Ist begeistert von Ian Andersons Rockgedicht

Verlaufen in der Gegenwart

40 Jahre nachdem Jethro Tulls legendäres Konzeptalbum »Thick as a Brick« erschienen ist, legt Ian Anderson die großartige Fortsetzung des Rockgedichts vor.
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Really don’t mind if you sit this one out«. Mit dieser Auftaktzeile begann vor ziemlich genau 40 Jahren »Thick as a Brick«, das mit 43 Minuten und 42 Sekunden längste Stück der Rockgeschichte, das es je an die Spitze der Verkaufscharts schaffen sollte. Ian Anderson, Mastermind von Jethro Tull, und seine Mitstreiter hatten damit ein eigenartiges, beide LP-Seiten einnehmendes Monstrum geschaffen: »Thick as a Brick« – zu Deutsch etwa: »dumm wie Bohnenstroh« – war zuallererst einmal eine Parodie auf den damaligen Boom prätentiöser Konzeptalben; eine Parodie aber, die die Objekte ihres Spotts übertrumpfte und überlebt hat.
Das hat zwei Gründe: Zum einen überzeugt die Idee des Albums nach wie vor, zum anderen bietet die Musik nicht den damals üblichen elektrisch instrumentierten Abklatsch gängiger Unterhaltungsklassik, sondern ist eine abenteuerliche Mischung aus Versatzstücken von Folk, englischer Renaissancemusik, Bebop-Themen und Hard Rock, mit Anklängen an Edgar Varèse und die komödiantische Tradition der britischen Music Hall.
Die LP steckte in einer Hülle, deren Layout einer typisch britischen Kleinstadtzeitung nachempfunden wurde. Der fiktive St. Cleve Chronicle enthält alles, was zu einem solchen Blatt gehört, von den Kirchennachrichten bis zum Kinderrätsel, mit doppelbödigem Humor und seltsamen Gags im Stil von Monty Python gespickt. Nur ein kurzer Anzeigentext, der die PR-Waschzettel der Musikindustrie parodiert, weist auf die beiliegende Platte hin. Die Aufmachergeschichte hingegen widmet sich einem indigniert dreinschauenden, hamsterbäckigen und bebrillten Achtjährigen namens Gerald Bostock, der in Anspielung auf den berühmten Poeten der Aufklärung den Spitznamen »Little Milton« trägt und im Mittelpunkt eines kleinstädtischen Kulturskandals steht. Sein Epos mit dem Titel »Thick as a Brick« soll eigentlich einen Nachwuchsliteraturpreis erhalten, wird dann aber wegen seines anstößigen und destruktiven Inhalts disqualifiziert. Als der Jungautor schließlich sein Werk der Rockband Jethro Tull mit der Bitte um Vertonung zusendet, muss er sogar eine psychiatrische Begutachtung über sich ergehen lassen. Der St. Cleve Chronicle entschließt sich daraufhin, sein Gedicht ungekürzt abzudrucken.
Anderson taucht mit diesem Text tief in die Welt seines kindlichen Alter Ego Gerald Bostock ein. Vorpubertäre Träume und kindliche Ängste stehen neben blitzartigen Einsichten und lakonischen Geschmacklosigkeiten, Traum- und Er­innerungsfetzen an elterliche Schelte mischen sich mit Ermahnungen aus Schule und Kirche und der Gegenwelt des Comic. Anderson verkündet keine esoterischen Weisheiten, wie es in der frühalternativen Subkultur jener Jahre üblich war, sondern erweist sich als spottlustiger Nörgler, der sowohl gegen Autoritäten wie auch gegen wohlfeile Heilsversprechen aufbegehrt.
Kauzig, distanziert und offensiv unzeitgemäß waren Jethro Tull von Beginn an. Der Bandname geht auf einen obskuren Agronomen des 17. Jahrhunderts zurück. Konsequent inszenierten sich Anderson und die anderen Bandmitglieder in den Hochzeiten des Sex- und Jugendkults der späten Sechziger als Greise, als Clochards, die den Anschluss verpasst haben und aus der Zeit gefallen sind. Schäbige Klamotten, unansehnliche Hunde und eine künstlich ergraute Zottelmähne wurden früh zum Markenzeichen des exzentrischen Musikers, der sich schon immer in die falsche Epoche, also die Gegenwart, nur verlaufen zu haben schien und nun die offensichtliche Unentrinnbarkeit dieses Irrtums mit britischem Gleichmut ertrug.
Und genau diese tiefe Fremdheit gegenüber der eigenen Präsenz im Präsens ist es, die das Unerwartete, ja Unmögliche glücken lässt: dass nämlich ein Musiker nach 40 Jahren an seinen größten Erfolg anknüpft und ein adäquates Nachfolge- und Anschlussalbum veröffentlicht, wie es Ian Anderson mit »Thick as a Brick 2. What­ever Happened to Gerald Bostock?« gelungen ist. Das neue Album kommt ohne einen Funken sentimentaler Retro-Nostalgie aus, auch sind die dramaturgisch notwendigen Reprisen musikalischer Themen aus dem Original rar und überaus dezent gehalten. »Thick as a Brick 2« kann und will nicht sagen, dass früher alles besser gewesen wäre, denn erstens erging es Gerald Bostock bereits vor 40 Jahren nicht allzu gut und zweitens liegt das »Früher« des Ian Anderson ohnehin so weit außerhalb der popmusikalischen Zeitrechnung, dass es als Referenzpunkt für das Selbstmitleid gealterter Berufsjugendlicher einfach nicht taugt.
Angesichts dieser Dimensionen sind auch die 40 Jahre, die zwischen Original und Sequel-Album liegen, musikgeschichtlich irrelevant. Zwar ist die CD in ein zeitgemäßes Cover verpackt, aus der fiktiven Kleinstadtpostille aber ist jetzt das Online-Magazin www.st.cleve.com geworden. Ansonsten ignorieren die 13 Songs – abgesehen von der hervorragenden Klangqualität – die elektronische Revolution und überhaupt die Jahre, die seit 1972 vergangen sind. Gerade der unbeeindruckte und unaufgeregte, ja geradezu stoische Charakter der Musik, die klingt, wie Anderson und Jethro Tull immer schon geklungen haben, hält die Aufmerksamkeit des Hörers bei den eigentlich unspektakulären und in gefasster, aber gedämpfter Stimmung gehaltenen Szenarien.
Das Album entwirft fünf mögliche Lebenswege von Gerald Bostock, die der jetzt 50jährige genommen haben könnte. Allen fünf Biographien gemeinsam bleibt, dass das Wichtigste im Leben des erwachsen gewordenen Gerald Bostock, der mal als fahriger Investment-Banker, mal als frömmelnder Pastor, mal als gebrochener Berufssoldat, mal als resignierter Ladenbesitzer und schließlich als schwuler Obdachloser vorgestellt wird, die Erinnerungen an die Träume und Ängste sind, die ihn einst das Gedicht »Thick as a Brick« schreiben ließen. Dass ausgerechnet der Vagabund, der von den fünf Gerald Bostocks objektiv sicher die größten Probleme hat, diese subjektiv aber am leichtesten nimmt, überrascht dabei gar nicht so sehr. Ist es doch der Streuner, der nichts geworden ist, der nicht ins normale Leben gefunden hat, der genau deswegen dem Gerald Bostock des Jahres 1972 am nächsten und am treuesten geblieben ist. Wenn der letzte Song des Albums mit dem programmatischen Titel »Kismet in Suburbia« überhaupt eine Botschaft hat, dann diese. Ansonsten rekapituliert er gänzlich unlarmoyant und staubtrocken die fünffache Unmöglichkeit eines gelungenen Lebens.

Ian Anderson: Thick as a Brick 2. EMI