In der Familiensaga »Canale Mussolini« kommt der italienische Faschismus gut weg

Non era affatto male

Es war nicht alles schlecht: Antonio Pennacchis Familiensaga »Canale Mussolini« entwirft ein romantisches Bild vom bäuerlichen Leben im faschistischen Italien.

Die Jury der renommierten Bestenliste des Südwestrundfunks war sich einig, ein Buch wie Antonio Pennacchis »Canale Mussolini« wäre in der deutschen Literatur »wohl nicht möglich«, nein, »völlig unmöglich«, sogar »vollkommen undenkbar«. Mit diesem Urteil wurde der Roman im Mai auf Platz 1 der Liste gewählt. Andere Rezensenten forderten in ihrer Begeisterung das Publikum auf, sich das vermeintlich Unvorstellbare doch einmal auszudenken: Im Zentrum des fehlenden deutschen Gegenwartsromans stünde »Hitler als düstere Witzfigur«, als durchaus »verdienstvoll, weil er ja auch Autobahnen gebaut hat« (Neue Zürcher Zeitung), und das Ganze wäre »verknüpft mit einem brillant, witzig und warmherzig erzählten Generationenroman« (Süddeutsche Zeitung). Der Autor müsse kein weltberühmter Nobelpreisträger sein, um zu erzählen, was erzählt werden muss, sondern einfach ein »Paradiesvogel« wie Pennacchi.
In Penacchis »Canale Mussolini« wird die faschistische Vergangenheit Italiens aus der Sicht eines Nachkommen einer Bauernfamilie geschildert. Als Pachtbauern in Venetien fristen die Peruzzis ein beschwerliches, karges Dasein. Anfänglich sozialistisch gestimmt, sympathisieren sie früh mit der faschistischen Bewegung. Die Verehrung für den ehemaligen Genossen Benito Mussolini wird zum festen Treue­bund, als die Großfamilie nach der Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe 1931 in das südliche Latium umsiedeln darf und zwei neu angelegte Höfe zugesprochen bekommt. Aus Dankbarkeit und Überzeugung sind die Peruzzis nun endgültig »hundertprozentige Faschisten«. In festem Glauben an den imperialen Traum ziehen ihre Söhne in den Abessinien-Krieg, später kämpfen schon die ersten Enkel für den verehrten Duce an allen Fronten des Zweiten Weltkriegs.
Die Urbarmachung der Pontinischen Ebene südlich von Rom war ein Prestigeprojekt des Faschismus. Jahrhundertelang war es nicht gelungen, das malariaverseuchte Gebiet zwischen der Mittelmeerküste und den Lepinischen Bergen dauerhaft bewohnbar und landwirtschaftlich nutzbar zu machen. Anfang der dreißiger Jahre beauftragte Mussolini den Nationalen Frontkämpferverband (ONC) damit, den Bau eines Kanalsystems und die Gründung neuer faschistischer Vorzeigestädte zu organisieren. Mehr als dreißigtausend Familien zogen damals aus Norditalien in das neu erschlossene Anbaugebiet des Agro Pontino. Für Pennacchis Erzähler ist Mussolini deshalb ein linker Revolutionär »und die ONC war die ›rote Garde‹ dieser Revolution, ein bisschen faschokommunistisch«.
In der Süddeutschen Zeitung werden auch Skrupel artikuliert: »Darf man auf solche Weise vom Keim des Faschismus erzählen? Bedeutet diese Perspektive eine nachträgliche Verharmlosung?« Der Rezensent der Neuen Zürcher Zeitung wischt die Fragen mit einer einfachen Behauptung beiseite: »Eine ›Aufwertung des Faschismus in Italien‹ betreibt der Roman ›Canale Mussolini‹ nicht.«
Tatsächlich ist der Erzähler, der seine Identität erst auf der letzten Seite offenbart, kein Nostalgiker. Pennacchi betreibt keine triviale Apologie des Faschismus. Er fingiert eine filò, eine mündliche Erzählung, die zur bäuerlichen Tradition Venetiens gehört. In diesem Erzählmonolog vermengen sich historische und private Ereignisse. Das Kollektivgedächtnis des Agro Pontino ist unantastbar, »einen Gründungsmythos untersucht man nicht auf seinen Wahrheitsgehalt«, heißt es im Buch. Selten nur lässt sich der Erzähler durch Einwände unterbrechen: »Wie bitte, was sagen Sie? Dass das so nicht in den Geschichtsbüchern steht? Ah, das weiß ich auch.« Er lässt den Zweifel gelten, nur um sich umgehend auf eine höhere Instanz zu berufen: »Ich – damit das klar ist – habe nicht den Anspruch, Ihnen hier die geoffenbarte Wahrheit zu erzählen, die absolute und vollkommene Wahrheit, die nur Gott allein kennt.«
Pennacchi ist mit »Canale Mussolini« kein großer Roman gelungen, wohl aber ein großartiges Dokument des zeitgenössischen italienischen Revisionismus. Längst geht es nicht mehr um eine Leugnung der faschistischen Verbrechen, sondern um eine pseudowissenschaftliche, emotionale Umdeutung der ehemals hegemonialen Nachkriegserzählung vom antifaschistischen Italien. Durch die Kolportage von Meinungen und Erinnerungen werden die »Scheußlichkeiten« des Regimes bagatellisiert und gegen die sozialen Errungenschaften aufgerechnet. »Sie sollten doch versuchen«, mahnt der Erzähler sein Publikum, »sich in unsere Lage zu versetzen.« Das wiederholt beschworene »Wir« bezieht sich auf all diejenigen, die wie die Familie Peruzzi überzeugte Faschisten waren und nach dem Krieg entweder der neofaschistischen Nachfolgepartei MSI beitraten oder aus Opportunismus bei den neu entstandenen Volksparteien untertauchten. Nicht den »einfachen Leuten«, sondern diesen ganz gewöhnlichen italienischen Faschisten hat Pennacchi ein »literarisches Denkmal« (ORF) gesetzt. Dabei bewegt sich der Autor nie »jenseits der üblichen Wahrnehmungsmuster« (Deutschlandradio), sein Erzähler folgt vielmehr stets dem gewöhnlichen revisionistischen Erzählschema.
Der Duce ist kein gewalttätiger Diktator, sondern das treusorgende Oberhaupt der faschistischen Gemeinschaft. Propagandabilder des Regimes, auf denen Mussolini in der Pontinischen Ebene bei der Weizenernte zu sehen ist, klebt der Erzähler als Erinnerungsfotos in sein Familienalbum: Die Frau im geblümten Kleid, die dem Duce die Ähren reicht, das ist die Tante. Mit der Behauptung, die Judenverfolgung habe begonnen, »weil der Unsrige sich mit Händen und Füßen an seinen neuen germanischen Verbündeten gekettet hatte«, wird nicht nur eine längst widerlegte These propagiert, es wird auch weiterhin jede Auseinandersetzung mit dem italienischen Antisemitismus abgewehrt. Der ORF-Rezensent kommt prompt zu der Ansicht: »Die Tatsache, dass seine (Pennacchis) Protagonisten in ›Canale Mussolini‹ überzeugte Faschisten sind, ohne zu Antisemiten zu werden, macht sie, jedenfalls für einen vorurteilslosen Leser, in keiner Weise unsympathisch.« Damit ist die Identifikation des vorurteilslosen Rezensenten mit der Peruzzi-Sippe vollzogen. Die Gräuel des Kolonialkrieges sind aus dieser Perspektive zwar bedauerlich, werden aber weiterhin gerechtfertigt, schließlich wollte man bei den Afrikanern die Zivilisation einführen. »Wie bitte, was sagen Sie? Dass Sie diese Argumentation nicht wirklich überzeugend finden? Aber Sie gestatten doch: Die Idee, um jeden Preis – mit Panzern oder Raumschiffen – die Demokratie in den Irak, nach Afghanistan oder auf die Planeten des Orion zu bringen, kommt mir auch nicht viel sinnvoller vor.« Die Verharmlosung des Faschismus durch historische Vergleiche ist eines der beliebtesten Stilmittel des Erzählers, wobei insbesondere an diesen Stellen die Stimme des Autors herauszuhören ist.
In »Canale Mussolini« verbinden sich seine beiden großen Lebensthemen: die »faschokommunistische« Aufhebung der Unterscheidung zwischen rechter und linker Politik und die erinnerungspolitische Aufwertung der faschistischen Städtegründungen. 2010 wurde der Roman mit dem Premio Strega, dem höchsten italienischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Dass Pennacchi von beiden politischen Lagern hofiert wird, zeigt, dass die revisionistische Umdeutung der Vergangenheit nach zwanzig Jahren der Vorherrschaft rechter Regierungsbündnisse auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens trifft. In Italien ist die Aufwertung des Faschismus kein Skandal mehr, im deutschsprachigen Feuilleton wird sie als literarisches Ereignis gefeiert.

Antonio Pennacchis: Canale Mussolini. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Hanser, München 2012, 448 Seiten, 24,90 Euro