Über deutsch-griechische Feindbilder

Im Auge des Anderen

Über humorlose Deutsche, faule Griechen und andere Vorurteile.

Vorurteile sind widerstandsfähig. Sie sind immun gegen rationale Argumente und leicht manipulierbar durch Diskurse, die sie, wenn auch nur geringfügig, bestätigen. Vorurteile sind auch leicht wiederzubeleben, selbst wenn man sie für längst abgebaut hält.
Dass »die Deutschen« herrschsüchtig, humorlos und unfreundlich sind, entspricht einem stereotypen Gegenbild »der Griechen« als faul, betrügerisch und berechnend. Vorurteile dieser Art sind Elemente von Feindbildern. Ideologisch verzerrte Formen kollektiver Identitätsbildung liegen diesen Klischees zugrunde und historische Vorgänge haben sie verfestigt. Unterschiedliche Kulturen und Formen religiöser Ethik haben das jeweilige Bild des Anderen geprägt; zwei Weltkriege haben es schärfer konturiert; die gemeinsamen, aber auch gegensätzlichen Interessen im Rahmen der finanziellen Teilung Europas haben es aktua­lisiert; die tendenziös interpretierten Alltagserfahrungen mit den Anderen – griechischen Gastarbeitern in Deutschland, deutschen Touristen auf Kreta und neuerdings EU-Inspektoren in Athen – haben es gespeist.

Bereits vor 15 Jahren hatte eine soziologische Untersuchung gezeigt: Das Misstrauen der Griechen gegenüber den Deutschen hatte auch in friedlichen Zeiten der intensiven Kontakte, der europäischen Gemeinsamkeit und des kulturellen Austauschs unterschwellig überlebt und sich sogar verstärkt durch das Gefühl der Griechen, sich gegenüber Deutschland in einer als ungerecht empfundenen, schwächeren Position zu befinden. Schon damals wollten die Griechen unbedingt »europäisch« sein, aber das Bild des »europäischen Griechen« war charakterologisch eher dem des Italieners ähnlich als dem des Deutschen, dem gegenüber offenes Misstrauen formuliert wurde. Dass dieses Misstrauen auf Gegenseitigkeit beruht, haben die jüngsten Schlagzeilen gezeigt.
Wenn ich lese, was selbst seriöse deutsche Medien über die derzeitige Lage in Griechenland in letzter Zeit veröffentlichen, schockiert mich das Ausmaß der Naivität und der absurden Propaganda immer wieder. In Griechenland ist es nicht viel anders, nur dass man hier eher die Boulevardpresse als Beispiel nehmen muss.
Dass »die Griechen« – und in diesem Fall heißt dies: griechische Lohnabhängige, wenn sie noch Arbeit haben – durchschnittlich nicht nur mehr Stunden am Tag, sondern auch mehr Tage im Jahr und mehr Jahre im Leben arbeiten, und zwar für viel weniger Geld und unter härteren Arbeitsbedingungen, als die Deutschen, dürfte für viele unglaublich klingen. Diese Tatsachen ändern nichts an dem Bild des faul herumsitzenden und parasitär lebenden Griechen, der keine Steuern zahlt. Dass »die Griechen« durchschnittlich (zumindest bislang; jüngst wurde das Schul- und Universitätssystem radikal abgebaut) gut ausgebildet sind und Fremdsprachen beherrschen und dass es eine starke (hauptsächlich im Ausland tätige) Expertenelite gibt, klingt aus »normaldeutscher« Sicht ebenfalls nach einem Märchen. Auch das Klischee der »Luxus-Faulenzer«, die durch die EU-Finanzierung (und daher »mit dem Geld des deutschen Steuerzahlers«) ihre Schulden bezahlen, ist verbreitet, obwohl klar ist, dass die EU in Griechenland vor allem die Banken finanziert, nicht zuletzt im Interesse Deutschlands. Damit garantiert sie die wirtschaftliche Entwicklung und steigende Exporte für eine kleine Gruppe von Ländern, allen voran Deutschland, während die griechische Mittelschicht unter Armutsbedingungen lebt, die an die Nachkriegszeit erinnern, und es um die Arbeiterklasse noch viel schlimmer bestellt ist.
Vorurteile gibt es aber auch hier. Wenn ich, nach 15 Jahren akademischer Arbeit in Deutschland, höre, was meine Nachbarn oder auch meine Kollegen – von dem »einfachen Mann auf der Straße« ganz zu schweigen – für »typisch deutsch« halten, dann staune ich. In beiden Fällen dient das Bild eines potentiell feindlichen »Anderen« der Beschuldigung: »Es sind die Griechen, die ›unser Europa‹, ›unseren Euro‹, ›unser Steuergeld‹ und ›unseren Wohlfahrtstaat‹ gefährden«, hört man aus Deutschland. »Es sind die Deutschen, die uns ›erpressen‹, die an unseren Schulden verdienen, die mit unseren Inseln liebäugeln«, sagt man in Griechenland.
Dadurch werden nicht nur die wahren Gründe der anhaltenden strukturellen Krise der EU und ihres neoliberalen Projekts jeder möglichen Kritik enthoben und die wieder in Erscheinung tretenden sozialen Ungleichheiten innerhalb der EU verdeckt. Durch diese Bilder wird gleichzeitig – und in beiden Ländern unter anderen Vorzeichen – ein Diskurs legitimiert, der für mehr Arbeit bei weniger Lohn wirbt sowie für mehr Zurückhaltung, etwa bei Klassen- bzw. Gewerkschaftsforderungen. Im Namen der Rationalität werden, dieser Rhetorik folgend, »notwendige Opfer« gefordert, deren Folgen vor allem für die sogenannten Neuarmen, die Arbeitslosen und die Migranten heftig zu spüren sind, die aber auch Kranke, Alte und Jugendliche in die Armut gestürzt haben. Das betrifft auch zentrale Institutionen und Grundprinzipien des westeuropäischen Rechtsstaates – ja, auch Griechenland gehört dieser politischen Kultur an – und der parlamentarischen Demokratie. Denn im Namen der europäischen Wirtschafts­rationalität werden Verstöße gegen das Grundgesetz bagatellisiert oder mit der Rhetorik des Notstands gerechtfertigt. Die finanzielle Disziplinierung hat nicht nur den radikalen Abbau von sozialstaatlichen Schutzmechanismen zur Folge, sondern auch die Stigmatisierung von anders Denkenden, anders Lebenden, anders Arbeitenden oder Ausruhenden – die nicht selten auf ganze Bevölkerungen übertragen wird.

Konservativ-populistische politische Strömungen haben während der andauernden Krise das bewährte Rezept des Hetzens, den erfolgreichen Diskurs über die »eigentlich Schuldigen« aktualisiert.Fakten spielen dabei kaum eine Rolle, ebensowenig zählt rationale Kritik. Die Generation der heutzutage finanziell und politisch aktiven Deutschen kann nicht mit der deutschen Nazi-Vergangenheit gleichgesetzt werden, das demokratische, das proeuropäische und selbst das so­lidarische und gesellschaftskritische Potential ist in diesem Land gewiss nicht geringer als in Griechenland – vorausgesetzt, ein solcher Vergleich wäre möglich. Das Bild des Deutschen als »versteckter Nazi« wird in Griechenland, auch in kritischen Kreisen, nicht nur bestätigt, sondern durch Pseudoargumente bekräftigt. Diesen zufolge richtet sich die einer totalitären Mentalität entspringende Hysterie bezüglich der griechischen »Lebensweise« eigentlich gegen eine offene Gesellschaft, gegen demokratische Rechte, gegen eine widerständige Bevölkerung und nicht zuletzt gegen eine linksradikale Alternative.
Die Dynamik der Vorurteile begünstigt autoritäre politische Kräfte. Das Griechenbild dient in Deutschland der Abwehr sozialer, politischer und finanzieller Forderungen, lenkt aber auch von allen Fehltritten der herrschenden Politik ab. Den Griechen wiederum gilt es als eindeutiger Beweis für die feindliche Haltung der Deutschen gegenüber ihnen und ihrem Land. Dass die Griechen die deutsche Kritik als Ausdruck von Feindseligkeit missdeuten, zeugt andererseits von ihrer Unfähigkeit, ihre eigene Gesellschaft in Richtung Rationalität und Modernisierung zu entwickeln.
Zum Opfer dieser gegenseitigen Missachtung, dieses scheinbar banalen, alltäglichen und gegenseitigen Rassismus, wird die Solidarität – jene soziale Haltung, die im Europa der Nachkriegszeit die Verhältnisse nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch zwischen sozialen Gruppen und sich gegenseitig in Differenz anerkennenden Individuen zu kennzeichnen schien.

Der Autor ist Professor für Soziologie und Direktor des Instituts für Griechisch-Deutsche Beziehungen an der ­Universität Athen.