Paolo Pezzino im Gespräch über die Einstellung des Prozesses zum SS-Massaker im italienischen Sant’Anna di Stazzema

»Die deutsche Staatsanwaltschaft war eher unwillig«

Der Beschluss, die Ermittlungen zum Massaker der SS in Sant’Anna di Stazzema einzustellen, weil den Beschuldigten keine hinreichende Tatbeteiligung nachzuweisen sei, stößt in Italien auf Unverständnis. Die Jungle World sprach mit Paolo Pezzino über die Entscheidung der Stuttgarter Staatsanwaltschaft und den italienischen Prozess. Pezzino lehrt Zeitgeschichte an der Universität Pisa und ist Mitglied der deutsch-italienischen Historikerkommission zur Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg.

Herrscht unter den italienischen und deutschen Historikern Einigkeit darüber, was am 12. August 1944 in dem toskanischen Bergdorf Sant’Anna di Stazzema geschehen ist?

Die Positionen zu Sant’Anna und den anderen Massakern in Norditalien haben sich weitgehend angenähert. Die Geschichtsschreibung beider Länder geht davon aus, dass die deutschen Militär­aktionen im Rahmen einer Strategie des Terrors gegen die Zivilbevölkerung durchgeführt wurden, um diese von der Unterstützung der Partisanen abzuhalten. Diese Strategie wurde vor allem im Sommer 1944 eingesetzt, als die Gotenlinie, eine Verteidigungslinie gegen die aus Süditalien vorrückenden alliierten Truppen, befestigt werden musste. Einigkeit herrscht auch darüber, dass es zwei Einheiten gab, die sich durch besondere Grausamkeit hervorgetan haben, nämlich die der Wehrmacht zugehörige Panzerdivision »Hermann Göring« und die 16. SS-Panzergrenadierdivision »Reichsführer SS«, die für das Massaker in Sant’Anna verantwortlich ist.

Warum wurde nicht unmittelbar nach Kriegsende ein Ermittlungsverfahren eingeleitet?

Eine Kriegsverbrecherkommission der amerikanischen 5. Armee hat Ermittlungen durchgeführt und herausgefunden, welche SS-Einheit für das Massaker in Sant’Anna verantwortlich war. Aber die amerikanischen Untersuchungen haben zu keinem Prozess geführt. Die Ermittlungsakten wurden Ende 1946 an die italienische Regierung übergeben und landeten zusammen mit Hunderten von Unterlagen über weitere Verbrechen, die deutsche Truppen zwischen 1943 und 1945 begangen hatten, bei der Militärgeneralstaatsanwaltschaft in Rom. Dort wurden die Vorfälle aus zwei Gründen nicht weiterverfolgt: Zum einen wollte man die Bundesrepublik, die im Rahmen der Ost-West-Konfrontation schon wieder Bündnispartner war, nicht in Verlegenheit bringen. Zum anderen konnte man nicht die Auslieferung der deutschen Kriegsverbrecher fordern und gleichzeitig die Auslieferung der eigenen Soldaten an Jugoslawien ablehnen, die dort wegen Verbrechen der faschistischen Armee angeklagt waren.

Wie kam es dazu, dass Jahrzehnte später wieder ermittelt und Anklage erhoben wurde?

Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen den SS-Führer Erich Priebke (der wegen der Beteiligung an der Erschießung von 335 Zivilisten in den römischen Ardeatinischen Höhlen in Italien verurteilt wurde und bis zu seinem Lebensende unter Hausarrest stehen soll, Anm. d. Red.) fand man zufällig die Akten zu Sant’Anna in jenem Archiv der Militärstaatsanwaltschaft, das unter dem Titel »Schrank der Schande« berühmt geworden ist. Mit der Wiederentdeckung der alten Ermittlungsakten begann dann langsam die juristische Aufarbeitung.

Der Prozess zu Sant’Anna fand vor dem Militärgericht in La Spezia statt, er endete im Juni 2005 mit der Verurteilung von zehn deutschen Militärangehörigen zu lebenslanger Haft. Nachdem einige Angeklagte Berufung eingelegt hatten, mussten alle richterlichen Instanzen durchlaufen werden. Das Urteil wurde aber 2007 vom Kassationsgericht, dem höchsten italienischen Gerichtshof, bestätigt und damit definitiv rechtskräftig. Aber die Verurteilten kamen nie in Haft.

Der Prozess fand in Abwesenheit der Angeklagten statt. Deutschland hat sich immer geweigert, die Verurteilten auszuliefern. Die einzige Einschränkung, die die noch lebenden Verurteilten haben, besteht darin, dass sie nicht nach Italien einreisen können, weil ihnen an der Grenze die Festnahme droht. So gesehen war es vor allem eine symbolische Verurteilung. Aber für die Überlebenden von Sant’Anna und die Angehörigen der Opfer war es wichtig, dass der Prozess stattgefunden hat, dass das Verbrechen als geplantes Massaker an der Zivilbevölkerung anerkannt wurde und die Verantwortlichen benannt worden sind. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft hat erklärt, dass sich »der Nachweis, bei dem Massaker habe es sich um eine von vornherein geplante und befohlene Vernichtungsaktion gegen die Zivilbevölkerung gehandelt, nicht mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen Sicherheit führen lässt« und den Beschuldigten somit keine »noch nicht verjährte strafbare Beteiligung an den Geschehnissen« nachgewiesen werden könne.

Die Staatsanwaltschaft in La Spezia hat dagegen die Auffassung vertreten, dass jeder, der in der Einheit eine Befehlsgewalt hatte und dessen Präsenz vor Ort nachgewiesen werden konnte, wegen bewusster Tatbeteiligung für schuldig befunden werden muss. Da die Operation kriminelle Absichten verfolgte, denen eine genaue Planung zugrunde lag, wurden alle Soldaten mit Befehlsgewalt zur Verantwortung gezogen, unabhängig davon, ob jedem Einzelnen nachgewiesen werden konnte, wie viele der 560 Männer, Frauen und Kinder er persönlich getötet hatte – dieser individuelle Tatnachweis ist nach all den Jahren völlig unmöglich.