Proteste gegen Olympia in London

»Von Olympia haben wir nichts«

Unter den Einwohnerinnen und Einwohnern von London ist die Stimmung während der Olympischen Spiele wenig feierlich. Ein Besuch der Stadtteile, die unmittelbar am Olympiapark liegen.

Möglicherweise ist es der provokative Name, der die Dame so wütend macht. »Counter Olympics Network« steht auf dem Banner, das die rund 500 Demonstrantinnen und Demonstranten vor sich hertragen, als sie die Mile End Road entlangmarschieren. Auf jeden Fall ist die Anwohnerin aufgebracht. »Es gibt einfach immer Leute, die sich beklagen müssen«, schimpft sie, als der Demons­trationszug an ihr vorbeizieht. Dabei sei es doch phantastisch, dass die Olympischen Spiele in London stattfinden, sie wisse gar nicht, was es da­ran auszusetzen gebe.
Die Demonstrierenden, die sich am Tag nach der Eröffnungszeremonie im östlichen Bezirk Tower Hamlets zum Protest versammelt haben, sind ganz anderer Meinung. Mit dem Sportereignis an sich haben die meisten gar kein Problem. Sie stören sich vielmehr an den großen Sponsoren: »Die Olympics sind für große Unternehmen ein Mittel geworden, um riesige Gewinne einzustreichen und vergessen zu machen, was sie alles verbrochen haben«, sagt der 37jährige Tom Shephard aus dem benachbarten Greenwich. Ein Beispiel ist der Energiekonzern BP, der sein Image als Umweltverschmutzer loswerden will, was besonders seit der Ölkatastrophe der Deepwater Horizon von 2010 im Golf von Mexiko eine schwierige Aufgabe sein dürfte. Olympia kann helfen: BP stellt Treibstoff für 5 000 offizielle Fahrzeuge zur Verfügung und darf sich sogar »Nachhaltigkeitspartner« der Olympischen Spiele nennen. Laut einer Meinungsumfrage hat sich das öffentliche Bild des Konzerns dadurch bereits verbessert. Kritisiert wird auch das Bergbauunternehmen Rio Tinto, dem immer wieder Verstöße gegen Umwelt- und Arbeitsschutzbestimmungen auf der ganzen Welt vorgeworfen werden. Das Metall für die 4 700 Olympiamedaillen stammt von dem britisch-australischen Konzern.

Für viel Hohn sorgt die Tatsache, dass ausgerechnet McDonald’s offizieller Sponsor der Olympischen Restaurants ist. Nicht nur Gesundheitsverbände haben das kritisiert. Sogar Jacques Rogge, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, gab zu, dass das Sponsoring durch McDonald’s angesichts der zunehmenden Fettleibigkeit vieler Briten »fragwürdig« sei.
Unterdessen stellt die amerikanische Fast-Food-Kette sicher, dass Olympiabesucher kein Essen von der Konkurrenz bekommen: Pommes Frites dürfen an den olympischen Austragungsorten nur von McDonald’s verkauft werden – es sei denn, sie werden in Kombination mit Fisch serviert.
»Zwar mögen einige lokale Geschäfte vom Besucherandrang profitieren«, sagt Shephard, »aber das, was sie als Steuerzahler zu den Olympischen Spielen beitragen, macht das mehr als wett.«
Tatsächlich sind die Spiele zum großen Teil öffentlich finanziert: Mehr als neun Milliarden Pfund zahlt der Staat, während die Sponsoren knapp 1,4 Milliarden beisteuern (das Budget für die Spiele war ursprünglich etwa viermal niedriger als die tatsächlichen Kosten). Dafür haben sie exklusive Rechte auf das Olympische Logo, den Ausdruck »London 2012« und das Wort »Olympic«. Das olympische Komitee setzt eigens eine »Markenpolizei« ein, um unrechtmäßige Verwendungen dieser Begriffe zu ahnden. In Stratford gibt es zum Beispiel ein Café, das früher »Olympic« hieß, bevor der erste Buchstabe dem Eifer der Markenpolizei zum Opfer fiel – jetzt es heißt »Lympic«. »Die Londoner sind für die Veranstalter nicht Teil dieses Ereignisses, sondern eher ein lästiges Hindernis«, meint Derek Sansom.
An einem sonnigen Nachmittag kurz vor Beginn der Spiele stehen er und rund ein Dutzend anderer Radfahrer vor einem Metallgitter, das ihnen den Weg versperrt, und bereiten ein Protest-Grillfest vor. Der Leinpfad am River Lea, der am östlichen Rand des Olympiaparks entlang fließt, ist während der Spiele gesperrt – aus Sicherheitsgründen. Radfahrer wie Sansom müssen jetzt einen großen Umweg machen und die Hauptverkehrsstraßen entlangradeln, was im Londoner Verkehr nervenaufreibend und nicht selten gefährlich ist. »Das Schließen eines öffentlichen Verkehrswegs, der gerade zum Olympiastadion führt, wo die Leute schnell hinkommen wollen, zeigt, dass die Veranstalter kein Vertrauen in ihre eigene Methoden haben«, sagt Sansom. »Das erhöht doch nicht die Sicherheit. Das Hindernis kann man leicht umgehen. Aber die anständigen Bürgerinnen und Bürger, die den Rat der Veranstalter befolgen und zu den Spielen radeln wollen, werden so behindert.«
Selbstverständlich weiß auch der 48jährige Sansom, dass die zwei uniformierten community supporters, die er zur Öffnung des Radwegs auffordert, nichts ausrichten können, auch wenn sie wollten. Dennoch werde er auch nächstes Wochenende wieder hier sein, um zu protestieren.
»Dabei habe ich mich auf die Spiele gefreut und die Kandidatur Londons unterstützt«, sagt er, »aber die Anwohner haben nichts davon gehabt, außer ein absurdes Lotteriesystem«, über das sie überteuerte Tickets kaufen können. »Ich habe das Gefühl, dass die Veranstalter mit der Dampfwalze über die lokale Bevölkerung fahren, um eine Privatparty zu veranstalten.«

Die Dampfwalze ist auch etwas weiter nördlich angerollt. Leyton Marsh ist ein ausgedehntes Grüngebiet im Tal des River Lea, das an eines der wenigen Naturschutzgebiete in der britischen Metropole grenzt. Als die Veranstalter der Olympiade vor drei Jahren nach einem Übungszentrum für Basketball suchten, bewilligte die verantwortliche Lokalbehörde den Bau eines temporären dreistöckigen Gebäudes mitten in der Marsch – doch die Öffentlichkeit wurde erst im vergangenen Dezember informiert. »Die Bevölkerung hat Einspruch eingelegt, ist aber völlig ignoriert worden«, sagt Elke Heckel, eine gebürtige Deutsche, die schon seit Jahrzehnten in London wohnt und sich an der Kampagne »Save Leyton Marsh« beteiligt. Eine Petition gegen den Bau des Zentrums, die von 1 250 Menschen unterschrieben wurde, hat die Olympic Delivery Authority jedoch nicht beeindruckt. »Auch unsere gerichtliche Klage wurde abgewiesen«, fährt Heckel fort, »die 20 000 Pfund Gerichtskosten sollen wir jetzt auch noch tragen«, was in solchen Fällen sehr unüblich sei. »Das sind klare Einschüchterungsversuche gegen weitere Proteste.« Als Aktivisten im Frühjahr ein Sit-in auf dem Gelände organisierten, schritt die Polizei ein und verhaftete vier von ihnen. Jetzt, da das Basketballzentrum steht, wollen die Initiatoren der Kampagne erreichen, dass das Grundstück nach Abbruch der Anlage wieder in Grünland verwandelt und an die Allgemeinheit zurückgegeben wird – die Aktivisten fürchten, dass die verantwortliche Behörde einfach ein neues Gebäude errichten könnte, diesmal dauerhaft. Aber Heckel geht es auch darum zu zeigen, wie undemokratisch der Bau vonstatten ging: »Da sind ziemlich üble Sachen abgelaufen. Grundrechte sind einfach aufgehoben worden.«
Dass die Behörden unduldsam auf Proteste gegen Olympia reagieren, erfuhren sechs Aktivisten, die eine Woche vor Beginn der Spiele gegen die Sponsoren BP, Dow Chemical und Rio Tinto demonstriert hatten. Sie stellten sich vor der Olympischen Uhr auf dem Trafalgar Square auf, nahmen selbstgebastelte Goldmedaillen als Auszeichnung für die schlechtesten olympischen Sponsoren entgegen, und schütteten sich gefärbte Vanillecreme über den Kopf – was die durch die Sponsoren verursachte Umweltverschmutzung symbolisieren sollte. Die Polizei verhaftete sie kurzerhand wegen Sachbeschädigung (Vanillecreme auf dem Pflaster) und hielt sie mehrere Stunden lang fest.
Überhaupt wird Sicherheit in London ernst genommen. Und Sicherheit umfasst mehr als abgesperrte Leinpfade. Nebst einem Kriegsschiff auf der Themse, Drohnen, Kampfjets und Militärschnellbooten sollen 18 000 Soldatinnen und Soldaten für Sicherheit sorgen, genauso wie Boden-Luft-Raketen. Das Dach eines Wohnhauses im Stadtteil Bow, rund drei Kilometer von Sansoms Protest-Barbecue entfernt, ist einer von sechs Standorten im Umkreis des Olympiaparks, an denen das Verteidigungsministerium solche Waffen installiert hat – ohne die Bewohnerinnen und Bewohner vorher zu konsultieren. Kurz nach Bekanntwerden der Pläne verfassten diese eine Petition, um die Stationierung zu unterbinden. Darin wurde darauf hingewiesen, dass die Raketen, deren Reichweite wenige Kilometer beträgt, im Ernstfall über dicht bewohnten Gebieten zum Einsatz kämen. Zudem finden sie die Anwesenheit bewaffneter Soldaten und gefährlicher Ausrüstung mitten in Wohngemeinschaften arg bedenklich. Der Wohnverein eines Blocks im östlichen Leytonstone, auf dem ebenfalls eine Batterie steht, wollte die Entscheidung des Verteidigungsministeriums gerichtlich anfechten, doch ihr Antrag wurde kurz vor Beginn der Spiele abgewiesen.

Auch in Tom Shephards Wohnbezirk Greenwich, südlich der Themse, steht eine Raketenbatterie – aber ein Gefühl der Sicherheit gibt ihm die Militärpräsenz nicht. Derek Sansom empfindet all die Sicherheitsvorkehrungen als eine Farce: »Ich fühlte mich vorher keineswegs unsicher, und jetzt komme ich mir selbst wie ein Sicherheitsproblem vor, das eingedämmt werden muss.«
Familienvater Pedro Reyna, der heute auch beim Grillprotest dabei ist, stimmt zu. Er betrachtet die Olympischen Spiele einfach nur als lästig. Er wohnt direkt am Ufer des River Lea, in unmittelbarer Nähe des Olympiaparks, und er hat sich sehr auf die Spiele gefreut – »naiverweise«, wie er heute sagt. Er ist einer der glücklichen Ostlondoner, die Tickets ergattert haben, aber seinen Enthusiasmus für die Veranstaltung hat Reyna mittlerweile verloren: »Es ist nicht nur so, dass die lokale Bevölkerung gar nichts von den Spielen hat – die Olympics schaden uns.« Reyna klagt über Helikop­terlärm, der die ganze Nacht lang anhält, über die Verkehrseinschränkungen, über leere Versprechungen bezüglich der »Aufwertung« seines Viertels. »Sie sagten, sie würden die Fahrradwege ausbessern, aber die einzigen, die renoviert wurden, sind die rund um den Olympiapark. Ein Freund von mir hat sich vor kurzem eine Rippe gebrochen und die Schulter ausgerenkt, weil er auf dem schlechten Radweg gestürzt ist.«

Am anderen Ende des Olympiaparks, in Stratford, spricht man ebenfalls von Aufwertung. Hier soll das Carpenters Estate, das das Olympiastadion überblickt, einem Universitätscampus weichen. Auf den Besucher macht die Sozialbausiedlung aus dem Jahr 1968 einen etwas verwahrlosten Eindruck. Carpenters Estate besteht aus mehreren Straßen mit Reihenhäusern, zwischen denen drei Hochhäuser emporragen. Menschen sieht man an diesem Samstagnachmittag kaum. Ein Mann sitzt einsam vor dem lokalen Pub und trinkt ein Lagerbier. Ein Gespräch lehnt er unwirsch ab.
Seit Jahren ziehen immer mehr Menschen vom Estate weg, viele Wohnungen stehen schon lange leer. Nach den Olympischen Spielen will die Lokalbehörde die Siedlung endgültig abreißen. Für den Bürgermeister von Newham ist der geplante Campus eine Bereicherung für das ganze Quartier. Mit dem University College London würde nämlich eine führende Universität in den Stadtteil ziehen, die der Jugend Jobs in den Bereichen Technik und Wissenschaft verschaffen könnte. Doch nicht alle sind begeistert. Die Gruppe »Carpenters Against Regeneration Plans« meint, dass hier bereits eine Gemeinschaft bestehe und gut funktioniere. Es gebe keinen Grund, etwas Neues aufzubauen – nur investieren müsse man.
Ein Mann mittleren Alters, der vor dem lokalen Laden auf seine Ehefrau wartet, hält ebenfalls wenig von den Abrissplänen. Seine 76jährige Schwiegermutter, die sie gerade besuchen, wohne seit über 40 Jahren hier: »Wo soll sie nach so einer langen Zeit ein neues Zuhause aufbauen? Viele Bewohner können sich auch gar nicht leisten, umzuziehen«, sagt er. »Das Problem ist, dass die Lokalbehörde seit Jahren kein Geld mehr in die Siedlung investiert, da ist es kein Wunder, dass sie so schäbig aussieht.« Seine Frau wird noch deutlicher: Das ganze Gerede vom langfristigen Nutzen, der die Spiele für die Anwohner bringen sollte, sei Unsinn: »Davon sehen wir hier nichts. Das Geld wird dort investiert, wo es für die Besucher sichtbar ist.«
Was die beiden allerdings als sehr angenehm empfinden, ist der Verkehr während der Spiele – denn der unterbleibt weitgehend. Das große Chaos auf den Straßen Londons ist bis jetzt nicht ausgebrochen. Touristen scheinen weggeblieben zu sein, während die Anwohner offenbar in Massen das Weite gesucht haben – was unter anderem bedeutet, dass sich für lokale Unternehmen kein Geldsegen eingestellt hat. Laut einem Bericht der BBC sind die Besucherzahlen in Geschäften im Stadtzentrum seit der Eröffnung der Olympischen Spiele um rund 10 Prozent gesunken, und Touristenattraktionen verzeichnen sogar ein Drittel weniger Besucher. Hotels, die ihre Preise eigens für die Zeit der Spiele heraufgesetzt hatten, klagen schon seit Wochen über fehlende Gäste.
»Die normalen Londoner haben so gut wie nichts von den Olympischen Spielen«, sagt auch das Ehepaar auf dem Carpenters Estate, bevor es sich verabschiedet. Auf der Südseite der Hochhäuser sind riesige Reklametafeln für Gillette aufgehängt worden. »Nothing beats a great start«, steht unter dem Bild eines durchtrainierten Athleten, »Nichts geht über einen guten Start.« Die Bewohner des Carpenters Estate, wie auch viele andere Londoner, werden sich eher fragen, ob Olympia für sie ein gutes Ende nehmen wird.