Über das Inzestverbot

Das tut man eben nicht

Für das Inzestverbot gibt es nur einen Grund: Erbkrankheiten zu verhindern. Und das darf kein Grund sein.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat das Inzestverbot bestätigt. Und damit, bis auf die Bild-Zeitung, fast alle Kommentatoren enttäuscht. Man hatte schon gehofft, dass das Strasbourger Gericht endlich das letzte große Tabu beseitigen würde. Aber einvernehmlicher Geschlechtsverkehr zwischen erwachsenen Verwandten ist und bleibt in Deutschland verboten. Im Strafgesetzbuch heißt das »Beischlaf zwischen Verwandten«, es drohen dafür bis zu zwei Jahre Haft. Das klingt doch ziemlich nach einer Zeit, in der Homosexualität, Ehebruch und Kuppelei strafbar waren. Darf sich der Staat in das Sexualleben von mündigen Erwachsenen einmischen? Er darf, wenn es dafür gute Gründe gibt, sagt der EGMR. Und die habe das Bundesverfassungsgericht, das sich bereits 2008 mit dem Verbot beschäftigte, »sorgfältig abgewogen«.
In dem Fall ging es um den heute 36jährigen Patrick S., der vor zwölf Jahren eine Beziehung mit seiner damals 16jährigen Schwester begann, die er kurz zuvor kennengelernt hatte. In den folgenden Jahren wurden vier Kinder geboren und Patrick S. mehrfach verurteilt. Nicht nur wegen des Beischlafs zwischen Verwandten, sondern auch wegen Körperverletzung, nachdem er seine Schwester ins Gesicht geschlagen hatte. Insgesamt saß er mehr als drei Jahre im Gefängnis. Die Frau wurde nicht belangt. Sie galt als nicht schuldfähig, weil sie an einer schweren Persönlichkeitsstörung litt und in hohem Maße von Patrick S. abhängig war. Wenn der nun in den Medien dargestellt wird als einer, dessen »intakte Familie« durch die harten Haftstrafen »zerbrochen« ist, widerspricht das den Tatsachen.
Trotzdem iat das Argument, das Inzestverbot schütze vor Missbrauch, nicht triftig. Zwar sind inzestuöse Beziehungen fast immer missbräuchlich, aber sie müssen es nicht zwangsläufig sein. Hier zeigt sich nur, wie widersprüchlich die Vorschrift ist. Denn verboten wird nur der Beischlaf – andere sexuelle Handlungen sind erlaubt. Und das Verbot gilt nur für leibliche Verwandte – nicht für Stiefgeschwister oder Adoptivkinder. Sexuellen Missbrauch zu sanktionieren, ist die Aufgabe des Sexualstrafrechts, egal ob an der Schwester, dem Sohn oder der Freundin. Dass Inzest unabhängig davon bestraft wird, hat vor allem einen Grund: Das Risiko von Erbkrankheiten wird möglicherweise erhöht.
Hinter dem Inzestverbot steht damit die staatliche Steuerung der Volksgesundheit. So argumentierte auch der deutsche Gesetzgeber und das wurde von den Verfassungsrichtern tatsächlich nicht beanstandet – mit einer Ausnahme. Der damalige Senatsvorsitzende und stellvertretende Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, hatte die Entscheidung seiner Kollegen in einem Sondervotum scharf kritisiert, Eugenik könne keine verfassungsrechtlich tragfähige Erwägung für eine Strafnorm sein. Dass der EGMR das Verbot jetzt bestätigt hat, war allerdings eher eine Formalie. Der Gerichtshof hat sich einfach ein bißchen zurückgehalten und erklärt, man habe schließlich die Rechtsauffassung in den europäischen Staaten zu beachten und in den meisten sei Beischlaf zwischen Verwandten eben verboten. Der Bundesrepublik bleibe da ein weiter Einschätzungsspielraum. Mit anderen Worten: Man kann das Gesetz auch abschaffen.