Schuhe an!

Dass das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist, weiß natürlich jeder: die Betroffenen, die Beteiligten und die Beobachter und Berichterstatter ­sowieso. Es wird gelogen, manipuliert und verfälscht, was das Zeug hält. Hauptsache, der Gegner erscheint in düsterstem Licht. Der Feind ist wahlweise Barbar, Monster oder Schlächter. Einer, der weder Regeln und Rücksicht kennt noch Mitleid und Menschlichkeit.
In Syrien tobt gerade ein Krieg, der auch einer um die Deutungshoheit ist. Wer aus der Propagandaschlacht als Sieger hervorgeht, hat beste Chancen, die Weltöffentlichkeit auf seine Seite zu ziehen. Und das kann sich auszahlen. Denn derjenige, der als »der Gute« dasteht, kann auf Unterstützung hoffen – mit Worten, Geld und Waffen.
Journalisten kommt dabei eine brisante, weil einflussreiche Rolle zu. Sie müssen Leser, Zuschauer und Hörer über das Geschehen informieren – möglichst faktenreich und objektiv. Doch wem kann man trauen? Gibt es überhaupt zuverlässige Quellen? Wessen Schilderungen sind glaubhaft? Die des Regimes in Damaskus wohl kaum, aber sind es die der Opposition? Wer kann das mit Sicherheit sagen? Dieser Krieg kennt keine ungefilterten Nachrichten. Vor allem auch, weil Syrien für unabhängige Reporter weitgehend unzugänglich ist. Die Redaktionen sind viel zu oft auf fragwürdige Informationen der Kriegsparteien angewiesen. Von Objektivität kann keine Rede sein. Von »Wahrheit« noch viel weniger.
Kriegspropaganda hat es immer schon gegeben, ebenso wie den Kampf um die öffentliche Zustimmung. Neu ist, dass heute alle meinen, das digitale Informationszeitalter mit seinen scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten könnte den ernüchternden Ungewissheiten handfeste Gewissheiten entgegensetzen. Twitter, Face­book, Handykameras – es gibt keine unbeobachteten Räume mehr. Alles wird dokumentiert und im Internet gespeichert.
Aber auch diese Technik ermöglicht es, vermeintliche Fakten zu erfinden und somit anderen etwas vorzutäuschen. Die Kombattanten setzen dabei am liebsten auf die Macht der Bilder, weil diese im Kopf des Betrachters eine immense, nachhaltige Wirkung entwickeln können. Dem Gesehenen wird ein Höchstmaß an Authentizität attestiert. Doch entspricht es tatsächlich der Wirklichkeit? Fotos und Filme werden inszeniert, mit Programmen wie Photoshop nachbearbeitet – mit dem Ziel, das vermeintlich Gute dem vermeintlich Bösen klar erkennbar gegenüberzustellen.
Für die Presse ist das ein Dilemma: Sie muss berichten, darf sich jedoch nicht vor irgendeinen propagandistischen Karren spannen lassen. Da hilft oft nur das sperrige »nach Angaben von« und die exakte Benennung der Quellen. Und ein kluger Satz von Mark Twain, den Journalisten verinnerlichen sollten: Eine Lüge ist bereits drei Mal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.