Der Prozess wegen des Mordes an einem Obdachlosen

Kein Mangel an Beweisen

Fünf junge Männer aus der sächsischen Kleinstadt Oschatz prügelten im vergangenen Jahr einen Obdachlosen zu Tode. Welche Rolle die rechtsextreme Gesinnung zweier mutmaßlicher Täter dabei spielte, wollen Staatsanwaltschaft und Gericht nicht ermitteln.

In der Nacht zum 1. Juni 2011 lag André K. in einem Wartehäuschen am Südbahnhof von Oschatz auf einer Bank. Die Angreifer rissen ihn aus dem Schlaf und malträtierten ihn so lange mit Tritten, bis er sich nicht mehr rührte. Eine Frau fand ihn am nächsten Morgen in einer Blutlache und rief den Krankenwagen. Andre K. starb wenige Stunden später in einem Leipziger Krankenhaus.

Deshalb stehen drei Minderjährige und zwei Erwachsene seit März wegen Totschlags vor der Jugendschöffenkammer des Leipziger Landgerichts. Die Annahmen, die dem Prozess zugrunde liegen, sind verwunderlich. Niedrige Beweggründe, wie beispielsweise die Absicht, vermeintlich »minderwertiges Leben« auszulöschen, oder eine besondere Heimtücke der Tat, bei der die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst ausgenutzt wurde und angesichts deren eine Tötung als Mord klassifiziert werden kann, konnten die Ankläger also nicht erkennen. Der Sprecher der Staatsanwaltschaft gab lediglich an, Motiv und Hintergründe der Tat hätten im Verlauf der Ermittlungen nicht vollständig geklärt werden können.
Seither quält sich das Gericht durch die abstrusen Geschichten der Angeklagten und der geladenen Zeugen aus dem Umfeld der mutmaßlichen Täter. André K. soll dem Angeklagten Ronny S. Geld geschuldet, die Scheune von dessen Großvater angezündet oder erzählt haben, der alte Mann habe die Scheune selbst in Brand gesteckt. Der Angeklagte Sebastian B. ließ von seinem Anwalt verlesen, man habe sich in der Tatnacht »im Suff einen sinnlosen Grund eingeredet«. Eine Zeugin gab an, Sebastian B. habe am Abend der Tat, bevor er sein Samuraischwert eingesteckt habe, gesagt, André K. stinke und habe kein Zuhause. Ein geständiger Jugendlicher will aus »Gruppenzwang« gehandelt haben. Anhand der bisherigen Aussagen kann als halbwegs gesichert lediglich gelten, dass Ronny S. die treibende Kraft an diesem Abend war. Alle Beteiligten hatten gemeinsam Bier getrunken und zogen dann los, um ihr Opfer zu suchen. Die Frage nach dem Grund für die Tat können Gericht und Staatsanwaltschaft bislang nicht beantworten.
Was nicht ermittelt ist, kann auch nicht verurteilt werden. Die Beweisanträge der Nebenklage, die die Kinder des Opfers vertritt, lehnte das Gericht ab. Unter anderem sollten zwei Fotos in Augenschein genommen werden. Eines zeigt Ronny S. mit NPD-Anhängern neben einem Transparent der Partei und ihrer Nachwuchsorganisation JN. Auf einem anderen ist der Angeklagte vor einer Reichskriegsflagge zu sehen. Außerdem sollten die in seinen Unterarm tätowierte Zahlenkombination »88« und die Runen begutachtet werden, die der Angeklagte Sebastian B. als Tätowierungen auf seinem Körper trägt.

Die Fotos von Ronny S. wurden bereits kurz nach der Tat von Antifaschisten im Internet veröffentlicht, fehlten jedoch in der Prozessakte. Zum Verhandlungsauftakt hieß es seitens der Staatsanwaltschaft lapidar, Hinweise auf einen rechtsex­tremen Tathintergrund habe es nicht gegeben. Zu der Frage, warum die Staatsanwaltschaft die Beweisanträge der Nebenklage nicht unterstützt, obwohl das Tatmotiv nach wie vor unklar ist, will sich ihr Pressesprecher Ricardo Schulz nicht äußern.
Die Nebenklage, vertreten durch die Anwältin Undine Weyers, argumentiert, die politische Gesinnung der Angeklagten spiele sehr wohl eine Rolle. Denn Wesensmerkmal des Rechtsextremismus sei eine »Ideologie der Ungleichheit«, die anhand sozialer, körperlicher und »ethnischer« Unterschiede bestimmte Individuen und Gruppen als minderwertig abstempele. Weyers geht davon aus, dass das Menschenbild der Angeklagten zumindest ein Teilmotiv für die Tötung von André K. gewesen ist.
Anhaltspunkte für eine rechtsextreme Gesinnung gibt es also. Die Weigerung des Gerichts und der Staatsanwaltschaft, diesen Hinweisen nachzugehen, lässt sich nur mit einer grundsätzlichen Ignoranz erklären, die an deutschen Gerichten leider keine Ausnahme ist. Bei keiner Opfergruppe rechtsextremer Gewalt wird so selten ein politisches Tatmotiv festgestellt wie bei Obdachlosen, in den einschlägigen behördlichen Statistiken tauchen sie gar nicht erst auf. Für die Jahre von 1989 bis 2010 ermittelte die Zeit 28 Fälle, in denen Obdachlose aus kollektivem Hass auf »Asoziale« ermordet wurden.
»Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich noch höher«, sagt Anastasia Krotova von der Opferberatung RAA Sachsen. Ihr sind allein für Sachsen vier Tötungsfälle bekannt. Zuletzt wurde 2008 Karl-Heinz Teichmann, der ebenfalls auf einer Parkbank schlief, von einem 18jährigen überfallen und totgeprügelt. Am Abend zuvor hatte der Angreifer an einer Veranstaltung der »Freien Kräfte Leipzig« teilgenommen. Richter Norbert Göbel, der auch im Fall André K. entscheiden soll, ignorierte dies, obwohl selbst die Verteidigung in einem Interview den rechtsextremen Hintergrund der Tat eingeräumt hatte. »Die Ablehnung und Ächtung von Obdachlosen ist auch darüber hinaus in der Gesellschaft sehr verbreitet«, sagt Krotova. Außerdem hätten sie überhaupt keine Lobby, das mache die Ignoranz auch in den Behörden möglich.
So wurden die Angehörigen von André K. weder von der Polizei noch von der Staatsanwaltschaft über seinen Tod informiert, die Opferberatung machte die beiden Kinder ausfindig. Richter Göbel hatte am ersten Prozesstag große Probleme, sich überhaupt den Namen des Opfers zu merken, die Beisitzerin musste immer wieder als Souffleuse einspringen. Dafür kannte er mehrere Angeklagte bereits aus vorangegangenen Verhandlungen und war wohl deshalb zu Scherzen aufgelegt.

Das Urteil wird nun für den 13. November erwartet, eigentlich hätte es bereits in der vergangenen Woche verkündet werden sollen. Ronny S. präsentierte jedoch in letzter Minute noch einige Zeugen aus seinem Oschatzer Freundeskreis und weitere, die derzeit inhaftiert sind. Den Aussagen dieser neuen Zeugen zufolge sollen Dritte gesagt haben, Ronny S. sei an der Tat gar nicht beteiligt gewesen. Die Auftritte der Entlastungszeugen waren bislang jedoch nicht sonderlich erfolgreich. Gegen einen von ihnen will die Staatsanwältin ein Verfahren wegen Falschaussage einleiten.