Die Situation vor den Wahlen und die Verzweiflung der Griechen

Die große Depression

In wenigen Wochen wird in Griechenland ein neues Parlament gewählt, die Wählerschaft ist sehr gespalten, aber kaum jemand erwartet eine Veränderung der wirtschaftlichen Lage. Große Teile der Bevölkerung kämpfen gegen die Armut und die Verzweiflung. Immer mehr Menschen ­geben jede Hoffnung auf.

»Wir haben Euch verehrt, wir haben Euch gewählt, Ihr habt uns vernichtet«, steht auf einem großen weißen Banner, das an einer Mauer in einem Vorort der Stadt Chania, im westlichen Teil der Insel Kreta, hängt. Darauf abgebildet sind Abgeordnete der beiden großen griechischen Parteien, der konservativen Nea Demokratia und der sozialistischen Pasok. Kreta gilt als Hochburg der Sozialisten, die seit November 2011 die Übergangsregierung des ehemaligen Bankiers Loukas Papadimos zusammen mit den Konservativen unterstützen.
Die Stimmen der Wählerinnen und Wähler aus Kreta waren in der Vergangenheit oft entscheidend für die nationalen Wahlergebnisse, weshalb Kreta zwischen Sozialisten und Konservativen hart umkämpft ist. Bei den kommenden Parlamentswahlen am 6. Mai rechnen beide Parteien mit drastischen Verlusten, und das nicht nur auf Kreta, sondern landesweit.

Der Unmut bei den griechischen Bürgerinnen und Bürgern ist groß, denn die Lebensqualität hat sich seit Beginn der Schuldenkrise erheblich verschlechtert. Dem »Eurobarometer« zufolge gaben 45 Prozent der Griechen an, nicht mehr ausreichend Lebensmittel einkaufen oder Rechnungen bezahlen zu können. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung befürchtet, demnächst den Job zu verlieren. Löhne und Renten sind stark gekürzt worden, die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei über 21 Prozent. In den vergangenen Monaten hat sich die Angst verbreitet, der Abbau des Sozialstaats könne Griechenland in einen Dritte-Welt-Staat verwandeln.
»Das ist die Wahrheit«, kommentiert eine Rentnerin, die an dem Banner vorbeiläuft, und nickt zustimmend. »Einfach gesagt und ohne Schimpfwörter. Diese Politiker haben uns vernichtet«, sagt die schmächtige Frau. In der Vergangenheit habe sie oft für die Pasok gestimmt, erzählt sie, »diesmal aber nicht mehr«, sagt sie entschlossen und bringt damit die Stimmung unter großen Teilen der Bevölkerung zum Ausdruck. Aktuellen Umfragen zufolge weiß ein Viertel der Griechen derzeit noch nicht, für wen sie stimmen sollen. Die meisten möchten kurz vor der Wahl ihre Entscheidung treffen. Die Unentschlossenen sind vor allem ehemalige Anhängerinnen und Anhänger der großen Parteien. Aus den bisher veröffentlichten Umfragen geht hervor, dass nach den Wahlen bis zu zehn Parteien im Parlament vertreten sein könnten und es vermutlich zu keiner regierungsfähigen Mehrheit kommt. Befürchtungen, dass die Parlamentswahlen die politische Lage noch unberechenbarer machen, sind daher durchaus begründet.

Während die politische Zukunft Griechenlands vermutlich auch nach den Wahlen unsicher bleiben wird, sind die Folgen der harten Sparpolitik für das alltägliche Leben vieler Bürgerinnen und Bürger offensichtlich.
Die internationale Nichtregierungsorganisation Ärzte der Welt, die in Griechenland humanitäre Hilfe leistet, hat in den vergangenen Wochen auf die dramatischen Folgen der griechischen Sparmaßnahmen für den Gesundheitszustand der Bevölkerung hingewiesen. Die NGO hat alarmierende Zahlen veröffentlicht, die zeigen, dass immer mehr griechische Bürgerinnen und Bürger im vergangenen Jahr die Arztpraxen der Organisation besucht haben, die eigentlich Flüchtlingen und Migranten kostenlose medizinische Versorgung anbietet. Die Anzahl griechischer Patienten, die es sich nicht mehr leisten können, eine Privatpraxis zu besuchen, und daher die kostenlosen medizinischen und psychosozialen Hilfsangebote in Anspruch nehmen, sei um 30 Prozent gestiegen, meldete die NGO.
Auch in den staatlichen Krankenhäusern wird die Lage von Tag zu Tag schlimmer. Der Etat wurde gekürzt, was massenweise Entlassungen von medizinischem Personal zur Folge hatte. Langsam wird auch medizinisches Material knapp, wie Nathalie Simonnot von Ärzte der Welt schildert: »Die Ärzte erwarten, dass die Patienten selbst Verbände, Spritzen und Verbandsmull kaufen. In vielen Krankenhäusern gibt es keine Vorräte mehr.«
Hinzu kommt, dass sich sich die Anzahl der Drogenabhängigen seit Beginn der Krise erhöht hat. Die Anzahl der HIV-Neuinfektionen ist 2011 um 53 Prozent im Vergleich zu 2010 angestiegen. Dass sich vor allem Drogensüchtige gegenseitig anstecken, hängt mit der Einstellung der Programme im Bereich der Drogenhilfe zusammen. Schockierend waren in den vergangenen Monaten sensationsheischende Medienberichte darüber, dass sich Drogenabhängige angeblich absichtlich mit HIV infizieren um Sozialhilfe zu bekommen. Diese Berichte wurden bisher nicht mit offiziellen Daten bestätigt.
Besonders schlimm ist die Lebenssituation von Migranten und Flüchtlingen aus Asien und Afrika, die in Griechenland leben, in der Hoffnung, in ein anderes EU-Land zu kommen. Neben der Armut und Obdachlosigkeit werden sie immer häufiger auch in der Politik und der Öffentlichkeit zu Sündenböcken gemacht. Gesundheitsminister Andreas Loverdos etwa bezeichnete vor kurzem Einwanderer als eine »gesundheitliche Zeitbombe«, die für die Ausbreitung längst vergessener Krankheiten verantwortlich seien. »Wenn etwa jemand, der an Tuberkulose leidet, in einen Bus steigt, dann werden alle Mitfahrenden angesteckt«, behauptete Loverdos. Denn in Athen haben bereits sogar Pogrome gegen Einwanderer stattgefunden. Die Polizei führt fast täglich sogenannte »Besenoperationen« im Zentrum der Stadt durch, bei denen Hunderte Papierlose festgenommen werden.
Der Präsident der griechischen Abteilung von Ärzten der Welt, Nikitas Kanakis, wendet sich gegen einen solchen Versuch, die Migranten zu Sündenböcken zu erklären. Er, der auch in Kriegszonen gearbeitet hat, vergleicht die Situation in Griechenland, vor allem in Athen, mit diesen Ländern: »Wir haben dort alle Zeichen einer humanitären Krise: Menschen, die hungern, Obdachlose, Kranke, die sich keine Behandlung leisten können, und Menschen, die einfach herumirren. Das kann man in Städten der Dritten Welt sehen«, sagte Kanakis, »in den Ländern, in denen der Internationale Währungsfonds intervenierte, stieg die Anzahl der Fälle von Tuberkulose an. Das ist kein Zufall, weil Tuberkulose die Krankheit der Armen ist. Ich glaube, dass in einigen Jahren auch hier die Lebenserwartung sinken wird.«
»Ich möchte leben!« steht in verwischter schwarze Schrift auf dem Bürgersteig im Stadtzentrum von Chania. Nur wer seinen Kopf nach unten beugt, kann diese verzweifelte Botschaft, deren Herkunft unklar ist, lesen. Die meisten Leute gehen verschlossen an diesem sonnigen Frühlingstag durch die Straßen. In der Stadt sieht man geschlossene Läden und antikapitalistische Parolen an den Wänden. Polizeieinheiten schlendern herum. Es fällt auf, dass sehr wenige Autos auf den Straßen sind, was kaum verwundert angesichts der Tatsache, dass der Benzinpreis die Marke von zwei Euro pro Liter überschritten hat.
Die Kleinanzeigen in den lokalen Zeitungen verraten, dass die einzigen offenen Stellen auf der Insel im Bereich der Altenpflege zu finden sind. Viele junge Leute haben Kreta längst verlassen und suchen entweder in Athen oder gleich im Ausland nach Möglichkeiten, über die Runden zu kommen.

Auch Katia hat darüber nachgedacht. Sie hat gerade ihren 40. Geburtstag gefeiert und ist seit mehr als zwei Jahren arbeitslos. Sie lebt wieder bei ihren Eltern, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten kann. Verzweifelt sucht sie nach einem Job: »Egal was«, sagt sie resigniert. Derzeit besucht sie einen vom Staat finanzierten Computerkurs für Arbeitslose. »Es wird auch nicht viel bringen«, meint sie, »ich mache das nur, um von zu Hause wegzukommen. Damit ich das Gefühl habe, ich tue etwas.« Die Hoffnung, dass sich nach den Wahlen etwas ändern wird, hat sie schon längst aufgegeben. »Es ist so, als ob wir in einem Tunnel sind, an dessen Ende kein Licht ist, sondern ein Eilzug, der auf uns zukommt«, beschreibt sie ihre Gefühle mit einen bitteren Lächeln.
Wie im Rest des Landes steigt auch auf Kreta die Selbstmordrate seit Beginn der Krise kontinuierlich an. Es sind meistens Männer, etwa ehemalige Geschäftsleute, die sich das Leben nehmen. Scham wegen Verschuldung und die Erkenntnis, die Rolle des Familienernährers nicht mehr erfüllen zu können, sind Psychologen zufolge die häufigsten Auslöser.
Nach Angaben des Griechischen Psychiatrischen Verbandes haben sich zwischen 2009 und 2011 bereits 130 Menschen auf Kreta das Leben genommen. In Nordgriechenland, wo die Arbeitslosenquote sehr hoch ist, bringen sich die meisten Menschen um. In den ersten sechs Monaten von 2011 stieg die Selbstmorde in Griechenland im Vergleich zur ersten Jahreshälfte 2010 um 45 Prozent. Es gebe jedoch ein hohe Dunkelziffer, glauben Experten. Viele Familien bemühen sich aus Furcht vor Stigmatisierung, den Selbstmord eines Angehörigen als Unfall darzustellen.
In den vergangenen Wochen gab es auch Fälle von politisch motivierten Selbstmorden. Am 4. April nahm sich Dimitris Christoulas auf dem Syntagma-Platz vor dem Parlament in Athen das Leben und wurde für viele zu einem tragischen Helden. Der 77jährige Rentner hinterließ einen Abschiedsbrief, in dem er der »Besatzungsregierung« Griechenlands vorwirft, sie habe ihm jegliche Überlebenschance genommen. Einige Tage später, am 21. April, gab es erneut einen politischen Selbstmord. Savvas Metoikidis, ein 45jähriger Lehrer und Gewerkschaftler aus Xanthi im nordgriechischen Thrakien, erhängte sich und hinterließ einen mehrseitigen Abschiedsbrief, in dem er erklärte, mit seinem Tod wolle er gegen die Sparpolitik und ihre Folgen auf die Wirtschaft seines Landes protestieren.