jeder Demonstration. Die Inflation frisst unsere Löhne und die da oben schaffen ihr Geld in die Schweiz.« Mit den Christen in diesem Viertel lebten sie seit Jahrhunderten friedlich zusammen. Auf die Salafisten angesprochen, reagieren er und seine Kumpel empört: »Wir sind Muslimbrüder. Mit den Salafisten haben wir nichts zu tun.«