Juliane Rebentisch im Gespräch über Politik und Spektakel

»Eine antitheatrale Demokratie käme ihrem Ende gleich«

Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, verteidigt die Theatraliät der Demokratie gegen den Vorwurf, das Spektakel habe die Politik ersetzt.

Sie gehen in Ihrem Buch »Die Kunst der Freiheit« dem Begriff der Ästhetisierung nach, und zwar aus der Perspektive der politischen Philosophie. Die Ästhetisierung reiche bis »in die Tiefenstruktur unseres ethischen Selbstverständnisses wie unserer politischer Kultur hinein«. Die Inszenierungen von Po­litikern wie Gerhard Schröder, Bill Clinton, Nicolas Sarkozy oder Silvio Berlusconi lassen Kritiker von einer Wiederkehr der Spektakelgesellschaft sprechen. Nicht nur die Inszenierung, sondern die Ästhetisierung an sich steht unter Verdacht. Was ist der Grund dafür?
Man geht davon aus, dass die genannten Beispiele alle Symptome einer problematischen Entwicklung sind, die unter den Titel der »Ästhetisierung« oder auch der »Spektakularisierung« des Politischen gestellt wird, und man versteht darunter, dass die Politik sich im Zuge dieser Entwicklung zu ihrer eigenen Darstellung depotenziert: Wichtig sollen weniger die jeweiligen politischen Inhalte oder das politische Handeln sein denn die Weisen, wie sich die Politiker inszenieren. Die Klage über die Ästhetisierung des Politischen ist mit anderen Worten eine Klage über dessen Entpolitisierung. Aber es lohnt sich, hier genauer hinzusehen. Der Umstand, dass Berlusconi die demokratisch wichtige Differenz zwischen politischer Macht und Medienmacht nivelliert hat, liegt beispielsweise auf einer anderen Ebene als die Versuche von Schröder, Sarkozy oder Clinton, den Machtfaktor Charisma in die jeweilige Amtszeit zu retten.
An der Unterschiedlichkeit dieser Versuche bestätigt sich, was Max Weber über die charisma­tische Herrschaft sagt: Dass sie nie rein auftritt, sondern an die (Mit-)Darstellung spezifischer Inhalte und an den ständigen Beweis zustimmungsfähiger Entscheidungsleistungen gebunden ist – weshalb sie auch allenfalls Übergangsherrschaft auf dem Weg zur rationalen oder legalen Herrschaft sein kann, wo sie dann zwar nicht verschwindet, aber zurücktritt. Insofern war die »Bling-Bling«-Inszenierung von Sarkozy nicht nur für seine Politik symptomatisch; es hat sich auch gezeigt, dass Charisma keine substantielle Eigenschaft von Personen ist, sondern an ein politisches Anerkennungsverhältnis gebunden ist und – bei ausbleibender Anerkennung – ebenso gut wieder verschwinden kann. Jedenfalls: Die fundamentale Kritik an der »Spektakelgesellschaft« verstellt solche Differenzierungen; sie verhindert die genauere repräsentationskritische Analyse – Kritik hier verstanden im ursprünglichen Sinne der unterscheidenden Tätigkeit.
Sie erkunden die produktive Bedeutung der Ästhetisierung für das Verständnis von Ethik und Politik. Warum eignet sich die Ästhetisierungskritik als Ausgangspunkt für eine solche Neubestimmung?
Die Ästhetisierungskritik hat tatsächlich nicht nur eine politische, sondern auch eine ethische Seite: So, wie man vermutet, dass die Ästhetisierung die spektakuläre Inszenierung an die Stelle der Politik setzt, so vermutet man, dass durch die entsprechende Entwicklung an die Stelle der Ethik eine individualistische Ästhetik der Existenz tritt. Für mich war zunächst die Beobachtung interessant, dass die ethisch-politische Kritik der Ästhetisierung keineswegs so neu ist, wie es in den jüngeren Diskussionen den Anschein haben mag – die Kritik an dem, was man für eine ästhetische Perversion von Ethik und Politik hält, hat eine lange, de facto auf antike Diskussionen zurückgehende philosophische Tradition. Aber es ist aufschlussreich, dass die Abwehr von bestimmten Figuren des Ästhe­tischen an ausgesprochen signifikanten Stellen der politischen Philosophie vorkommt. Ich habe mir das genauer angesehen und festgestellt, dass es hier jeweils um das Problem der Freiheit geht, und zwar häufig aus explizit demokratietheoretischer Perspektive. Das war die eine Beobachtung. Die andere war, dass die Abwehr des Ästhetischen hier oftmals unter Bezugnahme auf Argumente erfolgt, die höchst fragwürdig sind. Das war der doppelte Ausgangspunkt meiner Untersuchung: Wenn sich die Kritik an der demokratischen Kultur von Platon bis Carl Schmitt als eine Kritik an der »Ästhetisierung« artikuliert und diese Kritik selbst mit problematischen Argumenten operiert, dann ist es ratsam, die entsprechenden Einsätze erneut zu prüfen. Was wird jeweils als Ästhetisierung des Freiheitsverständnisses aus ethischen und politischen Gründen verworfen, und ist diese Verwerfung plausibel? Welches Freiheitsverständnis wird dagegen jeweils ethisch und politisch verteidigt, und ist es selbst vor Kritik gefeit?
Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Es hat sich gezeigt, dass weder die Verwerfung des Ästhetischen in jedem Punkt plausibel noch das freiheitstheoretische Gegenmodell unproblematisch ist. Die Absicht meines Buchs ist es deshalb, Skepsis an der einseitig negativen Bestimmung der unter dem Titel Ästhetisierung diskutierten Transformation von Ethik und Politik zu wecken und deren produktive Bedeutung für das Verständnis dieser beiden Sphären und für das einer demokratischen Kultur der Freiheit hervorzuheben.
Wie verhält sich dieses Ergebnis zu konkurrierenden Demokratietheorien? Der Polito­loge Colin Crouch zum Beispiel hat den Begriff der »Postdemokratie« geprägt. Er kritisiert damit ein Gemeinwesen, in dem zwar Wahlen abgehalten werden, die Wahlkämpfe aber zu einem reinen Spektakel verkommen würden.
Die Pointe meiner Überlegungen ist, dass kein Widerspruch zwischen Demokratie und Theatralität besteht. Stärker noch: Eine dezidiert anti-theatrale Demokratie käme ihrem Ende gleich. Der zentrale Punkt ist, dass das Selbst der kollektiven Selbstregierung nicht einfach als Gegebenheit angenommen werden kann. In Frage steht ja in politischen Konflikten häufig, wer überhaupt am politischen Diskurs teilnehmen, wer als Mitglied einer politischen Gemeinschaft gelten kann, in Frage steht in diesen Fällen also nicht zuletzt die Gestalt des demos selbst. Sofern man aber den demos nicht einfach als präpolitisch Gegebenes voraussetzen sollte, heißt dies nicht nur, dass er in der politischen Repräsentation hervorgebracht werden muss, sondern zudem, dass es den demos der Demokratie niemals jenseits der damit zugleich etablierten Trennung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, Produzierenden und Rezipierenden, Regierenden und Regierten gibt. Es gibt ihn (und seinen Willen) folglich niemals jenseits von Macht- und Herrschaftsverhältnissen; es gibt ihn nie als solchen. Tatsächlich gibt es souveräne Macht- und Herrschaftsanmaßung sowie die genannten Trennungen schon in dem Augenblick, in dem einer vortritt und beansprucht, für alle zu sprechen.
Das Volk ist dem jedoch nur in dem Maße ausgeliefert, wie es sich durch Maßnahmen blenden lässt, welche die Momente von Souveränität und Rhetorik, die mit diesem Akt einhergehen, verdecken sollen. Das Gegenmittel gegen dieses Moment der Souveränität am Grund auch der demokratischen Gesellschaften bestünde dann nicht in dessen Leugnung, sondern in dessen öffentlicher Inszenierung. Wenn nämlich derjenige, der beansprucht, für alle zu sprechen, dies vor allen tut; wenn er sich und seine Setzung dem Urteil derjenigen aussetzt, die er zu repräsentieren beansprucht, einem Urteil, von dem nie auszuschließen ist, dass es auf einer anderen Vorstellung vom Gemeinwillen beruht, die es womöglich selbst zu öffentlicher Geltung und (Gegen-)Macht bringen wird. Darin besteht die Pointe einer demokratisch verstandenen »Ästhetisierung des Politischen«.
Diese Einsicht bedeutet eine Verabschiedung der in der Linken zum Automatismus gewor­denen »Spektaktelkritik«. Mit anderen Worten: Ich finde die spektakelkritische Einführung des Begriffs Postdemokratie bei Crouch eher unglücklich – der sehr viel wichtigere Punkt, den Crouch unter dieser Überschrift ebenfalls anspricht, ist die Kritik an dem verdeckten Einfluss von Wirtschaftseliten auf die Politik.
Eine der wichtigsten Forderungen der Piratenpartei ist eine stärkere Transparenz in der Politik. Finden sich nicht auch hier repräsentationskritische Argumentationsfiguren?
Das Konzept der Liquid Democracy ist nicht zu verwechseln mit einer Ersetzung der repräsentativen Demokratie durch eine direkte. Vielmehr geht es um ein Kontinuum zwischen beiden Formen. Es soll den interessierten Bürgern ermöglicht werden, über die bloß alle vier Jahre stattfindenden Wahlen hinaus auf politische Entscheidungsprozesse einzuwirken – was auch bedeutet, dass diese Prozesse über das parteipo­litisch übliche Maß hinaus kommuniziert werden. Das ist an sich zu begrüßen. Dass damit natürlich nicht die Notwendigkeit der jeweils unter Zeitdruck erfolgenden politischen Entscheidung und auch nicht die der Herausbildung eines eigenen parteipolitischen Profils übersprungen werden kann – indem man die Form der Willensbildung an die Stelle der Inhalte setzt –, zeigen ja die Diskussionen innerhalb der Piratenpartei. Keine Entscheidung ist einfach aus einem Strom unterschiedlicher Meinungen ableitbar, und das Profil einer Partei ergibt sich auch nicht dadurch, dass man immer der Mehrheit folgt, was der Ersetzung eines parteipolitischen Programms durch das Prinzip der Volksabstimmung gleichkäme. Dass man mit der Vermutung, dass Letzteres per se progressiv sei, auf der Linken eher vorsichtig sein sollte, hat sich an den Ergebnissen von Volksabstimmungen in der Schweiz (Minarettstreit etc.) gezeigt. Dass ich der direkten Demokratie eher skeptisch gegenüberstehe, hat natürlich auch den Grund, dass sie in dem Maße, wie sie sich als die eigentliche, die unverstellte und unmittelbare Form der Demokratie gibt, die Selbstdifferenz des demos verdeckt, deren Inszenierung ich geradezu für die Essenz demokratischen Lebens halte. Von Demokratien im weitesten Sinne kann meines Erachtens nämlich dann gesprochen werden, wenn dem Konflikt um die Gestalt des demos Raum gegeben wird. Die Möglichkeit eines solchen Konflikts markiert sich insitutionell etwa in den Differenzen von Regierung und Opposition, Regierung und außerparlamentarischer Opposition, Politik und Presse, Presse und Bürger, Bürger und Mensch (das ist eine Differenz, die am Rande der politischen Gemeinwesen im Diskurs der Menschenrechte virulent wird).
Was aber die digitalen Tools der Liquid Democracy angeht, so würde ich sagen, dass sie im besten Fall den Austausch zwischen politischen Entscheidungsträgern (Repräsentanten) und politischer Öffentlichkeit (Repräsentierten) vereinfachen und verlebendigen.
Auch in der radikalen Linken ist der Begriff der »Basisdemokratie« im Unterschied zur angeblich bloß formellen oder bürgerlichen Demokratie populär. In den neuen sozialen Bewegungen wie »Occupy« und den »Empörten« wird eine Kritik an der Repräsentation formuliert oder sogar ihre Abschaffung gefordert. Können diese Gruppen demokratische Widersprüche nicht aushalten?
Es stimmt, dass die fundamentalistische Repräsentationskritik immer noch hoch im Kurs steht. Sie prägt eine – stark an Guy Debords notorische »Gesellschaft des Spektakels« angelehnte – Streitschrift wie »Der kommende Aufstand« ebenso wie einige Positionen im Umfeld von »Occupy«. Ich habe ja schon gesagt, warum ich bei den entsprechenden Utopien so­zialer Authentizität Bauchschmerzen bekomme. Auch die Emphase auf das Zwischenmenschliche scheint mir derzeit eher Teil des Problems denn Teil der Lösung zu sein: Eine Moralisierung des Politischen, eine Umschreibung von Strukturproblemen auf das Verhältnis zwischen Personen, deren Abwälzung auf die Arbeit am Selbst – dies alles findet doch ohnehin schon überall statt. Wenn ich eine Chance von »Occupy« sehe, so in dem, was sich in der Form der Demonstration, einem Zusammenschluss von Vielen zum Zwecke einer Besetzung des öffentlichen Raums, behauptet. Denn hierin liegt schon ein Einspruch gegen die Desintegration des öffentlichen Raums, der sich in der Postdemokratie vollzieht. Die Postdemokratie ist nämlich in repräsentationspolitischer Hinsicht bestimmt durch eine, wie Jacques Rancière das genannt hat, »Herrschaft des All-Sichtbaren«: Jeder kann sich darstellen, aber in dieser Darstellung formuliert sich kein Anspruch auf eine andere politische Repräsentation des Allgemeinen mehr. Öffentliche Auftritte werden hier vielmehr individualisiert und damit depolitisiert. Dagegen demonstriert die »Occupy«-Bewegung den sozialen Charakter des öffentlichen Raums.
Indem sie in ihm verharrt, beharrt sie auf ihm. Das hat Effekte nach innen und nach außen: nach innen den, dass man versucht, eine gemeinsame Sprache für die individualisierte Erfahrungswelt zu finden (in der es keine so­ziale Ungleichheit, sondern nur noch individuelles Versagen zu geben scheint), nach außen die, dass die Demonstration hier die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung um die Bestimmung des Allgemeinwohls (des allgemeinen Guten) einklagt. Angesichts einer Situation, in der man vergessen zu haben scheint, dass jede Demokratie, die den Namen verdient, sich im Streit um das konstituiert, was man eine gemeinsame Welt nennt, geht es hier nicht zuletzt um eine Verteidigung des »Dass« der öffentlichen Aus­einandersetzung. Im Blick auf die Postdemokratie ist das bereits ein inhaltlicher Punkt. In dieser Fluchtlinie wäre »Occupy« nicht das Modell für ein ganz anderes (authentisches) Soziales, sondern der recht buchstäbliche Platzhalter für eine Wiedergewinnung des politischen Raums, in dem Konflikte ausgetragen werden können. Eine solche Wiedergewinnung impliziert indes mehr als die leere Form der Besetzung (die, wie wir bereits bezeugen können, Gefahr läuft, am Ende nichts anderes zu sein als – schlechte – Kunst). Sie impliziert die Artikulation von Interessen. Dieses Wort, das I-Wort, ist erstaunlich abwesend zur Zeit. Ich mag es. Es ist kein moralisches, sondern ein politisches Wort.
Juliane Rebentisch: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz. Suhrkamp, Berlin 2012, 396 Seiten.