Kurz vor der humanitären Krise

Sparen, bis der Arzt nicht mehr kommt

In Griechenland droht eine humanitäre Katastrophe. Immer mehr Menschen ­verarmen, das Gesundheitssystem bricht zusammen.

Während über einen neuen Schuldenschnitt für Griechenland spekuliert wird, trifft die Verelendung immer breitere Schichten der Bevölkerung. Ursache ist nicht nur die rasant steigende Arbeitslosigkeit, sondern auch der Kollaps des Gesundheitssystems, der eine humanitäre Krise auslöst. Viele Griechinnen und Griechen können sich ärztliche Untersuchungen und Medikamente nicht mehr leisten.
Bereits im Juni hat die Ärztekammer Athen an die Vereinten Nationen appelliert und die Europäer aufgerufen, die Notlage in Griechenland ernst zu nehmen. Die Krankenkassen verzeichnen wegen der Rezession etwa 40 Prozent weniger Einnahmen. Tausende Patienten befinden sich in einer dramatischen Lage, weil sie von den Krankenhäusern wegen des Zahlungsstopps der Kassen an die Pharmalieferanten und Apotheker die nötigen Medikamente nicht mehr erhalten. Wenn nicht bald etwas geschehe, werde man Todesopfer zu beklagen haben, warnten die Ärzte. Im selben Monat wandten sich die griechischen Apothekerverbände in einem Brief an den deutschen Finanzexperten Horst Reichenbach, der die »Task Force Griechenland« der EU leitet, und baten ihn um Hilfe. Das Land brauche mindestens 1,5 Milliarden Euro für Medikamente und medizinisches Material, hieß es in dem Brief. »Das Gesundheitssystem bricht zusammen«, stellten die Apothekerverbände fest.
In vielen staatlichen Krankenhäusern fehlt nicht nur Material wie Verbandmull oder Spritzen. Oft müssen aufwendige und teure Operationen verschoben werden. Überdies hatten Ärzte und Apotheker tagelang Versicherten der größten staatlichen Kasse EOPYY Leistungen in Rechnung gestellt. Sie protestierten so dagegen, dass die EOPYY sie für ihre Arbeit monatelang nicht bezahlt hat. Die meisten Apotheker haben die Protestaktion in der vergangenen Woche abgebrochen, gelöst wurde das Problem jedoch nicht.
Am 12. September haben vor dem Parlament Menschen mit chronischen Krankheiten, Behinderte und Krebskranke demonstriert. »Sogar kleinen Kindern mit Krebs oder chronischen Krankheiten werden keine Medikamente gegeben. Wie sollen sie geheilt werden?« fragt Eleni B., eine 38jährige, die an Multipler Sklerose leidet. Da viele Apotheker keine Medikamente mehr einkaufen, besorgen viele Krebskranke die Arzneimittel aus Ländern wie Bulgarien oder der Türkei.
Immer wieder wird von Radiostationen und über soziale Netzwerke wie Facebook zu Spenden aufgerufen, um kranken Menschen zu helfen, ihre Medikamente zu kaufen. Wie dramatisch die Lage in Griechenland ist, zeigt die Tatsache, dass immer mehr Kinder der Gefahr übertragbarer Infektionskrankheiten wie Diphtherie und Meningitis ausgesetzt sind, weil sie keine Basisimpfung erhalten haben. Ihre Eltern sind arbeitslos, somit nicht krankenversichert und nicht in der Lage, die Impfungen aus der eigenen Tasche zu bezahlen.
Dieses Problem wird sich verschlimmern, weil die Zahl der Verarmten schnell wächst. Mit einem Brief an das Webportal Newsit hat ein 45jähriger aus Thessaloniki an seine Mitbürger appelliert: »Ich bin seit drei Jahren arbeitslos. Meine Familie lebt seit einem Jahr ohne Strom, weil wir die Stromrechnungen nicht bezahlen konnten. Wir haben seit sechs Tagen nichts gegessen. Ich will kein Geld, weil ich es nicht zurückgeben kann, sondern eine Arbeit. Egal, was für eine.«

Es sind aber nicht nur die Arbeitslosen, die in die Armut abrutschen. In Griechenland hat sich durch die Krise eine neue Gesellschaftsschicht von »Neuarmen« gebildet. Dies ist das Ergebnis einer Studie des Nationalen Zentrums für Soziale Studien (EKKE). Es handelt sich um Menschen, die zwar eine Arbeit haben, deren Lohn jedoch nicht ausreicht, um die Lebenshaltungskosten zu decken.
Die Forscher waren überrascht von den großen Veränderungen in der griechischen Gesellschaft in den vergangenen zwei Jahren. »Außer den Arbeitslosen, den Immigranten, den zahlreichen Familien, die traditionell in die Kategorie der Armen gehören, kann man auch die armen Arbeitnehmer dazu zählen«, sagte Dionisis Balourdos, der Leiter EKKE-Studie, der Tageszeitung Ta Nea. Die Neuarmen haben einen Anteil von fast 14 Prozent an der Gesamtbevölkerung und stellen mehr als 25 Prozent der Gehaltsempfänger. Unter ihnen befinden sich viele Menschen, die jünger als 24 Jahre sind.
Zudem nimmt die Arbeitslosigkeit dramatische Dimensionen an. Mit 23 Prozent hat Griechenland zusammen mit Spanien eine der höchsten Erwerbslosenraten in Europa. Einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zufolge hat Griechenland sogar eine höhere Erwerbslosenrate als manche afrikanische Länder. Die Vereinigung der Gewerkschaften im Privatsektor GSEE schätzt, dass Ende 2013 die Arbeitslosigkeit in Griechenland auf 28 bis 29 Prozent steigen wird. Wenn man noch die Langzeitarbeitslosen hinzuzählt, die ihre Arbeitslosenkarte nicht erneuern, weil sie ohnehin keine Unterstützung erhalten, sowie die Unterbeschäftigten berücksichtigt, steigt die Erwerbslosenrate auf mehr als 34 Prozent.
Dies sind ähnlich hohe Werte wie in den sechziger Jahren, als die Griechen massenweise nach Deutschland und in andere Länder auswanderten. Es wird sogar geschätzt, dass die Arbeitslosigkeit in Griechenland bis zum Jahr 2020 extrem hoch bleibt. Erwerbslose erhalten in Griechenland nur ein Jahr lang Unterstützung. Danach sind sie auf die Hilfe von Verwandten oder Freunden angewiesen, da es fast unmöglich ist, eine Arbeitsstelle zu finden. »Für die Stelle der Kassiererin in einem Supermarkt bewerben sich Hunderte von Menschen«, sagt Katerina K., eine 39jährige, die seit mehr als zwei Jahren arbeitslos ist. Sie wird von ihren Eltern unterstützt. Doch psychologisch kann sie mit der Situation nicht umgehen, sagt sie: »Ich bin aggressiver geworden und habe jede Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben. Wenn ich Verwandte oder Freunde im Ausland hätte, würde ich sofort auswandern, um dort eine Arbeit zu suchen.«

Die Forscher sprechen von einer »verlorenen Generation«, deren Angehörige wegen der von den Spardiktaten der Gläubiger verursachten Rezession zwischen Arbeitslosigkeit und Auswanderung wählen müssen. Die Kaufkraft der griechischen Bevölerung ist drastisch zurückgegangen und gleicht nunmehr der in den siebziger Jahren.
Die Rezession könnte sogar die Voraussetzungen für ein zukünftiges Wirtschaftswachstum zerstören. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Gewerkschaft GSEE. Seit 2008 sei die Produktionsbasis in Griechenland zusammengebrochen, somit sei das Land bezüglich der Produktivität und Technologie an einem Punkt angelangt, der eine binnenindustrielle Entwicklung erschwere oder sogar unmöglich mache, selbst wenn die Finanzlage wieder besser werde. Zudem will die Regierung griechischen Medienberichten zufolge 140 Hochschulfakultäten abschaffen.
Die vom Bundesverband der Deutschen Industrie propagierte, aber Medienberichten zufolge auch von der EU-Bürokratie und einigen europäischen Staaten und der griechischen Regierung selbst angestrebte Lösung ist, in Griechenland Sonderwirtschaftzonen mit besonderen Regeln einzurichten. Zuletzt setzte sich dafür der sozialdemokratische EU-Parlamentarier und Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, ein.
Die Griechinnen und Griechen befürchten, dass sie in solchen Sonderwirtschaftzonen für 400 Euro monatlich arbeiten werden. Auch Arbeitsschutzgesetze und Gewerkschaftsrechte dürften erheblich eingeschränkt werden. Wie aus Kreisen des Arbeitsministeriums in Athen verlautete, schlage die Troika der EU, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds vor, die Sechs-Tage-Woche wieder einzuführen. Zudem sollen die Arbeitnehmer, wenn der Unternehmer dies als nötig erachtet, bis zu 13 Stunden am Tag arbeiten. Überdies sollen Kündigungsfristen und Abfindungen halbiert werden.
Maßnahmen dieser Art könnten zu weiteren sozialen Unruhen führen. Doch Massenproteste wie vor einem Jahr, als die Bewegung der Empörten in Griechenland aktiv war, gibt es derzeit nicht. Trotzdem finden wöchentlich kleinere Demons­trationen gegen weitere Sparmaßnahmen statt. Manche dieser Demonstrationen sind trotz geringer Teilnahme wirkungsvoll. So drangen während einer Protestaktion gegen Kürzungen im Gesundheitswesen Anfang September etwa 200 demonstrierende Rentner in das Gesundheitsministerium ein. Sie durchbrachen eine Absperrung der Polizei und besetzten für etwa 20 Minuten die Lobby des Ministeriums. Am Donnerstag vergangener Woche streikten in Athen die Beschäftigten der Metro und der Straßenbahn. Sogar Richter und Staatsanwälte haben einen Arbeitskampf begonnen, nur noch die dringlichsten Fälle werden behandelt. Auch ein weiterer 24stündiger Generalstreik fand am Mittwoch statt.

Doch viele Griechinnen und Griechen haben bereits die Hoffnung aufgegeben. Die Zahl der Selbstmorde nimmt rasant zu. In den vergangenen drei Jahren stiegen die Selbstmordversuche um 22,5 Prozent. Zwischen 2009 und 2012 gab es 1 727 Selbstmordversuche. Man schätzt, dass in 25 Prozent der Fälle die Krise zumindest eine der Ursachen war.
Die dramatische Wirtschaftskrise und die steigende Kriminalität machen viele Bürger anfällig für die faschistische Propaganda. Die Neonazi-Partei Chrysi Avgi hat Umfragen zufolge immer mehr Zulauf (siehe Seite 11). Alexandra D., eine 35jährige Beamtin, erzählt schockiert, dass viele ihrer Kollegen und Kolleginnen mit der Chrysi Avgi sympathisieren und die neonazistische Ideologie kaum noch Anstoß erregt: »Ein Kollege von mir hört alte Nazi-Lieder am Arbeitsplatz, ohne dass jemand darauf reagiert.« Der griechische Schriftsteller und Blogger Giannis Makridakis warnt: »In diesem Winter wird Griechenland einem Land des subsaharischen Afrika ähneln, mit einer Gesellschaft, die zum Faschismus tendiert und auf eine faschistische Regierung wartet, die diese Gesellschaft repräsentieren wird.« Die Konstellation des Parlaments erinnere bereits an Länder mit solchen politischen Verhältnissen, schreibt der renommierte Schriftsteller und betont: »In solchen Ländern und Gesellschaften gibt es natürlich kein Recht auf Sozialfürsorge und einen öffentlichen Gesundheitssektor, auch nicht auf Bildung, Naturressourcen und natürliches sowie kulturelles Kapital.« Die Menschen »haben nur das Recht, die Krümel zu bekommen, die ihnen die nationalen Profitmacher lassen, und kriechend zu leben – mit dem einzigen Ziel, eine billige und verwertbare Arbeitskraft zu werden«.