Über seinen Alltag mit Multipler Sklerose

»Liegense schon, oder könnense noch sitzen?«

Morgens gibt’s Cortisoninfusionen beim Neurologen, abends liegt ein Fremder tot im Plastiksack in der Duschkabine, und der Behindertenausweis ist plötzlich farbig geworden. KNUD KOHR erzählt, wie die Multiple Sklerose seinen Alltag verändert.
Von

Mein Neurologe schaute auf meine Füße, als ich mich in sein Sprechzimmer schleppte. Im Jahr 2003 war bei mir Multiple Sklerose diagnostiziert worden, nachdem ich im Urlaub in Portugal plötzlich meinen rechten Fuß nur noch wenige Zentimeter weit heben konnte. Einige Wochen voller Untersuchungen bei diversen Ärzten folgten. Man schob mich zur Magnetresonanztomographie in eine Röhre, um Schichtbilder meines Hirns zu machen. Oder zapfte bei der Lumbalpunktion Flüssigkeit neben meiner Wirbelsäule ab. Nach Abschluss der Untersuchungen wurde mir von meinem damals behandelnden Arzt klargemacht, dass ich eine chronische, fortschreitende, unheilbare Autoimmunkrankheit habe, die bei mir vor allem die Bewegungsabläufe in den Beinen angreift. Außerdem sprach vieles dafür, dass ich nicht den bei 85 Prozent der Patienten üblichen Krankheitsverlauf hatte. Nach einigen Wochen war der diagnosefähige Schub nämlich abgeklungen. Der Körper hatte seinen Fehler selbst erkannt. Er beendete nicht nur den Angriff auf seine eigenen Nerven, sondern bemühte sich, alles wieder auf den vorherigen Stand zu bringen. Ein Vierteljahr nach Portugal konnte ich wieder fast so gut laufen wie zuvor.
Der Verlauf meiner Krankheit wurde von den Ärzten »primär progredient« genannt. Nur etwa jeder sechste Kranke hat diese Form, die auch als »schleichend« bezeichnet wird. Das bedeutete immerhin, dass ich nicht ständig von Schüben bedroht war, oder von häufigen Symptomen wie tauben Händen oder Sehstörungen. Und Windeln musste ich auch nicht tragen. Andererseits ging es mit meiner Gehfähigkeit Jahr für Jahr tendenziell bergab. Nach etwa vier Jahren schaffte ich mir einen Stock an, und vor etwa drei Jahren einen zweiten.
Leider sind seit diesem Frühjahr Verschlechterungen unübersehbar geworden. Die jeweils etwa 100 Meter langen Wege zu meiner Physiotherapeutin oder zur Bank schienen von Woche zu Woche länger zu werden, und seit einigen Tagen konnte ich meinen rechten Fuß nicht mehr heben. Wenn man wie ich im ersten Stock eines Altbaus von 1870 wohnt, in einem Kiez voller Kopfsteinpflaster und hoher Bürgersteige, verdammt einen das zur Stubenhockerei.

Ein Freund hatte mich irgendwie ins Taxi und wieder hinaus gebracht, und nun saß ich immerhin vor meinem Neurologen. Ein weißhaariger Mann Anfang sechzig, der wie ich aus Norddeutschland stammt. Wir hatten uns vom ersten Moment an gut verstanden.
»Herr Kohr, wir können darauf verzichten, ­irgendwelche Untersuchungen durchzuführen«, sagte er. »Würde nur unnötig Zeit kosten, und dass Sie einen schweren Schub haben, könnte ihnen jeder Student im ersten Semester sagen. Jetzt bleiben Ihnen zwei Möglichkeiten«, und damit griff er nach dem Telefon auf seinem Schreibtisch. »Erstens – ich rufe bei der Klinik an, mit der ich regelmäßig zusammenarbeite. Haben die ein Bett frei, kann ich Sie innerhalb der nächsten zwei Stunden einweisen lassen. Oder zweitens: Sie lassen sich ab sofort jeden Tag vom Krankentransport von zu Hause abholen, um hier eine Cortisoninfusion zu bekommen. Danach werden Sie wieder zu Ihrer Wohnungstür zurückgebracht.«
Er nahm die Hand vom Telefon und sah mich ernst an. »Wenn Sie eine dritte Möglichkeit wollen, müssen Sie sich einen anderen Arzt ­suchen. Die Verantwortung dafür würde ich nämlich ablehnen.«
Einen Moment lang war ich ganz woanders. Ich dachte an ein Gespräch mit meiner Freundin von heute morgen. Wir lagen noch im Bett, und wir witzelten uns ein bisschen Mut zu. »Aber nicht, dass du nur kurz Zigaretten holen gehst und dann nie wieder kommst!« hatte sie gesagt, und wir beide lachten, so laut wir konnten.
Zehn Minuten später befand ich mich schon auf einer Liege in einem anderen Zimmer der Praxis. Zwei Sprechstundengehelfinnen hatten mich auf einem Bürostuhl hierher gerollt. In eine Vene meines rechten Unterarms tropfte eine durchsichtige Lösung. Mein Neurologe setzte sich auf einen Hocker neben mich und nickte.
»Gerade eben bin ich nochmal Ihre Krankenakte durchgegangen. Sie haben seit über neun Jahren MS und die meiste Zeit auf Schulmedizin verzichtet. Es stattdessen mit anderen Therapieformen versucht. Chinesische Medizin, Krankengymnastik, sogar Maschinen-Krafttraining. Und dabei ist es ihnen tendenziell immer ein wenig schlechter gegangen.«
Ich nickte, und versuchte dabei, den Kloß irgendwie aus meiner Kehle zu bekommen.
»Nun, Herr Kohr, ob ich diesen Trend zu Ihren Gunsten wenden kann, weiß ich nicht genau. Aber ich würde Sie bitten, mich jetzt eine Weile lang tun zu lassen, was ich für richtig halte. Dafür werde ich im Gegenzug nicht versuchen, Sie von Alternativmedizin, mentaler oder Körpertherapie abzubringen. Letzteres ist nämlich auf jeden Fall gut, und mit alternativer Medizin gibt es, soweit ich weiß, keine negativen Wechselwirkungen.«
Ich nickte noch einmal.
»Haben Sie es eigentlich schon mal mit Cannabis zur Muskelentspannung versucht? Ei­nige Patienten mit Ihrer Krankheit schwören darauf.«
Diesmal schüttelte ich nur den Kopf. »Ich hatte Ihnen doch beim ersten Besuch bei Ihnen schon gesagt, dass ich trockener Alkoholiker bin. Alles, was Suchtpotential hat, kommt nicht in diesen Körper.«
Ich nickte, und der Arzt zeigte mir Rezepte für diverse Medikamente, die er in der Zwischenzeit ausgestellt hatte.
»Ich würde die Cortisonbehandlung gern mit drei Medikamenten flankieren. Eines davon ist ein Angstlöser aus der Gruppe der Benzodiazepine. Das hat Suchtpotential, wenn man es über längere Zeit nimmt. Cortison bekommen Sie aber nur für zwei Wochen. Was meinen Sie?«
Wieder schüttelte ich den Kopf. »Nicht in diesen Körper.«
»Gut, Herr Kohr, dann muss ich erwähnen, dass Cortison, jedenfalls in der Menge, die Sie in nächster Zeit bekommen werden, zu nächtlichen Visionen führen kann. Und ich muss darauf bestehen, dass Sie zur Sicherheit das Präparat für eine Woche einnehmen, bis Ihr Körper sich an das Cortison gewöhnt hat. Wenn wir dann von Infusion auf Tabletten umstellen, können Sie es auf eigene Gefahr versuchen.«
Mein hilfreicher Freund wartete vor dem Behandlungszimmer. Er rollte mich mit dem Bürostuhl bis an den Straßenrand. Als ich aufstehen wollte, rutschte ich an der Kühlerhaube des Taxis ab und fiel mit dem Gesicht zuerst auf das Trottoir. Eine Wunde am Kinn, ein Riss in der Lippe und ein wackelnder Schneidezahn waren die Folge. Als ich zu Hause aus dem Taxi stieg, merkte ich, wie angeschlagen meine Seele war, und wie stark das Medikament, das in meinen Adern kreiste. Es war mir unmöglich, die Füße auch nur wenige Zentimeter vorwärts zu schleifen.
Einem jungen Mann, der in einem Straßencafé neben meiner Haustür saß, fiel das auf.
»MS?« fragte er.
»Ja.«
»Hat meine Schwester auch.«
Und dann kommandierte er die beiden Freunde, die mit ihm am Tisch waren.
»Ich drehe ihn in den Stuhl hier. Dann fasse ich hinten an, und ihr beide nehmt je eine Armlehne. In welchem Stockwerk wohnst du?«
Nach diesem Vormittag war ich zu verstört, um Widerstand zu leisten. Eine Minute später luden mich die Männer im ersten Stock vor meiner Wohnung ab.
»So, jetzt leg dich ins Bett und schon dich ein bisschen.«
Meiner Freundin versuchte ich so viel wie möglich von diesem Vormittag zu verschweigen. Vielleicht hätte ich lieber eine Schachtel Zigaretten kaufen gehen sollen?
Am nächsten Morgen saß ich auf einem Stuhl direkt hinter meiner Wohnungstür. Wie mit meinem Neurologen vereinbart, hatte ich gestern mit einem Mitarbeiter des Krankentransports die Konditionen für den Fahrdienst besprochen.
»Liegense schon, oder könnense noch sitzen?« hatte der Mann in den Hörer berlinert.
»Ich kann laufen. Bisschen langsamer als sonst.«
»Denn sitzense mal ne Viertelstunde vor dem Termin abfahrtbereit an der Tür.«
Das tat ich. Als es klingelte, wuchtete ich mich auf meine Stöcke und öffnete die Tür. Im Flur standen zwei kräftige Männer mit Kurzhaarfrisuren. Zwischen ihnen wartete ein Rollstuhl, der unterhalb der Armlehnen mit zwei zusätzlichen Metallrohren verstärkt war. Wer darin saß, konnte also wahlweise gerollt oder wie in einer Sänfte getragen werden.
»Können Sie sich wirklich selbst setzen?« fragte einer, als ich mühsam die Tür hinter mir schloss.
»Ja«, nickte ich. Dann hatte ich nicht mehr viel zu sagen. Die beiden schleppten mich die enge Treppe hinunter und in einen Kleinbus, mit dem sie mich zu meinem Arzt fuhren. Als ich einmal versuchte aufzustehen, drückte mich der Mann hinter mir fest wieder in den Sitz. Erst später sollte ich erfahren, dass das aus Versicherungsgründen geschah. Sollte ich nämlich aus dem Stuhl fallen oder mich anderweitig verletzen, würde es teuer für das Unternehmen. Und der Mann bekäme eine Abmahnung.
Zwei Tage später wollte ich auf dem Rückweg vor dem Café unten in meinem Haus aussteigen. Keine Chance. Die Tour endete vor meiner Wohnungstür.

Nach zwei Tagen setzte ich das Benzodiazepin ab. Auf eigene Gefahr. Angst hatte ich eigentlich nicht. Bei meinem Alkoholentzug Mitte der neunziger Jahre waren handgetöpferte, frisch glasierte Suppenschalen um meinen Kopf gekreist. Schlimmer würde es wohl kaum werden. »Weck mich, wenn die Visionen gut aussehen«, schärfte meine Freundin mir ein.
Dann glitt ich in den Halbschlaf. Plötzlich war ich mir sicher, dass in meiner Duschkabine ein toter Mann lag, gefesselt und in einen Plastiksack eingeschweißt. »Blödsinn!« war mein erster Gedanke, als ich hochschreckte. Beim nächsten Einschlafen sah ich den Mann wieder. Diesmal konnte ich sehen, dass er vor seinem Tod an vielen Stellen seines Körpers verletzt worden war. Aus einigen der Wunden tropfte sogar noch Blut. Wieder war ich schlagartig wach. Ob das die nächtlichen Visionen waren, vor denen mein Neurologe mich gewarnt hatte? Da ich keine Lust verspürte, von meinem mit Tabletten bombardierten Hirn noch explizitere Bilder präsentiert zu bekommen, stand ich auf und inspizierte meine Dusche. Natürlich war niemand drin.

Meine Physiotherapeutin hatte sich mittlerweile bereiterklärt, zweimal wöchentlich zum Hausbesuch zu kommen. Die Frau war kräftig, zupackend und hatte in jüngeren Jahren die Handball-Jugendnationalmannschaft der DDR unter ihren heilenden Händen gehabt. Als ich ihr von meinen Erlebnissen der vergangenen Tage berichtete, nickte sie ernst.
»Sie wissen schon noch, dass ich Ihnen seit März sage, dass Ihre Krankheit sich galoppierend verschlimmert.«
Mein Gesichtsausdruck muss dem geähnelt haben, den ich vor rund 40 Jahren hatte, als ich von meiner Mutter beim Bonbondiebstahl erwischt wurde.
»Ist aber gut, dass Sie was unternommen haben.« Beruhigend streichelte die Therapeutin die Luft über meinem Kopf.
»Wenn Sie nichts unternommen hätten, wollte ich Ihnen nämlich heute von einem Patienten erzählen, der ganz ähnliche Symptome gezeigt hat wie Sie. Der ist aber nicht zum Neurologen gegangen, und seit drei Wochen liegt er bewegungsgestört im Bett. Derzeit kann der Mann gerade mal seine Bettpfanne greifen. Und dann hatte ich da noch die Frau, die ohne Medikamente ihre Schwangerschaft durchstehen wollte. Nach der Geburt hat die einen derart schlimmen Schub bekommen, dass sie nun dauerhaft im Rollstuhl sitzt und ihr eigenes Baby nicht in den Armen halten kann, weil die auch gefühllos geworden sind.«
»Bitte, hören Sie auf«, bat ich.
Der massive Einsatz von Medikamenten sorgte nicht nur für wüste nächtliche Träume. Tagsüber wurde ich häufig müde. Mehr als zwei Stunden am Stück konnte ich nicht arbeiten. Dann fielen mir entweder am Computer die Augen zu, oder ich begann völlig ohne Grund zu schluchzen. Mein Neurologe hatte so etwas kommen sehen, weswegen er mit mir zusammen einige Anträge für staatliche Hilfsleistungen ausgefüllt hatte.

Immerhin hatte das Cortison nicht nur Nebenwirkungen, sondern begann auch positiv zu wirken. Vermutlich können sich die Wenigsten das Glücksgefühl vorstellen, mit dem man einen Packen Umschläge aus dem Briefkasten zieht, wenn der in den vergangenen Tagen unerreichbar gewesen ist. Für den Rückweg musste ich nur noch das Treppengeländer fest mit der linken Hand packen, in der ich auch meine beiden Stöcke nach oben schob. Dann das rechte Bein im Halbkreis auf die erste Stufe schwingen. Mit der rechten Hand unter die Kniebeuge des linken Beins greifen, und es hinterher wuchten. Eine Stufe geschafft! Nur noch 23 bis zu mei­ner Wohnung. Das Triumphgefühl, das mich fünf Minuten später vor meiner Wohnungstür erfasste, war unbeschreiblich. Vielleicht würde ich doch wieder gehen können. »Die MS bekommt mich noch nicht in den Rollstuhl. Noch nicht!« flüsterte ich. Es klang pathetisch. Aber es war ein Versprechen an mich selbst.
Die in den Umschlägen befindlichen Briefe bewiesen, dass mein Neurologe genau wusste, wo er was fordern musste. In einem stand, dass ich ab sofort keine Zuzahlung mehr für den Fahrdienst leisten musste. Aus einem zweiten ging hervor, dass mein Antrag auf eine Neurologische Rehabilitationsmaßnahme in Bad Wildbad nach einem kurzen Umweg über einen falschen Schreibtisch nun an der richtigen Stelle angekommen war. Der neue Schwerbehindertenausweis war farbiger als der letzte. Nun war ich also zu 80 Prozent behindert, und ich durfte in öffentlichen Verkehrsmitteln ständig kostenlos eine Begleitperson mit mir führen. Von den ganzen Steuervorteilen mal ganz abgesehen. Warum wurde ich eigentlich schon wieder so traurig?
Als Gegenmittel beschloss ich, umgehend eine große Wanderung zu machen. Zu meinem Lieblingscafé auf der anderen Straßenseite nämlich. Gut 30 Meter von meiner Wohnung entfernt. Während ich mich an der Kühler­haube eines Autos vom Trottoir auf die Strasse abstützte, griff plötzlich jemand von hinten unter meinen rechten Arm. Um ein Haar hätte ich das Gleichgewicht verloren.
»Über die Straße sind es etwa sechs Meter. Genau vor Ihnen steht dort ein SUV, an dem Sie sich gut abstützen können«, sagte eine Männerstimme.
Plötzlich hatte ich eine Idee. »Sie merken aber schon, dass ich gehbehindert bin und nicht blind?« fragte ich.
»Sie sind gar nicht blind?« Der Mann wirkte irritiert. Dann ließ er mich los und verschwand zügig. »Na dann … Wir sehen uns.«
Eine Woche später schluckte ich die letzte Tablette, und es wurde Zeit für die Nachuntersuchung bei meinem Neurologen. Zeit, den Krankentransport anzurufen. Diesmal stand vor meiner Tür ein schüchterner, schmächtiger Mann von vielleicht 23 Jahren.
»Ähm«, druckste er. »Ich wollte sie abholen. Mein Kollege wartet unten mit dem Stuhl. Sollen wir den hochtragen, oder schaffen Sie die Treppe allein?«
Ich nahm meine Stöcke in eine Hand und klopfte ihm generös auf die Schulter, während ich mich auf die erste Stufe zuschob. Als ich mich unten in den Stuhl fallen ließ, fühlte ich mich so gut wie seit langem nicht mehr. Na gut, der rechte Fußheber war noch deutlich von seiner normalen Leistungsfähigkeit entfernt. Und Strecken über 50 Meter machten mir nach wie vor große Schwierigkeiten. Aber vielleicht würde ich auch die bald schaffen. Zumindest, bevor Eis und Schnee den Weg wieder schwie­riger machten.

Informationen unter