War bei der Gedenkfeier für das Massaker in Distomo

Klagen und Gedenken

Am 10. Juni 1944 ermordeten SS-Soldaten im griechischen Dorf Distomo 218 Menschen. Klagen von Angehörigen der Opfer auf Entschädigungsleistungen wurden vor deutschen Gerichten stets abgewiesen. Der Frage, wie der Kampf um Entschädigung der NS-Opfer weitergehen kann, ging der Arbeitskreis Distomo beim Besuch der diesjährigen Gedenkfeier nach.

Sonntagmorgens um 9 Uhr sind die Straßen noch leer, in den Cafés rund um den oberen Dorfplatz sammeln sich nach und nach Menschen, mehrheitlich ältere Männer. Der Brunnen vor dem Hotel Amerika glänzt nach der Sandstrahlbehandlung vom Vortag. Die ersten gehen in die Kirche, wo die Messe zur Erinnerung an die Ermordeten begonnen hat. Allmählich füllt sich der Platz vor der Kirche. Viele ältere, schwarz gekleidete Frauen sind zu sehen, aber auch jüngere in farbiger Sonntagskleidung. Heute ist der Jahrestag des Massakers. Fast jeder im Ort hat damals Angehörige verloren. Distomo liegt nördlich von Athen nahe Delphi am Fuße des Parnassosgebirges. Heute leben hier etwa 2 000 Menschen.
Wir treffen Regina, Lehrerin an der Deutschen Schule in Athen. Sie und ein Kollege sind mit Schülerinnen und Schülern gekommen, um an der Gedenkfeier teilzunehmen. Seit Jahren gibt es einen intensiven Austausch mit Schülerinnen und Schülern aus Distomo. Diskutiert wird immer wieder über das historische Geschehen, die Bewahrung der Erinnerung und die Konsequenzen für die heutige Generation. Regina fragt nach der Bedeutung der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag vom Februar und spricht damit direkt ein dringendes Problem an.
Am 3. Februar dieses Jahres gab der IGH einem Antrag Deutschlands statt, in dem die Bundesrepublik Immunität gegenüber Klagen von NS-Opfern beanspruchte. Damit ist der vorläufige Schlusspunkt eines 17 Jahre andauernden juristischen und politischen Kampfes um die Rechte der Opfer und Überlebenden der NS-Verbrechen erreicht. Der Versuch, mit individuellen Klagen in den Herkunftsländern der Opfer und ihrer Angehörigen die deutsche Ablehnung von Entschädigungen zu durchbrechen, ist gescheitert.
Bereits 1997 hatte nach einer Klage von Überlebenden und Angehörigen der Ermordeten aus Distomo das Landgericht im griechischen Levadia die Bundesrepublik zu Entschädigungszahlungen verurteilt. Im Jahr 2000 bestätigte der Areopag, der oberste Gerichtshof in Athen, die Verurteilung der BRD zu Schadensersatzzahlungen in Höhe von ungefähr 28 Millionen Euro. Nur ein auf Druck der Bundesregierung vom griechischen Justizminister eingelegtes Veto führte dazu, dass bereits eingeleitete Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in Griechenland, wie die Pfändung des Besitzes des Goethe-Instituts in Athen, gestoppt wurden.
Der Kassationshof in Rom erklärte 2004 die Klage des ehemaligen NS-Zwangsarbeiters Luigi Ferrini auf Entschädigungszahlungen seitens Deutschlands für zulässig und die italienischen Gerichte für zuständig. Im Juni 2008 ermöglichte er auch die Zwangsvollstreckung gegen deutsches Eigentum in Italien im Fall Distomo und erkannte entsprechende Urteile griechischer Gerichte als rechtmäßig und vollstreckbar an. Daraufhin erhob Deutschland am 23. Dezember 2008 Klage gegen Italien vor dem IGH in Den Haag, um endgültig alle Entschädigungsprozesse und Vollstreckungsmaßnahmen zu stoppen. Die italienische Justiz habe die Staatenimmunität Deutschlands nicht beachtet, der zufolge Gerichte eines Staates einen anderen Staat nicht verurteilen können. Der italienische Kassationshof hatte im Fall Distomo jedoch entschieden, dass ein Staat, der Verbrechen gegen die Menschheit begangen hat, sich nicht auf die Staatenimmunität berufen könne, und gestattete daher die Vollstreckung des griechischen Urteils in Italien. Ein Dekret der Regierung Silvio Berlusconis untersagte jedoch bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem IGH die Vollstreckung. Das Urteil des IGH hat den Rechtsweg nun beendet, die Frage der Entschädigung kann nur noch auf politischer Ebene gelöst werden.

Der obere Dorfplatz in Distomo hat sich mittlerweile mit Menschen gefüllt. Am Eingang zur Kirche stehen Soldaten der griechischen Armee in Reih und Glied. Alle warten auf den Beginn des Trauerzuges zur Gedenkstätte. Die Honoratioren treffen ein, Bürgermeister und Gemeindevertreter aus Distomo und vielen anderen Orten, der Präfekt der Provinz Böotien, Militärangehörige, Geistliche, Vertreter der Regierung und verschiedene Botschafter, darunter auch der deutsche. Dann setzt sich der Zug in Bewegung. Rund 500 Menschen gehen gemessenen Schrittes in Richtung Gedenkstätte, die sich außerhalb des Dorfes auf einem Hügel befindet.
Am unteren Dorfplatz schließt sich eine Gruppe Jugendlicher aus Distomo und aus der Provinzhauptstadt Levadia dem Zug an. Die Jugendlichen halten ein Transparent, auf dem zu lesen ist: »Begreife wirklich den Faschismus – Er stirbt nicht von alleine, zerstöre ihn!« Sie wollen damit gegen die neofaschistische Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) protestieren. Es ist das erste Mal, dass auf der Gedenkfeier politische Parolen geäußert werden. Der Faschismus ist eben nicht nur Geschichte. Knapp sieben Prozent der Stimmen erhielt Chrysi Avgi bei den beiden letzten Parlamentswahlen, in Distomo erreichte sie 2,5 Prozent der Stimmen. Einige Faschisten versuchen sogar, sich in den Gedenkmarsch einzureihen. Ihr Anführer hatte um eine Beteiligung am Gedenkmarsch gebeten, doch Organisatoren der Veranstaltung lehnten dies ab. Daraufhin rauschten die Faschisten wutentbrannt in ihren Wagen ab.
Es ist heiß geworden, die Mittagssonne brennt. Mühsam ist für viele ältere Menschen der Anstieg zur Gedenkstätte, oben angekommen suchen sie die wenigen schattigen Ecken. Einige besuchen das Gebeinhaus, in dem die Knochen der Ermordeten aufbewahrt werden. Auf einer Tafel am Eingang sind die Namen der Ermordeten eingraviert.
Die Honoratioren finden sich unter einem kleinen Baldachin ein. Ein Geistlicher beginnt mit einer Liturgie. Dann folgen die Redebeiträge. Die Hauptrede hält der Bürgermeister des Gemeindeverbundes, zu dem Distomo gehört. Er beschränkt sich nicht auf das historische Geschehen, sondern spricht auch über die aktuelle Forderung der Menschen aus Distomo nach Entschädigung und die jüngste Entscheidung des IGH. Er betont die Notwendigkeit einer politischen Lösung. Danach werden die Namen der Ermordeten verlesen, stets der bewegendste Moment der Gedenkfeier. Abschließend legen die Vertreterinnen und Vertreter der anwesenden Institutionen Kränze nieder. Mit dem Abspielen der Nationalhymne endet die Gedenkfeier.
Distomo gedenkt nicht nur am 10. Juni dem Massaker. Schon in den Tagen zuvor finden viele Veranstaltungen statt, Theater, Tanz und Musik bestimmen das Programm. Viele Menschen aus dem Ort beteiligen sich. Es ist die aufwendigste und anspruchvollste Gedenkfeier in Griechenland, Distomo hat sich zum zentralen Ort der Erinnerung und Mahnung entwickelt. Immer wieder wird der Bezug zu anderen Verbrechen Nazideutschlands hergestellt, so bei der Aufführung der Theatergruppe des Kulturvereins Distomo von Peter Weiss’ »Die Ermittlung« bei den Feiern 2010. Die Botschaft des Antifaschismus und des Wunsches nach Frieden prägen die Feiern und den Ort.

Dieses Jahr finden in Distomo zudem zwei Veranstaltungen statt, auf denen die Entscheidung des IGH kommentiert und diskutiert wird. Als am 7. Juni Stelios Perrakis, Professor für Internationales Recht aus Athen und Vertreter Griechenlands beim IGH, über die Folgen des Urteils referiert, sitzt an seiner Seite Christina Stamoulis. Sie ist Juristin und die Tochter des inzwischen verstorbenen Anwalts, der damals vor dem Landgericht Levadia für die überlebenden Opfer und die Angehörigen der Ermordeten die Entschädigung erstritten hatte. Der kleine Saal im dem Massaker gewidmeten Museum ist voll, ungefähr 70 Menschen wollen den Vortrag hören. »Das Abenteuer, das Ioannis Stamoulis angefangen hat, hat Grenzen im Völkerrecht«, beginnt Perrakis seine Ausführungen. Es folgen Ausführungen über das Völkerrecht, die Stichworte Libyen, Syrien, Sierra Leone und Zypern fallen. Es scheint, als säßen wir in einer Universitätsvorlesung. Und dann verkündet Perrakis, trotz der Entscheidung aus Den Haag habe Griechenland nicht verloren: »Was wir wollten, haben wir gewonnen.« Für die nächste Regierung, so Perrakis, bleibe Distomo ein offener Fall. Es gebe ein kleines Fenster für zwischenstaatliche Verhandlungen.
Natürlich könnte der griechische Staat in Verhandlungen treten, aber das hätte er spätestens seit 1990 gekonnt – und hat es nicht getan. Das Urteil des IGH hat die Lage sicher nicht verbessert, dennoch scheinen viele Menschen aus Distomo Perrakis zu folgen, der ihnen verspricht, sich weiterhin für ihre Belange einzusetzen. Bislang ist kaum etwas geschehen. Griechenland schloss sich erst in letzter Minute als Beobachter dem Prozess in Den Haag an. Die griechische Regierung verhinderte seit 2000 die Vollstreckung des Distomo-Urteils in Griechenland. Deshalb mussten die Klägerinnen und Kläger nach Italien ausweichen und dort vor die Gerichte ziehen. Und so wurde Italien von Deutschland verklagt und nicht Griechenland.
Am nächsten Tag sitzen wir im gleichen Saal mit einigen Menschen aus Distomo. Die Veranstaltung konkurriert mit dem Eröffnungsspiel der EM zwischen Griechenland und Polen. Es sind nur zehn Interessierte gekommen, um zu diskutieren, wie es jetzt weitergehen kann mit den Forderungen nach Entschädigung. Das Urteil des IGH vom Februar hat den individuellen Klageweg verstellt. Allenfalls in den USA könnten Klagen noch eine Chance haben. In Griechenland kann derzeit nur der politische Weg gewählt werden. Die nächste griechische Regierung müsste so unter Druck gesetzt werden, dass sie das Thema der Entschädigung und der Kriegsreparationen aufgreift und mit Deutschland in Verhandlungen eintritt. Im Saal herrscht Skepsis. Zwei ältere Männer aus Distomo, die seit langem in den USA leben, erheben sich. »Was können wir tun? Wir sind Waisenkinder. Wir kennen niemanden, der sich für uns einsetzt«, meint einer der beiden. Ein offener Brief soll an die nächste Regierung geschrieben werden, mit der Aufforderung, sich für Entschädigungszahlungen einzusetzen. Alle Einwohnerinnen und Einwohner Distomos könnten diesen unterschreiben. Die Anwesenden sind einverstanden.

Am nächsten Tag ist schon wieder alles anders. Wir sitzen im Rathaus. Lukas Dimakas, ein Journalist aus Distomo, schlägt verschiedene Änderungen des bisherigen Entwurfs vor. Er formuliert wie Perrakis: »Der IGH hat ein kleines Fenster für zwischenstaatliche Verhandlungen geöffnet.« Vassilis Karkoulias aus Kalavryta, Vorsitzender des Dachverbandes der Opfervereine, widerspricht: »Perrakis redet Unsinn, es gibt kein geöffnetes Fenster. Wir haben verloren. Das muss man auch so sagen.« Damianos Vassiliadis, Vertreter des Nationalrates für die Entschädigungsforderungen Griechenlands, versucht zu vermitteln – ohne Erfolg. Die Formulierung bleibt im Text. Vor allem aber sollen keine Unterschriften gesammelt werden. Der Brief soll stattdessen von der Versammlung der sogenannten Märtyrerstädte verabschiedet werden, die im Anschluss stattfindet. Die Bürgermeister dieser Städte verabschieden schließlich den Brief. Ob er etwas bewirken wird, ist fraglich.
Am Abend sitzen wir in Athen mit befreundeten Anwälten beim Essen. Wir diskutieren mit Theodoris Symeonidis, einem Vertreter der »Alternativen Intervention«, einer linken Anwaltsgruppe, die wir schon einige Tage zuvor in der Athener Anwaltskammer getroffen hatten, über unsere Eindrücke. Die Anwälte interessieren sich für das Thema Entschädigung. Auch sie meinen, dass Druck auf die neue Regierung ausgeübt werden müsse, um noch eine Verhandlungslösung zu erreichen. Wie das in Zeiten der Krise bewerkstelligt werden soll, wird an diesem Abend nicht geklärt. Immerhin hatte sich die Athener Anwaltskammer für eine Verhandlungslösung ausgesprochen, nachdem das Urteil des IGH bekannt geworden war.