Christine Resch kritisiert Pierre Bourdieu

Wer wie wohnt

Christine Resch hält Pierre Bourdieus Thesen über die »feinen Unterschiede« für überholt.

Es lässt sich doch über Geschmack streiten. Und zwar deshalb, weil er nichts Intimes und Persönliches, sondern Ausdruck und Garant vonMilieu- und Klassenzugehörigkeit ist. Das zumindest war eine der wichtigsten Thesen des französischen Soziologen Pierre Bourdieus. Er hat sie vor allem in seinem Buch »Die feinen Unterschiede« ausgeführt. Das Hauptwerk des Soziologen erschien zuerst 1979, die empirischen Studien, auf denen es basiert, stammen zum Teil bereits aus den frühen, andere aus den späten sechziger Jahren.
»Historisch« seien die Ergebnisse deshalb, erklärt jetzt die Frankfurter Soziologin Christine Resch in ihrem neuen Buch »Schöner Wohnen: Zur Kritik von Bourdieus ›feinen Unterschieden‹«. Resch ist nicht die erste, die Bourdieus Befunden ihre Aktualität abspricht. Schon häufiger ist in jüngerer Zeit die Frage gestellt worden, ob ein bürgerlicher Geschmack, wie ihn Bourdieu beschrieben hat, heute noch einheitlich und vor allem Beispiel gebend existiert: als »legitimer Geschmack«, an dem sich alle anderen orientieren.
Reschs Ablehnung dieser Annahme unterscheidet sich jedoch in zweierlei Hinsicht von den bisherigen Zurückweisungen. Zum einen argumentiert sie sehr polemisch und widmet der Abwägung nicht eben viel Raum: »Die Frage nach dem ›guten Geschmack‹«, behauptet sie kategorisch, »hat sich erledigt.« Zum anderen versucht sie, der These Bourdieus dann aber doch abzugewinnen, was möglich ist. Es ist schließlich die Bourdieusche Theorie, auf die sich ihre Untersuchung fortwährend bezieht. Gewählt hat sie ein interessantes Forschungsgebiet: Wohnungen und wie sie eingerichtet sind.
Im Unterschied zu Bourdieu, der mittels Fragebogen herausfinden wollte, wer was gut findet und womit man sich abgrenzen oder Status zur Schau tragen möchte, untersucht Resch, wie Leute ihre Wohnungen tatsächlich einrichten. Will man herausfinden, wer welchen Geschmack hat, muss man, so Resch, nicht fragen, was die Leute wissen, sondern was sie tun: nicht einfach fragen, welche Komponisten und welche Maler sie kennen, sondern in welche Konzerte sie tatsächlich gehen und welche Bilder sie wirklich aufhängen. Fragt man auf diese Weise, wie Resch und ihre Mitarbeiter es getan haben, kommt man auch zu anderen Ergebnissen. Gerade in der Wohnungseinrichtung zeige sich, dass die »Bedeutung der Artefakte« sich nicht so sehr nach »Geschmacksnormen« richtet. Viel weniger als ein »legitimer Geschmack« seien »soziale Beziehungen« entscheidend dafür, wer sich mit welchen Gegenständen umgibt.
Interessant dabei: Während Bourdieu Geschmack zwar und vor allem nach Klassen unterschieden hat, sprach er im Hinblick auf Männer und Frauen noch undifferenziert vom »Familiengeschmack«. Resch hingegen macht hier eindeutige und strukturelle Geschlechterunterschiede aus. Durch alle Klassen hinweg sind es die Frauen, die die Wohnungseinrichtung gestalten. Sie sammeln und platzieren auch andere Gegenstände als Männer und transportieren damit andere Bedeutungen. Tendenziell stiften Frauen durch Einrichtungsgegenstände nicht nur die Einheitlichkeit des Wohnraums, sondern gestalten etwa durch Fotografien oder Andenken in der Wohnung auch die Einheit der Familie. Männern hingegen sind eher die vor- und außerfamiliären Artefakte wichtig. Männer verteidigen »ihren« eigenen Raum, den die Frauen oft nach wie vor nicht haben, wohnen insgesamt aber in einer »fremden«, da von den Frauen dominierten Wohnung.
Erstaunlich ist, welche Stabilität die geschlechtlich tradierten Rollen offensichtlich besitzen. Die Ergebnisse der Studie zeigen zugleich, dass Bourdieu für die geschlechtliche Dimension kultureller Praktiken offenkundig blind war. Die wichtigste Schlussfolgerung, die Resch zieht, zielt jedoch nicht in eine geschlechtertheoretische Richtung. Sie reicht wesentlich weiter: »Im Alltag und in der eigenen Wohnung«, schreibt sie, »folgen die kulturellen Praktiken nicht ästhetischen Normen, sondern sozialen Bedürfnissen.« Dass der Umgang mit kulturellen Artefakten nicht durch die Normen der anerkannten Kunst vorstrukturiert sei, sondern sich aus Interaktionen ergebe, ist ein deutlicher Bruch mit Bourdieus Theorie. Resch wirft Bourdieu sogar einen »Kategorienfehler« vor. Denn er hatte schließlich genau das angenommen: dass nämlich die »legitime Kultur« jeden Umgang mit kulturellen Gegenständen präge.
Das hatte auch der Soziologe Ulf Wuggenig herausgefunden, als er in den frühen neunziger Jahren die soziale Relevanz von Wohnungseinrichtungen untersuchte. Auch ihm ging es um die Bedeutung von Artefakten: Was fotografieren die Leute, fragte sich Wuggenig vor dem Hintergrund der Theorie Bourdieus, wenn man sie mit Kameras ausstattet und sie zu Hause ihre Lieblingsgegenstände fotografieren sollen? Hier war das Ergebnis so hochkulturell geprägt wie klassenspezifisch und klischeehaft: Fotos von Schränken erwiesen sich als »hochspezifisch für die untere Mittelklasse«, Schreibtische und Bücherregale hingegen als »charakteristisch für die akademisch-freiberufliche Gruppe und das neue Kleinbürgertum.« Als Zeichen für Bildung sind letztere gesellschaftlich nach wie vor zweifellos höher angesehen.
Aber auch das bestreitet Resch, die Wuggenigs Studien ignoriert. Während Konsum weiterhin Unterschiede produziere, sei Bildung nicht länger »ein (immaterieller) ›Luxus‹«, der »distinktiv eingesetzt werden kann«, schreibt sie. Nicht nur die zahlreichen Untersuchungen von Wuggenig widerlegen diese These. Auch andere, auf der Theorie Bourdieus basierende Studien, etwa die Untersuchungen über Eliten des Darmstädter Soziologen Michael Hartmann oder die der Wiener Soziologin Barbara Rothmüller über Anwärter auf ein Kunststudium, kommen zu ähnlichen Schlüssen: Bildung entscheidet nach wie vor darüber, wer dabei sein darf, wer draußen bleiben muss und wie das gerechtfertigt wird.
Die entscheidende Frage ist jedoch, was »legitime Kultur« eigentlich bedeutet. Zuweilen erwecken die Kritiker Bourdieus den Eindruck, der Soziologe habe dabei an den Zylinder tragenden Gentleman gedacht, der aus der Oper kommend über proletarisches Vergnügen die Nase rümpft und mit lässig zur Schau gestellter Bildung den Abstand zum Pöbel markiert. Entsprechend leicht fällt es ihnen anschließend zu konstatieren: »Die herausragende Bedeutung dessen, was Bourdieu noch ›legitime‹ Kultur genannt hat, gibt es nicht mehr.« Versteht man unter legitimer Kultur aber nicht Zylinder und Oper, sondern – im Sinne Bourdieus – sich wandelnde Formen von Anerkennung und Gültigkeit, mit denen Praktiken ausgestattet sind, dürfte klar werden, wie vorschnell Reschs Behauptung von der »Irrelevanz von ›Geschmack‹ im Neoliberalismus« ist.
Auch unter den kulturellen Bedingungen des gegenwärtigen Kapitalismus gibt es Geschmäcker, die legitimer, anerkannter und bedeutender sind als andere. Von einem gleichwertigen Nebeneinander verschiedener Geschmacksorientierungen kann wohl nicht die Rede sein. Um sich im Kreise leitender Angestellter bewegen zu können, braucht man nicht zu wissen, dass HipHop und Street Art überhaupt existieren. Um als Rapper zu reüssieren, muss man die Oper und die Reihenfolge, in der man bei mehrgängigen Menüs das Besteck benutzt, nicht kennen. Und Rapper geben sozial und politisch eben auch nicht den Ton an. Im Hinblick auf die Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse muss Reschs Behauptung, »Jugendkultur ist ebenso wichtig geworden wie Hochkultur«, daher als ziemlich verwegen erscheinen. Es gibt, anders als Resch es nahelegt, keine sozialen Beziehungen jenseits ästhetischer Normen.
Einig ist sich Resch mit rechten Theoretikern wie Norbert Bolz, die behaupten, dass die Unterscheidung von Hoch- und Populärkultur hinfällig sei. Während diese die Unterschiedslosigkeit als Triumph der Konsumgesellschaft feiern, versucht Resch, mit der Kulturindustriethese von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die allgemeine Warenförmigkeit zu beklagen. In dem Urteil, dass Geschmack nichts mehr zähle und aus dem Bildungsbürgertum ein »Konsumbürgertum« geworden sei, stimmt sie mit den Vertretern der konservativen Kulturkritik jedoch überein.

Christine Resch: Schöner Wohnen: Zur Kritik von Bourdieus »feinen Unterschieden«. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2012, 185 Seiten, 24,90 Euro