Porträtieren eine Künstlergruppe aus Novosibirsk

Gehirne für das Volk

Mit Nonsens-Plakaten auf die Mai-Kundgebung: Masha Kiselyova und Artëm Loskutov sind Mitglieder der Künstlergruppe Kissmybabushka in Novosibirsk. Beide unterstützen die Proteste gegen die Inhaftierung der Musikerinnen von Pussy Riot. Von Simon Fronemann und Birgit Ziener

Eigentlich müsste jeder normale Mensch jeden Tag auf die Straße gehen, um gegen die Inhaftierung von Pussy Riot in Russland zu protestieren und seine Unterstützung zu zeigen. Zumindest jeder, der nicht meint, noch im Mittelalter zu leben«, sagt Masha Kiselyova, »aber unglücklicherweise gibt’s in Russland nicht so viele normale Menschen. Der allgegenwärtige Nationalismus und Chauvinismus hat die Leute verrückt gemacht.« Masha Kiselyova gehört wie Artëm Loskutov zur Künstlergruppe Kissmybabushka in der 1,5 Millionen Einwohner zählenden Stadt Novosibirsk. Der Name der Gruppe, Kissmybabushka, bedeutet so viel wie »Die Oma nach dem Begräbnis«.
Für die beiden Aktionskünstler ist es selbstverständlich, die Frauen von Pussy Riot in der jetzigen Situation zu unterstützen. Man kennt sich in Russlands überschaubarer politischer Künstlerszene, hat gemeinsam an Aktionen teilgenommen und bezieht sich aufeinander, auch wenn Tausende Kilometer zwischen Moskau und Novosibirsk liegen.
Wie die feministische Punkrockband sind auch Kissmybabyshka immer wieder von den russischen Behörden drangsaliert worden. 2009 musste Artëm Loskutov für einen Monat ins Gefängnis, nachdem er sich wiederholt geweigert hatte, mit Beamten des Zentrums für Extremismusbekämpfung des Innenministeriums zu sprechen. Er ließ sich auch von der Drohung, man werde sein Leben ruinieren, nicht einschüchtern. Milizionäre in Zivil verhafteten ihn daraufhin und nutzten die Gelegenheit, um ihm Marihuana unterzuschieben. Loskutov ging ins Gefängnis, und die Mitglieder von Pussy Riot sammelten in Moskau Geld für den inhaftierten Künstlerkollegen. Jetzt sind es die Aktivisten von Kissmybabushka, die in Novosibirsk Zeichen der Solidarität mit den inhaftierten Frauen von Pussy Riot setzen. Auf Werbetafeln bringen sie ihre Plakate an, auf denen die Mutter Gottes mit einer Pussy-Riot-Maske abgebildet ist, oder verteilen T-Shirts mit dem Motiv. Solche Aktionen sind für die an eine autoritätshörige Bevölkerung gewöhnte Polizei und Administration ein neues Phänomen und erscheinen deshalb als gefährlich.
Den sibirischen Kunstaktivisten geht es um eine neue Protestkultur. »Das Absurde der Macht kann nur mit Absurdem beantwortet werden«, lautet das Credo von Kissmybabushka, deren Antwort die Erfindung der »Monstration« war, eine Demonstration ohne Sinn, die irritieren und stören soll. Im Jahr 2004 beteiligten sich die Aktivisten zum ersten Mal an den traditionellen, von Nationalbolschewisten und Stalinisten dominierten Demonstrationen zum 1. Mai. Mit Transparenten mit sinnlosen Forderungen wie »Alle Macht den Waschbären!«, »Gehirne für das Volk!« oder »Spülen Sie, wenn Sie fertig sind!« reihten sie sich in den Schilderwald der organisierten Parteikommunisten ein. Im ersten Jahr wurde die kleine Gruppe am Ende des Protestzuges geduldet. Nach und nach kamen Tausende hinzu, so dass die Gruppe immer größer wurde und bald auch forderte, eine politische Demonstration auf dem zentralen Leninplatz abzu­halten.
Artëm Loskutov wurde für die Aktionen der Künstlergruppe, die die absurden politischen Verhältnisse abbilden, kürzlich mit dem renommierten Innovationspreis des russischen Ministeriums für Kultur ausgezeichnet. Dass der Preis an ihn ging, ist allerdings wohl eher einem Zufall zu verdanken, als dass es Ausdruck einer gesellschaftlichen Wertschätzung wäre. Die Erfindung der »Monstration« wird mit einem Preis bedacht, obgleich die Stadtverordneten im Moment nichts lieber täten, als die karnevaleske Aneignung des öffentlichen Raums als Unruhestiftung zu verfolgen.
Auch wenn die Gruppe der »Monstranten« am 1. Mai viel Zulauf hat, haben Kissmybabushka in Novosibirsk doch nicht allzu viele verlässliche Verbündete, geschweige denn, dass sie auf eine politische Infrastruktur bauen könnten. Es gibt weder Werkstätten, wo die Künstler arbeiten, noch Orte, an denen sie ausstellen könnten. Selbst einen Raum für ein Solidaritätskonzert für Pussy Riot zu finden, gestaltet sich momentan schwierig. Der Anruf eines Putin-Getreuen reicht, um einen potentiellen Vermieter zur Absage zu bewegen. So sind die Aktionen von Kissmybabushka oft eine Art Test für das, was geht oder nicht geht. Ihre Beobachtungen und Recherchen zu staatlichen Repressionen und polizeilichen Anordnungen werden von Kiselyova und Loskutov auf dem Blog kissmybabushka.com öffentlich gemacht. Wie die Perfomances und die Kunstinstallationen im öffentlichen Raum ist das Internet ein wichtiges Instrument der politischen Arbeit. Für die Aktivisten in Sibirien ist die nationale und globale Vernetzung besonders wichtig, schließlich ist Novosibirsk nicht gerade das Zentrum der Bewegung. Viele ziehen deshalb auch nach Moskau oder ins Ausland, nicht wenige gehen nach Berlin. Masha Kiselyova und Artëm Loskutov beobachten, wie die Szene mehr und mehr vereinzelt. Man übt sich in Selbstmotivation. Auch Loskutov würde dem Smog der sibirischen Metropole gerne entkommen, zumindest für einige Zeit. Er hat sogar ein Stipendium für eine Vorlesung in Berlin bekommen, kann aber nicht ausreisen, weil die Polizei seinen Pass seit zwei Jahren einbehält.
Die Künstler begrüßen das weltweite Medieninteresse an dem Prozess gegen Pussy Riot, dennoch wissen sie um die Kehrseite des Presserummels. Die Mitglieder der Punkband sind die derzeit prominentesten Opfer des Systems. Die weniger spektakulären Fälle geraten darüber schnell in Vergessenheit. Kiselyova erinnert daran, dass die Repression gegen Pussy Riot kein Einzelfall ist. »Der Politisierung durch die landesweiten Demonstrationen gegen die Manipulation der Parlamenstwahlen 2011 ist damals mit Verhaftungen begegnet worden«, sagt sie. »Viele warten nach wie vor auf ihren Prozess, man hört nichts über sie, und der Erfolg Putins hat die Proteste zusätzlich demotivieren können. Der kurze Frühling der Selbstermächtigung scheint vorbei zu sein.«