Das Filmfest München

Nicht Barbie, nicht Ken

Künstler, Queers und Outlaws bevölkern die Filme von Todd Haynes. Das Filmfest München widmete dem US-amerikanischen Regisseur eine umfassende Werkschau.

Der kleine Steve ist besessen. Sein ganzes Begehren richtet sich auf Dottie Frank, die schrullige Komödiantin aus »The Dottie Show«. Wenn die Sitcom im Fernsehen läuft, hockt er in Pyjama und Bademantel im Schneidersitz vor der Mattscheibe und zeichnet seinen Lieblingsstar in unzähligen Variationen. Während Steves Mutter das irgendwie rührend findet, wird er von den Mädchen auf dem Spielplatz als »feminino« verspottet. Dem Vater macht die Vernarrtheit seines Sohnes Angst. Erst recht, als er eine Zeichnung zu Gesicht bekommt, die zeigt, wie Dottie der Hintern versohlt wird – eine Szene aus der Show, die bei dem Jungen einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat und fortan seine Phantasie beschäftigt. Der Kurzfilm »Dottie Gets Spanked« (1993) spielt im Amerika der sechziger Jahren vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Umwälzungen und zeigt die in den sauberen Vorstädten lebende weiße Mittelschicht mit ihren (Selbst-)Unterdrückungsmechanismen – ein Milieu, das für das »domestic drama« von Todd Haynes typisch ist. Steve vergräbt die Zeichnung am Ende im Garten, allerdings in Alufolie eingewickelt, vielleicht um sie später wieder auszugraben und an die verbotene Geschichte anzuknüpfen.
»Dottie Gets Spanked« ist der autobiographischste Film des US-amerikanischen Regisseurs Todd Haynes, dem das Filmfest München in diesem Jahr eine umfassende Werkschau gewidmet hat. Beim Publikumsgespräch erzählte der Regisseur, wie er als kleiner Junge und großer Fan von Lucille Ball (deren Sitcom »I Love Lucy« die Vorlage für den Film abgab) eine besondere Leidenschaft für das Zeichnen von Lippen, Wimpern und Fingernägeln entwickelt hat. Die Zeichnungen im Film sind seine eigenen. Haynes’ Beschäftigung mit queerer Identität, die nicht zuletzt sein Melodram »Dem Himmel so fern« (»Far From Heaven«) aus dem Jahr 2002 vorwegnimmt, verbindet die wesentlichen Aspekte des »domestic drama«, das Verhältnis von Liebe und Gesellschaft, von unzensiertem Begehren und sozialer Zensur, mit Themen wie Fantum und Popkultur. Die Popkultur als Projektionsraum ist Thema in seinen Filmen über die Sängerin Karen Carpenter, die Musiker der Glamrock-Ära und Bob Dylan.
Auch die unautorisierte Dokumentation »Superstar: The Karen Carpenter Story« (1987), die Haynes einen Prozess wegen Copyright-Verletzung einbrachte (den er verloren hat), spielt im repressiven Umfeld einer Familie aus der Mittelklasse. Nicht zuletzt ist der Film über die an den Folgen von Anorexie verstorbenen Sängerin, die in den siebziger Jahren gemeinsam mit ihrem Bruder Richard das erfolgreiche Duo The Carpenters bildete, eine Abhandlung über die späte Reagan-Ära. Es geht um konservative Werte, um Fragen weiblicher Identität und um Magersucht als Akt der Unterwerfung und Ausdruck der Rebellion. Haynes inszeniert die Aseptik und Künstlichkeit des Sängerpaars, indem er das Duo von Barbie- und Ken-Puppen darstellen lässt, was zugleich einen Verfremdungseffekt erzeugt. Sichtbar wird der Bruch, der die Gemachtheit und Fiktionalität der Biographie unterstreicht.
Diese Strategie findet sich schon in seinem Debütfilm »Assassins: A Film Concerning Rimbaud« von 1985. Der Film beginnt mit einer an ein Polizeifoto erinnernden Einstellung eines Schauspielers, der für seine Rolle als Arthur Rimbaud zurechtgemacht wird. Die Aufnahme zitiert dabei unübersehbar das berühmte und vielfach reproduzierte fotografische Porträt Rimbauds mit leicht strubbeligem Haar, eines der wenigen, das von dem Dichter existiert und seinem Mythos als Outlaw-Künstler ein Gesicht gegeben hat. Eine Hand kommt ins Bild, zupft an der Frisur und am Jackett herum, während eine Befragung aus dem Off beginnt. Unter anderem werden Gedichte als Beweise für vermeintliche Ereignisse herangezogen, doch eine gewisse Skepsis gegenüber der behaupteten Historizität bleibt (»Do we know this for sure?«), wie überhaupt die gesamte Konstruktion dieses fiktiven Interviews äußerst fragil bleibt, etwa wenn der Schauspieler in seiner Erzählung zwischen »er« und »ich« hin- und herstolpert.
Wie in dem mehr als 20 Jahre später entstandenen Dylan-Porträt »I’m Not There« (2007) ist der Protagonist keine historisch korrekt rekonstruierte und rekonstruierbare Person (»based on a true story«), sondern eine aus Mythen, Legenden und Dichtkunst montierte Figur. Entstanden 1985, als Haynes Semiotik an der Brown University in Providence studierte, sind in diesem frühen »langen Kurzfilm« im Grunde bereits die Positionen, Motive und stilistische Mittel, die für das filmische Werk des Regisseurs charakteristisch sind, enthalten: die Dekonstruktion stabiler, auch geschlechtlicher Identitäten, das Interesse für biographische Erzählungen bei gleich­zeitiger Kritik an der vermeintlichen Objektivität historischer Ereignisse, die Vermischung von Hoch- und Populärkultur, von traditionellen Formen des Erzählens mit narrativen Brüchen wie auch eine smarte, höchst elaborierte Verarbeitung filmischer, musikalischer und literarischer Verweise. Haynes’ Umgang mit filmgeschichtlichen Referenzen unterscheidet ihn dabei fundamental von anderen, im weitesten Sinne »postmodernen« Filmemachern wie etwa Quentin Tarantino. Denn Haynes geht es nicht um das Zelebrieren popkulturellen »Spezialwissens« oder um das bloße Vergnügen am cleveren Zitat, sondern um eine Revision und Aktualisierung existierender Stile und Genres. Er führt sie vor und belebt sie dabei gleichsam von innen.
Mit »Poison« (1991), seinem ersten Langfilm, wurde Haynes zur zentralen Figur des New Queer Cinema. Der Film ist inspiriert von den Arbeiten Jean Genets, dessen literarisches und filmisches Werk um die existentielle Erfahrung menschlicher Grenzüberschreitung kreist. »Poison« verbindet drei Geschichten, die in sehr unterschiedlichen visuellen Stilen erzählt werden, als Crime-Doku, als Horror-B-Movie der fünfziger Jahre und als teils sehr campy anmutendes Melodram. Die Geschichte um einen Mad Scientist, der bei der Erforschung des Sexualtriebs versehentlich ein Serum schluckt und eine Epidemie auslöst, ist vor allem eine Abhandlung über Aids und die damit verbundene Stigmatisierung von Homosexualität. Haynes, der in den neun­ziger Jahren in der Aids-Bewegung aktiv war, bearbeitete das Thema Krankheit auch in dem verstörenden Horrorfilm »Safe« (1995).
»Velvet Goldmine« (1998) ist eine Hommage an die Glamrock-Ära der frühen siebziger Jahre in London, an Musiker wie David Bowie, Lou Reed, Iggy Pop und Brian Ferry, die mit ihren glamourösen Auftritten und queeren Inszenierungen bestehende Vorstellungen von Sexualität und Identität durcheinander brachten. Auch hier entschied sich Haynes konsequent gegen die konventionelle Rekonstruktion von Geschichte, arbeitet mit Rückblenden, Traumsequenzen und Musikclips und lässt seine Protagonisten in verschiedenen Identitäten auftreten.
Mit dem Film »Far From Heaven« (2002), den Haynes im Gespräch in München als seine »disziplinierteste« Bearbeitung des »domestic drama« bezeichnete, wandte er sich mit formaler Sorgfalt und Stringenz dem lange Zeit als Heulstück geschmähten Melodram zu. Haynes bezieht sich wie Rainer Werner Fassbinder, dessen Film »Angst essen Seele auf« (1974) als eine Re­ferenz durchscheint, auf die Melodramen Douglas Sirks, insbesondere auf »All That Heaven Allows« (1955). Julianne Moore verkörpert in dem Film eine perfekte Hausfrau, deren Bilderbuch-Leben kollabiert, als sie entdeckt, dass ihr Mann schwul ist, und sie sich in einen schwarzen Gärtner verliebt. Ähnlich wie Sirk entdeckt auch Haynes das gesellschaftskritische Potential eines bürgerlichen und banalen Genres. »Far From Heaven« ist jedoch mehr als eine kritische Reflexion über Rassismus, Homophobie und Klassenkonflikte in den USA der fünfziger Jahre. Indem der Film permanent von der Unterdrückung von Begehren erzählt, wird Gefühlen gleichzeitig eine sehr explizite und radikale Form zugeschrieben.
In »Mildred Pierce«, das im vergangenen Jahr als fünfteilige Miniserie für den amerikanischen TV-Sender HBO entstanden ist, verfolgt Haynes einen gänzlich anderen Ansatz als bei der Sirk-Adaption. Das auf dem Roman von James M. Cain basierende Melodram über den sozialen Ab-, Auf- und Wiederabstieg einer alleinerziehenden Mutter während der amerikanischen Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre ist weder eine explizite Genreaneignung oder ein Pastiche, noch nimmt es auf die Romanverfilmung von Michael Curtiz aus dem Jahr 1945 und seinen ikonischen Star Joan Crawford Bezug. Die Serie beginnt mit dem Bild der Teig ausrollenden Kate Winslet – wie überhaupt der Darstellung von Arbeitsvorgängen viel Aufmerksamkeit eingeräumt wird –, doch ein »kitchen sink«-Drama ist »Mildred Pierce« deshalb noch lange nicht. Die Perspektive bleibt durchgehend distanziert, die Farbpalette ist gedeckt, ohne jemals in die Nähe der für Sozial­dramen typischen Schmutzigkeit und Tristesse zu geraten. Im Zentrum von Haynes’ Adaption stehen die familiären und ökonomischen Verhältnisse und die Aufstiegshoffnungen der Mittelklasse. Um ihrer Tochter Veda ein besseres Leben zu ermöglichen und ihren sozialen Aufstieg zu finanzieren, rackert sich Mildred ab, zunächst als Bäckerin, dann als professionelle Lieferantin des »pie waggon« und schließlich als Chefin einer Restaurantkette, um dann von der nach Höherem strebenden Tochter für ihr fleißiges Mittelklasse-Geschufte tief verachtet zu werden. »Mildred Pierce« mag stilistisch und erzählerisch die konventionellste Arbeit des Regisseurs sein, doch wie er das Familiendrama mit dem Klassenkonflikt verbindet, ist alles andere als etabliertes Kino. Haynes hat Cains Roman zu Beginn der Finanzkrise im Jahr 2008 gelesen, und wenn man sich die kaputten, durch wirtschaftlichen Ruin gezeichneten Mittelklasseexistenzen ansieht, kann man darin ähnliche Identitätskrisen entdecken wie in »Mildred Pierce«.