Eine Tagung über Dokumentarismus

Ich sehe was, was du nicht siehst

Bei einer Tagung in Berlin ging es um neue Aspekte des Dokumentarischen im Film.

Spätestens seit den Siebzigern weiß man beim Film um die ambivalente Position des Dokumentarismus zwischen Wahrheitsanspruch und -konstruktion. Das dokumentarische Bild und das Repräsentierte sind schließlich nie identisch, jedes Dokument ist ein subjektiv ausgewählter Teil der Realität. Seine Bedeutung verändert sich, je nach technologischem Apparat, Publikum und historischem Kontext – es bleibt somit ein Gemachtes, ein Ausgedachtes. Aber trotz seiner offensichtlichen Konstruiertheit kann man das Dokumentarische immer von der Fiktion unterscheiden. Wie genau das Reale an ihm haftet und warum es seinen Charme und die ominöse Nähe zum Sozialen aufrechterhält, ist nur eine der stets unbeantwortbar bleibenden Fragen der Debatte über den Dokumentarismus. Der Filmemacher Harun Farocki vermied daher eine ontologische Bestimmung des Begriffs und sprach beim diesjährigen Berlin Documentary Forum lieber von der »dokumentarischen Geste« oder dem »dokumentarischen Effekt«.
Das Berlin Documentary Forum, das jüngst zum zweiten Mal im Haus der Kulturen der Welt stattfand, hat sich 2010 gegründet, um solchen Debatten rund um den Dokumentarismus nachzugehen. Die Fragen sind nicht neu, allerdings haben sie sich in den vergangenen zehn Jahren verstärkt auch in der Kunst gestellt. Die Kunst, sagte der Direktor des HKW, Bernd Scherer, in seinem Vortrag zum Auftrakt des Forums, sei »das legitimierte Terrain«, dem vorbehalten sei, mit der »Routine des Wahrnehmungsregimes zu brechen«. Tatsächlich hat die Kunst die Möglichkeit, den Konstruktionscharakter des realen Artefakts zu betonen, seine Herstellungsbedingungen freizulegen und ein doppeltes Wissen zu generieren: über seinen Informationsgehalt sowie über seine Gemachtheit. Gespielt wird dabei mit den fließenden Übergängen zwischen Dokumentarismus und Fiktion.
Das diesjährige Forum hat mit Filmvorführungen, einer Fotoausstellung, Installationen und ­eigens für das Forum produzierten (oft performativen) Vorträgen eine sehr elaborierte, ambitionierte Veranstaltung präsentiert. Allerdings verpflichtete sich das Forum keiner neuen Fragestellung an den Gegenstand. Vielmehr wurden kleinere, vertiefende Fragen aufgeworfen: der Kameraschwenk, die Filmkontinuität, der Zwischenraum zwischen dem Sichtbaren – Themen, die helfen, die verschieden produzierten Wahrheiten zu erkennen und zu differenzieren. Harun Farocki etwa sprach über den Umgang mit Kontingenz: beim Arbeitsverfahren des programmatisch uninszenierten Direct Cinema fügt sich das zufällige Ereignis – obwohl ein unkontrollierter, unerwarteter Moment – im Schnitt immer in eine dramaturgische Filmstruktur wieder ein. Ein »object trouvé«, das trotz seiner Zufälligkeit als Teil der Narration das dokumentarische Moment wieder in Richtung Fiktion treibt.
Ein innovativer Performance-Vortrag war »The Pixelated Revolution« von Rabih Mroué. Er analysierte die Handyfilme, in denen syrische Aufständische »ihren eigenen Tod filmen«. Die Handykameras der Revolutionäre werden als mediale Waffen gegen die bewaffneten Soldaten gerichtet. Die Youtube-Videos sind in diesem Sinne »double shootings« – ein Handyvideoschuss, ein Gegenschuss mit scharfer Munition. Im nächsten Moment fällt ein Körper zu Boden – diesmal ein zweifellos realistischer Moment. Die verwackelten Videos entfalten die Glaubwürdigkeit, die die sauberen, mit dem Stativ gemachten des staatlichen Fernsehens nicht vermitteln. Für die Aktivisten wurde die so gewonnene internationale Öffentlichkeit zur wichtigsten Kampfressource. So wichtig, um bis zum letzten Atemzug durchzufilmen? Bei aller Stärke des Vortrags konnte man sich des unguten Gefühls nicht erwehren, dass sozusagen aus der Sicht eines Sterbenden über Blickperspektiven gesprochen wurde.
Hito Steyerl hat sich ebenfalls den neuen Technologien des Dokumentarischen gewidmet: dem 3D-Scanning und -Printing, die in polizei­lichen Kontexten im klassischen Sinne als neues Beweismittel zur Wahrheitsgenerierung verwendet werden. Steyerl benutzte die Technologie, um einen Vermissten bei einer mörderischen Geiselnahme in Bosnien-Herzegowina zu finden, und bewies dabei, dass selbst diese Übersetzung des Bildes in ein 3D-Objekt der Intelligence-Technologie so viele Schätzungen und Annäherungen beinhaltet, dass sie maßgeblich fiktional ist.
Die dem Forum angeschlossene und von Catherine David kuratierte Fotoausstellung »The Blind Spot« widmete sich der Bedeutung des Indexikalischen, also den notwendigen Angaben, mit denen jedes Dokument zum Träger von Information wird und die im Dokument selbst nicht notwendig sichtbar sind. Verzichtete man als Ausstellungsbesucher aber aufs Lesen der langen Begleittexte, die uns den Kontext mitlieferten, blieben ästhetische Schwarzweiß-Arbeiten zurück: Kunstfotos von Bäumen, Blumen und urbanen Stillleben.
Auch wenn sich die Veranstaltung nicht explizit einem Thema verschrieben hatte, war ein Interesse an Schauplätzen des Todes auffällig. Es ist, als ob die Künstler von der Faszination der Kriegsreporter nicht frei sind, für die diese Augenblicke des Sterbens die wertvollsten sind. Denn der ultimative Moment, der das »real Lebendige« beweist, ist sein Erlöschen, der Umschwung in sein Gegenteil.
So sind wir wieder beim alten Charme des Dokumentarischen, das beim Festhalten des Moments, im Kampf mit der Vergänglichheit, sich dem Tod zu widersetzen sucht. In diesem Sinne konnten mit der erklärten willkürlichen Vermischung von Wirklichkeit und Fiktion Steyerl und Mroué die Sehnsucht in ihr Recht setzen, dass ihre Protagonisten gar nicht tot seien. Mit der Verwischung der Grenzen zwischen Dokumentarismus und Fiktion auch die Grenze zwischen Leben und Tod zu verwischen, das geht tatsächlich nur in der Kunst.