Eine Ausstellung über »Alice im Wunderland«

Hallo Grinsekatze

Eine Ausstellung in Hamburg beschäftigt sich mit Kunst, die sich mit »Alice im ­Wunderland« beschäftigt hat.

Im Jahr 1864 schenkte der englische Mathematiker Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll der zehnjährigen Tochter des Dekans seiner Schule ein handgeschriebenes und selbst illustriertes Buch zu Weihnachten: »Alice’s Adventures Under Ground«, ein schmales Bändchen mit nur 90 Seiten. Ein Jahr später machte Dodgson es unter dem Titel »Alice’s Adventures in Wonderland« in Form eines Romans einem breiten Publikum zugänglich. Der Zeichner John Tenniel lieferte dazu die Bilder der seltsamen Wesen des Wunderlandes, der Kartensoldaten, der Grinsekatze und des verrückten Hutmachers. Soweit die Entstehungsgeschichte eines der erfolgreichsten Kinderbücher des 19. Jahrhunderts, über das Virginia Woolf schrieb, es sei »kein Kinderbuch, sondern das einzige, in dem wir selbst zu Kindern werden«. Ob das so stimmt?
In der Hamburger Kunsthalle gibt es zurzeit eine Ausstellung mit dem sonderbaren Titel »Alice im Wunderland der Kunst«. Gezeigt wird auf zwei Etagen ein zumeist belangloses Sammelsurium aus Bildern, Filmen und alltäglichen Gegenständen, die nichts erklären, auf recht unproduktive Art und Weise Probleme schaffen und den Mythos um ein kleines Mädchen reproduzieren, dem allerlei widerfährt, für das es nichts kann.
Carroll war ein sehr produktiver Amateurfotograf. Schon kurz nach Erfindung des Mediums fotografierte er die Gegend um Oxford, lichtete Landschaften, Gebäude, Gärten, aber auch Pflanzen und Tiere ab. Er experimentierte viel mit den Möglichkeiten der Fotografie, machte Versuche mit Doppelbelichtungen.
Sein Hauptmotiv aber waren kleine Mädchen, sie machen etwa die Hälfte seines 3 000 Bilder umfassenden Gesamtwerkes aus. Häufig fotografierte er die Töchter des Dekans, am liebsten diejenige mit Namen Alice, der er schließlich sein Buch widmete. Viele dieser Fotos sind in der Hamburger Schau zu sehen. Man sieht Alice in aufwendigen Kostümen und vor malerischen Hintergründen. Mit Vorliebe inszenierte er sie als kindliche Unschuld, »ganz natürlich«, fast hat man den Eindruck, sie gehöre der unberührten Natur an, vor der er sie abzulichten pflegte.
Apropos Natur: Gerne fotografierte er seine Modelle nackt vor idyllischen Landschaften. In der Ausstellung allerdings sind sie nicht zu sehen. Das hilft, die Ausstellung sauber und den Mythos aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wird der viktorianische Geist der Präraffaeliten betont, deren Malerei prägend war für die Kunst Mitte des 19. Jahrhunderts in England und in deren Umfeld Carroll sich bewegte. Einige seiner jungen Modelle waren die Töchter bedeutender Präraffaeliten wie Arthur Hughes oder Sir John Everett Millais.
Auch die Gemälde dieser als Bruderschaft organisierten Renaissance-Nostalgiker sind in Hamburg zu sehen. Die Kinder werden hier allesamt zu »heiligen« Kindern, umgeben von sehr viel Licht werden sie vergeistigt. Millais malte einmal seine Tochter beim Erwachen. Inmitten von blütenreiner Bettwäsche wirkt sie, als hätte sie im Traum eine Erscheinung gehabt. Gemein ist den Fotografien Carrolls und den Gemälden der Präraffaeliten, dass sie Kinder zu etwas stilisieren, was sie nicht sind. Sie werden so zu Projektionsflächen der Wünsche der Erwachsenen.
In der Ausstellung sind eine ganze Reihe Alice-Merchandise-Artikel zu sehen, sämtliche aus dem ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert. Neben Sammelfiguren, Tapeten und Spielkarten sind einige frühe Filmversionen zu sehen, so auch die 52minütige Verfilmung von William W. Young von 1915. Wie in Carrolls Fotografien und den Bildern der Präraffaeliten muss das kleine Mädchen im Grunde auch hier dafür herhalten, den Spleens der anderen eine Projektionsfläche zu bieten: Nacheinander begegnet sie der Grinsekatze, dem weißen Kaninchen, der singenden Suppenschildkröte und den Kartensoldaten, nur um sich deren Geschwätz anzuhören und ihre Ticks zu ertragen.
Ein weiterer Schwerpunkt der Ausstellung ist die Begeisterung der Surrealisten für die Alice-Romane. Das Interesse der Surrealisten an Carrolls Büchern ist naheliegend, fanden sie hier doch Verfremdungen der realen Welt, Verzerrungen der Wahrnehmung und das Unheimliche hinter dem Normalen, außerdem natürlich das Motiv des Traums.
Die Bearbeitungen von Max Ernst, Salvador Dalí, Richard Oelze oder Leonor Fini wirken allesamt bieder, das Unbewusste wird hier in ähn­licher Weise idealisiert wie die kleinen Mädchen in den Bildern von Hughes. Die Radikalität ist nur scheinbar, die Absage an die Welt, so wie sie ist, nicht ernst gemeint. Zu hell erleuchtet ist die Wüstenlandschaft Dalís, in der ein einsames Mädchen voller Zufriedenheit und bis in alle Ewigkeit Seil springt, zu ausgewogen und zu pastellen entspringt die Unordnung dem Mädchenkopf bei Oelze, die junge Frau bei Fini trägt Kerzen im Haarschopf, als wäre sie ein Weihnachtsbaum. Das mag zwar wunderlich sein, ist aber gleichzeitig fürchterlich egal.
In jeder Themenausstellung, und mag sie noch so schlecht sein, finden sich auch einige gute Arbeiten. Das Video »Jabberwocky« (1971) des tschechischen Künstler Jan Šwankmajer, das sich auf ein Lautgedicht aus »Alice hinter den Spiegeln«, dem zweiten Band, bezieht, reflektiert als einzige Arbeit in der sich über zwei Etagen erstreckenden Schau das Gewaltverhältnis. Šwankmajer animiert in seinem Film das Interieur einer viktorianischen großbürgerlichen Wohnung. Der Jabberwocky, in Carrolls Roman eine Art Drache, erscheint als goldgerahmtes Porträt eines ehrwürdigen, schlechtgelaunten Herren mit Halbglatze, Bart und Kneifer. Stellvertretend für die Kinder werden hier Matrosenanzüge und Puppen zugerichtet. Während die Matrosenanzüge auf Bügel gehängt und in einen schweren Eichenschrank gesperrt werden, werden die Puppen, deren Köpfe, Hände und Füße aus Porzellan sind, mit dem Bügel­eisen zu Papierfigurinen gewalzt oder durch den Fleischwolf gedreht und anschließend gekocht und in Suppenschüsseln serviert.
Beim Gang durch die mit allerlei Kitsch zugemüllten Hamburger Ausstellungshallen kann man leicht auf die Idee kommen, es mangele an ähnlich adäquaten künstlerischen Bearbeitungen des Themas. Vor wenigen Jahren erschien in drei fulminanten, viel beachteten Bänden der Comic »Lost Girls« des Künstlerpaares Melinda Gebbie und Alan Moore. Darin treffen am Vorabend des Ersten Weltkriegs Alice, Wendy aus Peter Pan und Dorothy Gale aufeinander. Die Märchenebene wird hier psychoanalytisch in eine reale, bürgerliche Welt transponiert.
Alice erzählt ihren neuen Freundinnen vom Sturz ins Kaninchenloch. Eines Nachmittags ist sie alleine zu Hause, als der älteste Freund ihres Vaters zu Besuch kommt. »Wir nahmen beide auf dem Sofa Platz. Er wollte wissen, wie alt ich sei, und schien von meiner Antwort überrascht. Er merkte nur an, wie erwachsen ich doch inzwischen anmuten würde. Und dass ich mich mehr wie eine Lady hinsetzen solle. Er fuhr fort, indem er mir demonstrierte, wie ich meine Beine zu positionieren hätte. Ich wünschte mir inständig, dass Vater bald kommen möge, und starrte auf die Wanduhr. Ihr Ticken drang laut und bleiern durch den Raum.« Gebbie und Moore sind in Hamburg nicht mit von der Partie.

Alice im Wunderland der Kunst. Hamburger Kunsthalle. Bis zum 30. September 2012