Die Debatte über die Beschneidung

Recht vor Glaube!

Religiöse Praktiken können nicht über der Verfassung stehen, und in der ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit festgeschrieben. Die positivistische Rechtsauffassung des Kölner Gerichts in seinem Beschneidungsurteil zieht eine zwingende Lehre aus der deutschen Geschichte.

In der Debatte um das Kölner Beschneidungsurteil vergessen Journalisten, wie man recherchiert, und Politiker, dass sie sich dem Grundgesetz verpflichtet haben. Im Namen religiöser Toleranz fordern sie die Einschränkung des Kindswohls. Sie haben dafür gute Gründe. Aber mit dem Verdrehen und Verschweigen von Fakten ist niemandem gedient. Das Kölner Landgericht argumentiert in seinem Urteil zur rituellen Beschneidung von Jungen verfassungsrechtlich korrekt. Das Entfernen der Vorhaut am männlichen Genital ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Daran kann kein Zweifel bestehen – egal ob man Komplikationen bei diesem Eingriff für zu vernachlässigen hält oder ob man regelmäßig negative Folgen erwartet.

Die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Grundgesetz) ist verfassungsrechtlich gewichtiger als die Glaubensfreiheit (Art. 4) und das daraus abgeleitete Erziehungsrecht der Eltern zum Glauben. Wäre es umgekehrt, wären jegliche religiös begründete Riten erlaubt, egal ob sie mit dem Grundgesetz übereinstimmen oder nicht.
Das wäre der Fall, wenn das Urteil aus erster Instanz Bestand hätte. Die Richter des Kölner Amtsgerichts nämlich urteilten, die Nicht-Beschneidung könne zu einer Stigmatisierung führen. Das Gleiche ließe sich über die weibliche Genitalverstümmelung feststellen. Eltern könnten anführen, dass ihre Tochter in ihrer Religionsgemeinschaft ausgegrenzt werde, wenn sie zum Schwimmunterricht gehe, vielleicht sogar, wenn sie überhaupt die Schule besuche.
Gleichwohl haben Kommentatoren und Politiker in den vergangenen Wochen fast ausnahmslos das Urteil mit dem Argument vom Tisch gewischt, die betroffenen Religionen gehörten geschützt. Es scheint, als wäre sämtlichen Meinungsmachern entfallen, wie Recht funktioniert: nämlich allgemein und abstrakt. Richter in einem Rechtsstaat können nicht urteilen, dass die körperliche Unversehrtheit von muslimischen und jüdischen Jungen weniger wiegt als die Religionsfreiheit der Eltern, bei muslimischen Mädchen es sich aber umgekehrt verhält.
Zweifellos wiegt die weibliche Genitalverstümmelung weit schwerer als die männliche Beschneidung. Aber ganz ohne Folgen ist auch diese nicht. In den USA, wo vor 30 Jahren auch die Mehrzahl der Christenjungen beschnitten wurde, gibt es seit langem eine Debatte über die Folgen des Eingriffs. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen nennen als häufigste Komplikationen der männlichen Beschneidung schwere Blutungen, Blutvergiftung und Entzündungen. Die Zeitschrift Psychology Today schreibt, dass in den USA über 100 Babys pro Jahr an diesen Folgen sterben. Einer kalifornischen Studie an beschnittenen Männern zufolge, veröffentlicht im British Journal for Urology International, klagten 27 Prozent über unangenehme Gefühle bei der Erektion, bei 16 Prozent erigierte der Penis gekrümmt, weil die Vorhaut ungleichmäßig entfernt worden war, 17 Prozent hatten Schmerzen und Blutungen bei der Erektion. Andere Wissenschaftler geben zu bedenken, dass sich in der Vorhaut mehr als 20 000 Nervenenden befinden, und stellen eine Verringerung des sexuellen Lustempfindens fest. Hinzu kommen psychische Folgen, die bis zur Impotenz führen können.

Doch die Journalisten dieses Landes scheinen in einen Rechercheboykott getreten zu sein. Obwohl sich solche Studien leicht finden lassen, berichten die Medien fast unisono, der Eingriff sei unbedenklich. Die journalistische Sorgfaltspflicht würde es zumindest gebieten, die Kritiker zu erwähnen.
In deutschen Zeitungen ist zu lesen, die Mehrzahl der US-Amerikaner würden ihre Jungen beschneiden. Tatsächlich ist die Beschneidungsrate in den USA von 85 Prozent in den siebziger Jahren auf derzeit nur mehr 30 Prozent gefallen. Deutsche Zeitungen behaupten, 100 Prozent der männlichen Israelis seien beschnitten, während die israelische Tageszeitung Haaretz berichtet, immer mehr israelische Eltern schreckten aus gesundheitlichen Bedenken vor einer Beschneidung zurück.
Kein relevantes Blatt recherchierte die klaren Ansichten der Organisation Jews against Circumcision (Juden gegen Beschneidung). Niemand fragte, warum die prominenteste ägyptische Feministin Nawal al-Sadawi, Muslimin und Ärztin, sich dem Kampf gegen weibliche wie männliche Genitalverstümmelung verschrieben hat.
Immerhin durfte in der Taz der Iraker Najim Wali schreiben, wie traumatisch Beschneidungen sein können und welche Spätfolgen dieses Trauma haben kann. In der Welt brach Alan Posener eine Lanze für die Freiheit und gegen den Zwang der Religionen. Beide sind Betroffene – wenn auch Posener durch eine Entscheidung seines Vaters der Beschneidung entging.
Auffällig ist, dass man offenbar Muslim oder Jude sein muss, um in einer großen Zeitung Partei für das Kölner Urteil zu ergreifen. Das unbeschnittene deutsche Feuilleton dagegen schlug sich fast geschlossen in die Bresche, um die Religionsfreiheit der Eltern gegen das Kindswohl zu verteidigen.
Ihre Verteidigung der Beschneidung ist gewiss gut gemeint. Antisemitismus hat sich lange vor dem Nationalsozialismus gerade auch an diesem Ritual entzündet. Wenn nun eine Mehrheit der Bevölkerung ein Verbot der Beschneidung gutheißt – wie das Ergebnis einer Leserumfrage der Taz und Leserkommentare bei anderen Publikationen nahelegen – dann muss man fragen, ob nicht eben dieser antisemitische Reflex wiederbelebt wird. Denn die Masse der Leser wird kaum die wissenschaftlichen Argumente gegen Beschneidung recherchiert haben, die die Redakteure ihnen vorenthalten. Gegen antisemitische Reflexe anzuschreiben, ist notwendig. Dabei Logik, Rechtskenntnisse und die Pflicht zur Recherche zu verletzen, schadet jedoch der aufklärerischen Absicht.
Bedenklich ist vor allem, wenn ein sorgfältig mit der Verfassung begründetes Urteil als barbarisch abgetan, dem Kölner Gericht gar Antisemitismus unterstellt wird. Die positivistische Abwägung des Gerichts stellt gleiches Recht für alle fest und verneint Gruppensonderrechte, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar wären. Das ist das Gegenteil jedweder rassistischen Ideologie. Das Kindswohl des muslimischen und des jüdischen Kindes ist nach dem Urteil genauso zu schützen wie das aller Kinder.
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf das sich die Argumentation des Gerichts stützt, verdankt seine Aufnahme in den Grundrechtekatalog an höchster Stelle den Lehren aus der deutschen Geschichte. Es ist eine Reaktion auf die Verbrechen der Nazizeit wie Zwangssterilisationen und Menschenversuche. Deswegen unterliegt es dem Parlamentsvorbehalt. Das heißt, auch das Bundesverfassungsgericht könnte nicht anders entscheiden, sondern nur dem Bundestag auftragen, ein Gesetz zu erlassen, das die rituelle Beschneidung regelt.

Gleichwohl stößt das Urteil auf einen Widerspruch. Der muss in der Debatte offen benannt werden. Die deutsche Geschichte gebietet es, alles zu unternehmen, um jüdisches Leben in Deutschland zu ermöglichen. Sie gebietet besondere Rücksichtnahme auf die Empfindungen und Bedürfnisse religiöser Minderheiten, auch der Muslime. Zugleich ist aber auch die positivistische Rechtsauffassung des Kölner Gerichts zwingende Lehre aus der deutschen Geschichte. Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen. Er verschwindet nicht, wenn man wissenschaftliche Fakten ignoriert und behauptet, die körperliche Unversehrtheit sei gar nicht so richtig berührt. Er löst sich auch nicht auf, wenn man nur für dieses eine Mal die Verfassung auf den Kopf stellt und behauptet, die Religionsfreiheit sei höher zu bewerten. Eine Auflösung verspräche allein die Änderung des Rituals. Die Gruppe Jews Against Circumcision fordert das und schlägt Eltern vor, statt der Beschneidung ein alternatives Namensgebungsritual zu feiern, die Bris Schalom.
Doch kann in Deutschland ein solcher Wandel nicht von außen aufgezwungen werden. Die Lösung durch eine Hilfskonstruktion liegt nahe. Der Bundestag könnte wie bei der Abtreibung die Kindesbeschneidung als rechtswidrig, aber nicht strafbar erklären. Ein solches Gesetz wird kommen, ersetzt aber nicht die ehrliche Debatte. Denn Bestand hätte das Gesetz ohnehin nur, bis der erste beschnittene Mann dagegen klagt und argumentiert, sein Recht auf körperliche Unversehrtheit sei dadurch verletzt.
Die künftigen Kläger gegen ein solches Gesetz hätten alles Recht, das Verschweigen und Verdrehen von Fakten in der jetzigen Debatte anzuprangern, und zu fragen, ob dadurch eine Schlechterbehandlung jüdischer und muslimischer Kinder nicht nur zugelassen, sondern gerade gewollt wurde.