Der Roman »Wie Barney es sieht« von Mordecai Richler

Mit Gaul und Golem

Eine Lebensbeichte im Angesicht einer beginnenden Alzheimer-Erkrankung. Mordecai Richler lässt in seinem Roman »Wie Barney es sah« einen alten jüdischen Grantler auf Faschisten in Québec und Linguine im Ristorante schimpfen.

Als Mordecai Richlers Eltern zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor Pogromen aus Galizien nach Kanada flohen, brachten sie nicht nur die Jiddische Sprache mit in die Neue Welt, sondern auch die osteuropäisch-jüdische Kulturgeschichte, die im Werk des 1931 geborenen Autors stets präsent ist. Etwa in Gestalt des Golem, von dem es in seinem Roman »Der Traum des Jakob Hersh« heißt: »Der Golem ist, zu ihrer Information, der Körper ohne Seele. Rabbi Juda Ben Bezalel formte ihn im 16. Jahrhundert aus Lehm, um die Juden von Prag vor einem Pogrom zu bewahren, und in meiner Vorstellung wandert er noch heute in der Welt umher, um aufzutauchen, sobald irgendwo ein Beschützer gebraucht wird.« Der Protagonist Jakob Hersh ist überzeugt, sein Cousin Joey, der in seiner Jugend den Freunden in der Montrealer St. Urbain Street, dem Herzen des jüdischen Viertels, rät, sich antisemitische Ausfälle nicht gefallen zu lassen und zurückzuschlagen, sei ein solcher Golem, eine »Art jüdischer Batman«. 1948 taucht Joey dann auch in der Rolle als Beschützer der Juden auf einem weißen Hengst im israelischen Unabhängigkeitskrieg auf.
Auch in seinen Essays greift Richler dieses Motiv auf, wenn er in einem Text der späten sechziger Jahre schreibt, Superman, The Human Torch und andere Comic-Superhelden seien ihm als Kind wie Golems vorgekommen. Nicht nur vor dem Hintergrund des deutschen Nationalsozialismus erschienen diese Charaktere als Retter, auch die kanadische Gesellschaft, insbesondere das frankophone Québec, war geprägt von alltäglichem Antisemitismus.
Jiddisch war zwar in Kanada zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch jüdische Einwanderer aus Osteuropa zur drittgrößten gesprochenen Sprache geworden, und es existiert auch heute noch eine Jiddisch sprechende Gemeinde in Montreal, dennoch waren Juden in Kanada, insbesondere im frankophonen Teil, nicht wirklich in die Gesellschaft integriert. Dieses Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zur jüdischen Min­derheit ist ein Thema aller Romane Richlers, deren Protagonisten meist einfachen jüdischen Verhältnissen entstammen und die sich in ei­ner Gesellschaft, die ihnen ständig vermittelt, dass sie eigentlich nicht willkommen sind, erst durchsetzen müssen. Er selbst sah sich als englischsprachiger Jude im frankophonen Teil Kanadas als »Minderheit innerhalb einer Minderheit«. Wie schwierig diese Lebensumstände sind, kommt in Richlers Romanen unter anderem dadurch zum Ausdruck, dass die Charaktere immer wieder in Situationen geraten, in denen sie sich der Willkür der Gesellschaft ausgeliefert sehen. Etwa der Nazi-Insignien sammelnde Jakob Hersh, gegen den in Großbritannien ein Verfahren läuft, da er das deutsche Au-Pair-Mädchen Ingrid vergewaltigt haben soll – ein Vorwurf, der sich als haltlos erweist –, oder Barney Panofsky in »Wie Barney es sieht« – soeben im Rahmen der Neuausgabe der wichtigsten Romane Richlers im Liebeskind-Verlag erschienen –, der zwar vom Vorwurf freigesprochen wird, seinen besten Freund Boogie ermordet zu haben, sich aber bis zuletzt nicht sicher ist, ob er nicht doch schuldig sein könnte – zum Zeitpunkt des mysteriösen Verschwindens von Boogie war Panofsky zu betrunken und zur Zeit der Niederschrift seiner Erinnerungen beginnt zusätzlich eine Alzheimererkrankung, seine Erinnerungen zu trüben.
Beide Protagonisten gehen nach Europa, ein Schritt, den auch Richler als 19jähriger vollzog, als er auf den Spuren seiner literarischen Idole einige Jahre in Paris verbrachte, wo er unter anderem Allen Ginsberg kennenlernte, bevor er sich bis zu seiner Rückkehr nach Kanada 1972 in London niederließ. Richlers Weggang aus Montreal deutet sein Biograph George Woodcock als eine Flucht vor dem Gefühl, als Jude in der kanadischen Gesellschaft in einer seltsamen Verteidigungshaltung leben zu müssen. Zwar schwächte sich nach 1945 der offene Alltagsantisemitismus ab, aber spätestens nach den Bombenanschlägen der militanten Separationsbewegung »Front du Libération du Québec« Ende der sechziger Jahre fühlten sich viele Juden in Québec nicht mehr sicher und zogen nach Ontario, die nächstgelegene Provinz Kanadas. In Europa wurden die Separatisten oftmals als antikoloniale Befreiungsbewegung verklärt, etwa in der 1969 im März-Verlag erschienenen Autobiographie des FLQ-Mitgründers Pierre Vallières mit dem Titel »Québec Libre! Weiße Neger in Kanada«. Tatsächlich richtete sich die Bewegung in erster Linie gegen die nicht-französischsprachigen Minderheiten.
Die Separationsbestrebungen des frankophonen Teils Kanadas sind auch Thema in »Wie Barney es sieht«, dem letzten Roman des 2001 verstorbenen Autors. Angesiedelt ist die Geschichte im Jahr 1995, in dem es ein Referendum über die Unabhängigkeit der Provinz Québec gab. Angewidert von der separatistischen Forderung der Frankokanadier – für ihn mit dem Antisemitismus verknüpft –, schreibt Barney seine Autobiographie, mit allen Ungereimtheiten und Lücken, die dazugehören. Nach seiner Alzheimererkrankung werden die Aufzeichnungen von seinem Sohn Michael mit Fußnoten versehen und pedantisch korrigiert. Barney ist mit der Produktion von schlechten kanadischen Seifenopern zu Geld gekommen, trauert seiner großen Liebe Miriam nach, die ihn vor ein paar Jahren verlassen hat, und lässt den Prozess gegen ihn Revue passieren, in dem er mangels einer Leiche – die Überreste des toten Boogie werden erst Jahre später gefunden – freigesprochen wurde. Ein Wunder, denn vom Richter Euclid Lazure hatte er nicht viel Gutes erwartet. »Wie die meisten nachdenklichen alteingesessenen Bürger Québecs«, so Barney, »die während des Zweiten Weltkriegs aufwuchsen, hatte er als sensibler junger Fatzke mit dem Faschismus geflirtet. Er war in der kreuzfidelen Menge gewesen, die 1942 die Main entlangmarschierte, die Schaufenster von jüdischen Geschäften einwarf und ›Bringt sie um! Bringt sie um!‹ schrie. Aber er hatte seine Jugendsünden öffentlich bereut.«
Barney ist ein unsympathischer Grantler, dessen Welthass nachvollziehbar wird, wenn es um die großen gesellschaftliche Zusammenhänge geht. Genervt ist er auch von der Gegenwart: »Kohlepapier, falls irgendjemand von Ihnen alt genug ist, um noch zu wissen, was das ist. Denn in jenen Tagen benutzten wir nicht nur Kohlepapier, sondern es antwortete uns auch ein menschliches Wesen, wenn wir jemanden anriefen, und nicht ein Anrufbeantworter mit einer gewollt witzigen Ansage. War man in einem italienischen Restaurant, wurde einem noch etwas serviert, was sich Spaghetti nannte, häufig mit Hackfleischsoße. Es hieß noch nicht Pasta mit Räucherlachs oder Linguine in allen Regenbogenfarben oder Penne mit einem dampfenden vegetarischen Haufen darauf, der aussieht wie Hundekotze. Ich schwadroniere wieder einmal. Schweife ab. Tut mir leid.«
Die Geschichte seines Lebens, wie er sie dem Leser auftischt, springt in der Chronologie hin und her, manche Begebenheiten werden mehrfach und immer anders erzählt, er hangelt sich an seinen drei Ehen entlang und stellt den Leser immer wieder vor die Frage, was von all dem Erzählten der Wahrheit entspricht und was nicht. Barney selbst gibt freimütig zu: »Wenn ich eine aufregende Geschichte erzähle, neige ich dazu, ihr Effet zu geben. Offen gestanden, ich bin ein geborener Aufpolierer. Aber kann ein Schriftsteller, zumal ein Anfänger wie ich, überhaupt etwas anderes sein?«
Die Protagonisten bei Richler sind jüdische Aufschneider, die gegen eine antisemitische Mehrheitsgesellschaft kämpfen und ihren Weg, der immer wieder auch in Sackgassen führt, voller Sarkasmus gehen. Richlers Protagonisten scheinen davon angetrieben, Nietzsches Diktum zu widerlegen, Juden seien »niemals eine ritterliche Rasse« gewesen, was man schon an der Art und Weise erkenne, wie sie auf ein Pferd stiegen. »Ritterlich« sind die Juden bei Richler vielleicht nicht, aber auf Pferden reiten sie, für Israel, gegen die antisemitische Gesellschaft, nach Europa und zurück nach Kanada. Allen voran Jakob Hershs Cousin Joey: »Dort draußen ritt er, in diesem Augenblick. St. Urbans Reiter. Im Galopp, mit donnernden Hufen. Sieh dich vor, Mengele, die Juden kommen!«

Mordecai Richler: Wie Barney es sieht. Aus dem Englischen von Anette Grube. Liebeskind, München 2012, 464 Seiten, 22 Euro