Die Türkei plant, Abtreibung zu verbieten

Nach außen heilig

Die türkische Regierung will Abtreibungen verbieten. Dagegen protestieren nicht nur Feministinnen.

Schon der Beginn der Debatte über Schwangerschaftsabbrüche in der Türkei hatte etwas perfide Geschmackloses. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan stellte einmal mehr unter Beweis, dass sich hinter seinem vermeintlichen Wertkonservatismus Feindseligkeit gegenüber jenen verbirgt, die seine reaktionäre Ideologie nicht teilen. »Jede Abtreibung ist ein Uludere«, sagte er und verglich damit ein Massaker an Zivilisten mit der individuellen Entscheidung von Frauen, Föten nicht auszutragen. Diese Entscheidung konnten sie bislang treffen, in der Praxis werden Schwangerschaftsabbrüche liberal gehandhabt.
Uludere ist eine türkische Kreisstadt in der Provinz Şırnak in Südostanatolien nahe der Grenze zum Irak. Am 28. Dezember vorigen Jahres brachen 35 Jugendliche und junge Männer aus dem Dorf Roboski nahe Uludere mit Eseln auf, um Öl und Benzin aus dem Nordirak zu schmuggeln. In der verarmten Region ist das ein üblicher Weg der schnellen Geldbeschaffung, der Mühsal und Gefahr mit sich bringt, aber einen bescheidenen Profit verspricht. Als die Roboskier sich auf dem Rückweg auf irakischem Boden der Grenze näherten, tauchten Kampfjets der türkischen Luftwaffe auf. Den folgenden Bombenangriff überlebte nur einer der Schmuggler.
Die Luftwaffe behauptete, den Konvoi für eine Gruppe von PKK-Guerilleros gehalten zu haben. Zunächst entbrannte eine Debatte über die Kompetenz des Militärs, doch wurde auch der Vorwurf erhoben, es habe sich um einen gezielten Angriff gehandelt. Die Opposition und die Medien bestanden darauf, zu erfahren, ob der Ministerpräsident informiert worden war. Die Bilder von der Beerdigung lösten Empörung im ganzen Land aus, bei der Erwähnung des Angriffs denkt jeder an Bilder eines endlosen Leichenzugs in das Dorf der toten Kinder. Nicht nur die prokurdischen Parteien, auch viele islamisch-konservative Wählerinnen und Wähler der Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) empörten sich, vor allem weil die Regierung nicht willens ist, die Hintergründe der Tat aufzuklären.

Erdoğans perfider Vergleich hatte jedoch nicht den gewünschten Erfolg. Die Abtreibungsdebatte entwickelte eine von der türkischen Regierung nicht erwartete Eigendynamik. Der Gesundheitsminister Recep Akdağ überraschte mit einem Gesetzentwurf, der Schwangerschaftsabbrüche nur im Falle einer gesundheitlichen Gefährdung der Mutter zulässt. Er verblüffte die Öffentlichkeit mit der Forderung, die Frist dafür müsse auf vier Wochen beschränkt werden. Jede Frau egal welchen Bildungsgrades und auch die meisten Männer wissen, dass Schwangerschaften frühestens in der vierten Woche feststellbar sind. Akdağ will auch eine Vergewaltigung nicht als Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch gelten lassen. Die vergewaltigten Frauen in Bosnien hätten doch auch nicht abgetrieben, und notfalls könne der Staat sich um die nach einer Vergewaltigung geborenen Kinder kümmern.
Die Vorstellung, dass eine Frau unter allen Umständen verplichtet sei, der Nation Kinder zu gebären, griff Erdoğan auf. Offensichtlich fühlte er sich aus den Medien verdrängt, die nur noch den zuvor so gut wie nie in Erscheinung getretenen Gesundheitminister zitierten. Für ihn hätten Abtreibungen nicht nur eine moralische, sondern auch eine strategische Komponente, sagte der Ministerpräsident. Die Türkei lebe von ihrer jungen, dynamischen Bevölkerung. Abtreibungen minderten das Bevölkerungswachstum und schadeten damit dem Land. Es sei auch sehr besorgniserregend, dass es so viele Kaiserschnittgeburten gebe. Dies sei eine gezielte Strategie der westlich dominierten Pharma- und Medizinlobby. Sie diene der verdeckten Geburtenkontrolle, denn im Falle von Kaiserschnittgeburten könne eine Frau nur zwei Kinder gebären.

Die Debatte hat etwas Possenhaftes. Medizinische Unwissenheit, sozialpsychologische Unfähigkeit, Ignoranz, Dummheit, Unaufgeklärtheit, Unreife waren noch die schmeichelhafteren Attribute, die der Öffentlichkeit zu dem unrühmlichen Auftritt der islamisch-konservativen Führungsriege einfielen. Kritik kam von allen Seiten. Nicht nur Feministinnen protestieren, auch die Ärztekammer und der Gynäkologenverband wandten sich mit scharfen Protestnoten gegen ein aus dem Gesetzentwurf resultierendes Abtreibungsverbot.
Mehr als 70 000 Frauen sterben weltweit pro Jahr in den Ländern, die Schwangerschaftsabbrüche verbieten und die betroffenen Frauen dadurch illegalisieren, rechneten die Gynäkologen der Regierung vor. Vor der Aufhebung des Verbots im Jahr 1983 seien auch in der Türkei jedes Jahr mehrere tausend Frauen durch einen unsachgemäßen Eingriff gestorben. Am vergangenen Wochenende protestierten Hundertausende Frauen und auch viele Männer aus allen politischen Lagern gegen geplante Änderungen des Abtreibungsgesetzes. Selbst die ultranationalistische Partei der Nationalen Bewegung (MHP) kritisierte den Vorstoß Akdağs, Vergewaltigungen nicht mehr als Indikation gelten zu lassen, indem sie erklärte, dass Vergewaltigung als Teil einer auf Bevölkerungswachstum abzielenden ­Familienpolitik Brechreiz auslöse.
Im Internet kursierten mehrere Petitonen mit der Forderung »Mein Bauch gehört mir«. Die originellste davon initiierte das unabhängige Nachrichtenportal Bianet. »Gehören Sie zu den Frauen, die sich bei jeder Gelegenheit entblößen? Dann nutzen Sie diese Chance. Zeigen sie uns ihre Nachricht auf dem Corpus delicti.« Noch immer ver­öffentlicht Bianet die von Frauen auf ihre Bäuche geschriebene Nachricht »Mein Bauch, meine Entscheidung«.
»Der Körper meiner Enkelin ist ihre Entscheidung«, schrieb eine etwa 70jährige Frau in einem ärmlichen langen Kleid auf ein Schild, das sie sich vor den Bauch hält. Männer gesellten sich mit Kommentaren wie »Ihr Körper, ihre Entscheidung«, »Elifs Körper, Elifs Entscheidung«, »Meine Tochter, ihre Entscheidung« dazu. Es entwickelte sich eine kollektive Internet-Kampagne, die die Debatte geschickt mit anderen Themen verbindet. Frauen schrieben die Nachricht auf Kurdisch, Assyrisch und Armenisch in verschiedenen, teilweise ebenfalls politische Nachrichten übermittelnden Posen auf. Eine Frau schrieb sich den Satz »Mein Körper, mein Geist, meine Entscheidung« auf die Stirn, um gleichzeitig gegen die Zensur im türkischen Internet zu protestieren.
Keinen Gefallen tat sich der Präsident des Amtes für religiöse Angelegenheiten, Mehmet Görmez, mit seinem Eingriff in die Debatte. Er erinnerte vergangene Woche daran, dass Abtreibungen 1983 unter der Herrschaft der türkischen Generäle, die sich 1980 an die Macht geputscht hatten, legalisiert wurden. Auch damals sei das Amt für religöse Angelegenheiten, die staatliche Instanz für die Religion betreffende Fragen, um einen Kommentar gebeten worden. Der fiel negativ aus. Der Islam respektiere die Familie und sei auf ihre Mehrung aus, hieß es in der Stellungnahme des damaligen Präsidenten der Religionsbehörde, Mehmet Özgüneş, schwammig.

Nicht zuletzt unter dem Eindruck der vielen Todesfälle bei illegalen Schwangerschaftsabbrüchen wurden Abtreibungen 1983 innerhalb der ersten zehn Wochen der Schwangerschaft ohne Einschränkung legalisiert. Das lag aber nicht nur daran, dass das laizistische Militär damit keine moralischen Probleme hatte. Fast nirgendwo in der islamischen Welt wurde und wird über Schwangerschaftsabbrüche so erbittert debattiert wie in christlichen Ländern. Das liegt daran, dass nach Ansicht der meisten islamischen ­Kleriker dem Fötus erst nach mehreren Wochen, manche sprechen sogar vom vierten oder fünften Monat, eine Seele eingehaucht wird. Vorher könne man noch nicht von menschlichem Leben sprechen.
Mehmet Görmez wagte nun vergangene Woche eine andere Interpretation. Ganz abgesehen von der Seele des Fötus sei er ein von der Mutter zu trennendes Wesen, sein Lebensrecht könne nicht von ihrer Entscheidung abhängen. Dementsprechend seien Abtreibungen aus religiöser Sicht nicht erlaubt. Görmez’ Kommentar löste selbst unter religiösen Konservativen Protest aus. Die überzeugt Kopftuch tragende Juristin Meryem Ilayda Atlas wehrte sich entschieden ­gegen die männliche Dominanz in der Debatte. Die islamisch-konservativen Männer sollten bloß den Mund halten. Sie seien fast alle viel zu verklemmt, um mit ihren Partnerinnen über Verhütungsfragen zu sprechen. Die Folgen trügen immer Frauen, obwohl es bei jeder Schwangerschaft einen beteiligten Mann gebe. Die Männer seien »keineswegs immer wild auf eine unbegrenzte Kinderschar. Nach außen heilig und an der eigentlichen Sache nicht beteiligt, das ist eine jämmerliche Position«, wetterte Atlas in der Tageszeitung Radikal.
Ob sie die Mehrheit der islamischen Konservativen repräsentiert, ist fraglich, und das ist derzeit das eigentliche Problem in der Türkei. Die AKP war in der Vergangenheit in der Lage, ihren Wählern gerade die Familienpolitik betreffende modernisierende Reformen als eigentlich islamisch zu verkaufen. Seit Jahren hatten Frauenverbände etwa die Bestrafung von Vergewaltigung in der Ehe gefordert. 2004 wurde dieser Tatbestand umstandslos in das türkische Strafrecht aufgenommen. Recep Tayyip Erdoğan hatte in der damaligen Debatte viel über Menschlichkeit, Anstand und islamische Familienwerte gesprochen.
Jetzt schwenkt die Regierung um, denn es ist in politischen Krisenzeiten einfacher, Positionen zu vertreten, die den patriarchalische Werte favorisierenden Wählern gefallen. Umfragen zeigen, dass nur noch ein Drittel der Türkinnen und Türken Abtreibungen wegen unehelicher Schwangerschaften oder zu vieler vorhandener Kinder tolerieren, während es 1990 noch zwei Drittel waren. Das kann sich auch wieder ändern, doch Erdoğan hat kein Interesse an Aufklärung. Er nutzt die konservative Stimmung für eine rechts­populistische Kampagne.