Die soziale Bewegung, die Kartelle, die Oligarchie und der neue Präsident

Occupy Zócalo

Am 1. Juli wird in Mexiko ein neuer Präsident gewählt. Eine studentische Bewegung namens »Yo soy 132« hat dafür gesorgt, dass die Chancen des linken Kandidaten López Obrador steigen.

Wäre nicht Justin Bieber gekommen, würden sie wohl immer noch hier kampieren. »Der ganze Zócalo war voll mit Zelten, 25 000 Lehrerinnen und Lehrer haben mitgemacht«, erzählt Pedro Hernández und zeigt auf den weitflächigen Platz im Herzen von Mexiko-Stadt. Fast vier Wochen hatten die Gewerkschafter hier ausgeharrt, um ihrer Forderung nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen Nachdruck zu verleihen. Doch als sich am 11. Juni der Jugendstar zu einem kostenlosen Konzert ankündigte, zogen sie sich zurück. »Wir wollten die jungen Leute nicht verärgern«, erklärt Hernández. Es sollte Justin Biebers größtes Konzert werden: Rund 200 000 Teenies kreischten ihrem Helden entgegen.
Kaum war der Krach verhallt, kamen Pedro Her­nández und seine Leute wieder. Zumindest eine kleine Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten der Lehrergewerkschaft hat sich seither unter einem Zeltdach auf dem Zócalo niedergelassen. Täglich diskutieren sie mit Passanten, Kollegen und linken Mitstreitern. Im Mittelpunkt steht jetzt der 1. Juli. Denn an diesem Tag wird in Mexiko ein neuer Präsident gewählt. »Wir müssen auf die Straße gehen und die Menschen davon überzeugen, für Andrés Manuel zu votieren«, appelliert ein junger Mann an seine etwa 50 Zuhörerinnen und Zuhörer. Gegenstimmen erntet er nicht, denn hier ist man sich einig: Nur Andrés Manuel López Obrador kann das Land retten. Der linke Kandidat macht sich gegen die allgegenwärtige Korruption, die Privatisierung des staatlichen Erdölkonzerns Pemex und für mehr soziale Gerechtigkeit stark. Die ausufernde Gewalt im Rahmen des sogenannten Drogenkriegs will der 58jährige überwinden, indem er den Armen eine Perspektive verschafft: »Ohne Arbeitsplätze gibt es keinen Wohlstand, keinen Frieden und keine soziale Ruhe.«
Immerhin: López Obrador konnte Justin Bieber einst locker übertrumpfen. Mehr als eine Million Menschen kamen vor sechs Jahren auf den Zócalo und in die anliegenden Straßen, um den Politiker zu unterstützen. Damals war er als Kandidat der sozialdemokratischen Partei der demokratischen Revolution (PRD) zur Präsidentschaftswahl angetreten, unterlag aber seinem Konkurrenten von der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN), Felipe Calderón, um etwa einen halben Prozentpunkt. Vieles sprach dafür, dass bei der Wahl Betrug im Spiel war, und so mobilisierte López Obrador seine Anhänger. Wochenlang legten sie das Zentrum der Hauptstadt lahm, konnten sich aber mit ihrer Forderung, alle Stimmen noch einmal zu zählen, nicht durchsetzen.
Der Politiker zog daraufhin von Gemeinde zu Gemeinde, um gegen die Regierung Calderón mobil zu machen. Nun tritt er nicht mehr nur für den PRD, sondern für ein Bündnis an, an dem auch die von ihm initiierte Bewegung Morena beteilig ist. Ob der Politiker seine Versprechen hält? Ob er einen Mindestlohn einführen und Sozialprogramme für die Armen finanzieren kann? Hernández ist zurückhaltend, dennoch ist für ihn klar: Die ehemalige Staatspartei PRI darf nicht wieder an die Macht kommen.

71 lange Jahre hatte die Partei der Institutionalisierten Revolution in enger Kooperation mit Wirtschaftsvertretern, hohen Militärangehörigen und Gewerkschaftsführern autoritär das Land regiert. Wer sich wehrte, bekam die Gewalt von Polizei und Armee zu spüren. Vor zwölf Jahren wurde der PRI auf Bundesebene abgewählt, doch Hernández und seine Kollegen haben mit diesen Strukturen bis heute zu kämpfen. Seine Organisation, die CNTE, steht im teilweise gewaltsam ausgetragenen Widerstreit mit der Gewerkschaftsführung, die eigenmächtig und im Interesse der Arbeitgeber agiert. »Wenn der PRI wieder die Regierung stellt, werden die sozialen Bewegungen, die Studenten, die Gewerkschaften verschärfter Repression und absoluter Kontrolle ausgesetzt sein«, befürchtet Hernández.
Vieles deutet darauf hin, dass die Partei tatsächlich den nächsten Präsidenten stellen wird. Umfragen sind zwar stark interessengeleitet, doch die Tendenz ist eindeutig: Der PRI-Kandidat Enrique Peña Nieto kann je nach Prognose zwischen fünf und 13 Prozent mehr Wählerstimmen erwarten als López Obrador, weiter hinten liegt die PAN-Kandidatin Josefina Vázquez Mota. Die Konservative Vázquez Mota hat eine kaum lösbare Aufgabe zu bewältigen: Sie muss die Amtszeit ihres Parteifreundes Calderón als Erfolg verkaufen. Trotz der 60 000 Toten und 20 000 Verschwundenen, die der »Drogenkrieg« gefordert hat, der steigenden Zahl an Arbeitslosen und nicht zuletzt der wirtschaftlichen Misserfolge. Nach Angaben der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika hat die Armut in den vergangenen vier Jahren wieder zugenommen. 40 der 112 Millionen Mexikaner haben nicht genügend zu essen oder keine angemessene Wohnung. Das sind schwierige Ausgangsbedingungen für die konservative Kandidatin.
Der smarte, telegene 45jährige Peña Nieto verkörpert hingegen überhaupt nicht jenen Dinosaurier aus vergangenen Zeiten, vor dem seine Gegner warnen. Der PRI-Politiker tritt eloquent auf, verspricht Steuerreformen auf Kosten der Reichen und Zugang zum Gesundheitssystem für alle. Seine Frau ist den Mexikanerinnen und Mexikanern als Schauspielerin einer Seifenoper bekannt, er selbst hat sich für viele tausend Pesos die Unterstützung des großen Medienkonzerns Televisa erkauft. Die britische Tageszeitung The Guardian enthüllte jüngst, dass Peña Nieto für entsprechende Nachrichten und Interviews bereits in den Jahren 2005 und 2006 Geld an Televisa gezahlt hat.
Auch unter dem Zeltdach auf dem Zócalo sind die großen Fernsehstationen ein wichtiges Thema. »Das Problem ist, dass die Leute auf dem Land nur Televisa und TV Azteka schauen können«, gibt eine junge Frau zu bedenken. Doch ihre Stimme wird übertönt von wummernden Bässen und zahlreichen Sprechchören, denn auf dem Platz haben sich inzwischen Tausende Studentinnen und Studenten versammelt. »Nein zu Peña Nieto, nein zu Televisa«, dröhnt es aus Lautsprechern. Auf einer Bühne spielt Real de Catorce, weitere berühmte Bands sollen folgen. Pappschilder und Transparente informieren, wer hinter dem Spektakel steckt: »Yo soy 132«, sinngemäß: »Ich bin Nummer 132«.
Die Bewegung mit dem ungewöhnlichen Namen hat dafür gesorgt, dass die Karten im Wahlkampf neu gemischt werden. Und ausgerechnet Peña Nieto selbst lieferte dafür den Anlass. Bei einem Auftritt an einer Privatuniversität warfen ihm Studierende vor, als Gouverneur des Bundesstaats Mexiko für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gewesen zu sein. Der PRI-Politiker reagierte gereizt und zog sich durch die Hintertür zurück. Später beschuldigte er seine Kritiker in einer Televisa-Sendung, bezahlte Provokateure der Opposition zu sein. Das kam bei den meist aus wohlhabenden Familien stammenden Studenten schlecht an. 131 von ihnen stellten in Videos auf der Internet-Plattform Youtube klar: Ich bin ein ganz gewöhnlicher Student. Täglich erschienen daraufhin neue Spots, in denen junge Leute ihren Studentenausweis zeigten und erklärten: »Ich bin Nummer 132.«

Mittels Facebook und Twitter bildete sich eine Bewegung, die mittlerweile fast täglich auf die Straße geht. Sogar eine öffentliche Debatte mit den Kandidaten konnten die Studenten vergangene Woche durchsetzen. »Durch die sozialen Netzwerke hatten wir die Möglichkeit, den Lügen von Televisa etwas entgegenzusetzen«, sagt David Acevedo Straulino von der UNAM, der Autonomen Nationalen Universität von Mexiko (siehe Interview Seite 5). Wie er haben sich inzwischen Zigtausende aus öffentlichen Hochschulen der Bewegung angeschlossen. Dass Studierende aus privaten und öffentlichen Universitäten gemeinsam agieren, ist für Acevedo ein einzigartiger Schritt. Trotz vieler Unterschiede habe man sich auf drei Grund­lagen einigen können: »Wir fordern eine Demokratisierung der Medien, kämpfen dafür, dass Peña Nieto nicht Präsident wird, und machen keine Parteipolitik.« Dennoch kommt die Bewegung eindeutig López Obrador zugute: Seit die Studenten sich organisieren, sind die Chancen des linken Kandidaten deutlich gestiegen.

Isalia Sabás Almazan berührt das kaum. »Egal wer an der Regierung war, keiner hat dafür gesorgt, dass die Armut ein Ende hat«, kritisiert die 41jährige indigene Frau. Dann muss sie lachen: »Ich wähle am besten den, der gewinnt. Oder den, der am besten aussieht.« Warum auch sollte sie die Versprechungen der Politiker noch ernst nehmen? Nichts haben sie eingehalten und alles ist teurer geworden: das Wasser, der Strom, der Transport. Schon als Kind musste sie lernen, sich allein durchzuschlagen. Mit zehn Jahren ist sie ohne ihre Eltern aus einem Dorf im Bundesstaat Guerrero nach Mexiko-Stadt gekommen. Seither putzt, wäscht und kocht sie für Mittelschichtsfamilien in der Metropole. Allein zog sie ihren Sohn und ihre Tochter groß.
In all den Jahren hat sie gelernt, sich nicht auf »die da oben« zu verlassen. Ob sie trotzdem wählen geht? »Ja, mein ganzes Leben habe ich für den PRI votiert, aber vielleicht gebe ich jetzt meine Stimme López Obrador.« Viel Hoffnung verbindet sie jedoch mit dieser Entscheidung nicht. »Keiner der Kandidaten wird dafür sorgen, dass es uns besser geht und die Gewalt im Viertel eingedämmt wird.« Vor allem aber fehlt ihr das Vertrauen in die Behörden. »Überall wollen sie uns davon überzeugen, wählen zu gehen, aber niemand weiß, was mit unseren Stimmen passiert.« Eine Befürchtung, die viele teilen: Nach einer in der Tageszeitung El Universal veröffentlichten Umfrage glauben 40 Prozent aller Mexikanerinnen und Mexikaner nicht, dass die Wahl korrekt verlaufen wird. Anhänger von López Obrador überlegen deshalb schon jetzt, wie sie auf einen Betrug reagieren könnten.
Auf dem Zócalo ist es inzwischen dunkel geworden, doch im Zelt der Gewerkschafter und unter den Studenten wird dieses Problem weiter lebhaft diskutiert. Lehrervertreter Pedro Hernández hofft darauf, dass einer Fälschung enge Grenzen gesetzt sind: »Im Gegensatz zu den letzten Wahlen kann die Linke dieses Mal zu allen Urnen Beobachter schicken.« Und wenn es doch anders kommt? Manche bezweifeln, dass López Obrador wie im Jahr 2006 dafür sorgen wird, den Protest in friedliche Bahnen zu lenken. Andere weisen darauf hin, dass der Linkskandidat erklärt habe, er werde das Ergebnis respektieren. Für den Studenten David Acevedo ist jedenfalls klar: »Wir werden nicht hinnehmen, dass Peña Nieto durch Wahlfälschung an die Regierung kommt.«