Die Komödie »Angels’ Share« von Ken Loach

Ocean’s Twelve für Prekäre

In Ken Loachs Komödie »Angels’ Share« darf die Mittelschicht über das dumme Proletariat lachen. Jürgen Kiontke was not amused.

Nein, so hat man sich eine Whisky-Verkostung wohl nicht vorzustellen. »Mann, hab ich ’nen Durst«, brummt der junge Prolet und schnappt sich den Bottich voller Schnaps. »Hm, schmeckt ein bisschen brockig.« Was Wunder: Es ist schließlich jenes Gefäß, in das die Single-Malt-Verkoster ihre Probe hineinspucken. Da sammelt sich schon mal allerlei an.
Ken Loach hat ein Herz für arme Leute und auch für ihre Verhaltensweisen. Deswegen zeigt er sie ein ums andere Mal in seinen Filmen. Das hat etwas Soziales, womöglich auch Klassenkämpferisches. Unten geht es ruppig zu, das macht der Druck von oben.
Das Resultat ist in der Regel überzeugend, Ken-Loach-Filme sind Festivalgewinner. »Ich wusste gar nicht, wie schlecht es der englischen Arbeiterklasse geht«, schluchzt ein Zuschauer in der Serie »Die Simpsons«, nachdem er ein klassisches britisches Kinowerk überstanden hat. Bis ins bildungsferne Springfield sind diese Art Filme vorgedrungen. Auch in der Realität zeigen sie Wirkung: In Cannes gewann »The Angels’ Share« den Preis der Jury.
Beim schlechten Leben und seinen Angewohnheiten anzusetzen, um das Publikum in den Bann zu ziehen, das ist die Methode des Meisters aller Unterklassen und seines Drehbuchautors Paul Laverty. Hat’s bisher funktioniert, schüttelt man bei »The Angels’ Share« jedoch bisweilen den Kopf. Ähnlich wie im Leben der Protagonisten, so geht auch manches in diesem Film daneben.
Robbie (Paul Brannigan), Loachs chaplinesker Held aus Glasgow, ist ein echtes Arschloch von der Straße. Kaum ein Tag vergeht, an dem das explosive Kerlchen nicht irgendwo in Schwierigkeiten gerät. So ist’s auch diesmal gewesen: Ein Typ ist ihm beim Einparken halb über die Füße gefahren, Robbie macht genau das Richtige. Bald ist vom übermütigen Fahrer nur noch Matsch übrig.
In einem an schlechten Slapstick gemahnenden Gerichtsprozess erinnert seine Pflichtanwältin in vagen Worten daran, dass Robbie eine schwere Kindheit hatte und so weiter. Wir sind im Glasgower Schnellgericht, und die Delikte sind die der Unterschicht: volltrunken den Zugverkehr behindern, Tiere aus der Zoohandlung stehlen, Denkmäler erklimmen. Ein seltsames Aussprache-Treffen mit schweigendem Täter und peinlich heulendem Opfer tut sein Übriges. Erstaunlich, wie schnell über die gesellschaftlichen Ursprünge von Gewalt hinweggegangen wird. Die Szenen dienen allzu offensichtlich nur der Überleitung zum eigentlichen Thema des Films: der schottischen Whisky-Herstellung. Die Diskrepanz zwischen historisch gewachsener Genusshochkultur und der rabiaten Entourage soll Funken schlagen. Bisher diente der Schnaps den Männern nur zum Wegknallen. Verwundert tauchen die Glasgower Voll­prolls in die wunderbare Welt des Alkohols ab. Sozialarbeiter Harry (John Henshaw), der alte Whisky-Proben-Experte, führt Robbie und die anderen verkrachten Existenzen ein ins trinkerische Genießen (»Na, woran erinnert dich der Geruch?« – »An den Atem meines Vaters«).
In der Folge lernt auch der Zuschauer einiges über Lagavulin & Co. Spätestens als er hört, dass es Sorten gibt, für die mehrere tausend Dollar pro Liter bezahlt werden, ist der kleinkriminelle Robbie hellwach. Not tut’s sowieso: Denn Robbie kriegt täglich von den eingesessenen Straßenrowdies die Jacke voll – über viele Jahre gepflegte Familienfehden sind daran schuld, Großbritannien ist eben traditionsbewusst. Außerdem ist Leonie (Siobhan Reilly) von Robbie schwanger, dummerweise ist sie die Tochter des lokalen Clubbesitzers, dem Robbie die eine oder andere Ohrfeige verdankt. Oder er bietet Robbie gleich Geld, damit er ins ferne London abhaut.
Wie soll der junge Mann eine Familie ernähren? Mit gerichtlich verfügten Sozialstunden? Auch Leonie fragt sich das schon, pocht auf die Einhaltung ihres Ultimatums: Robbie, das war das letzte Mal. Das Kind soll seinen Vater nicht in der Haftanstalt kennenlernen. Mit herkömmlichen Karrieren sieht es aber im europäischen Zonenrandgebiet mau aus. Gearbeitet wird umsonst oder in zwielichtigem Gewerbe.
Dermaßen beseelt, lernt Robbie alles über den »Angels’ Share«, jenen Fünftel-Anteil des kostbaren Getränks, der sich einfach so aus den Fässern verdünnisiert. Wenn man da was abzwacken könnte …
Als die Freunde hören, dass demnächst der teuerste Schnaps der Welt versteigert wird – man fand ihn in einem 50 Jahre lang vergessenen Fass –, beschließen sie, den »Teil der Engel« zu privatisieren. Wenn zwei Liter fehlen, wird es schon keiner merken, für die Freunde macht das 200 000 Pfund. Das wird intelligent durchgezogen; der kleinen Räuberschar soll irgendwann der große Gewinn winken. »Man wird immer erwischt«, gibt Robbie zu bedenken.
Aber nicht, wenn man in den richtigen Kreisen klaut. Wie man aus der Scheiße kommt, um in die besseren Gefilde aufzusteigen – da hätte sich im verkrachten Schottland durchaus einiges finden lassen. Aber Loach und Laverty kicken schwere Themen allzu locker beiseite, weil sie mal was Lustig-Schönes zeigen wollten. Wirkt schon der Einstieg in die nerdige Sphäre der Whisky-Liebhaber wenig glaubhaft, kippt das Sozialdrama bald ins Räuberpistolen-Genre: »Ocean’s Twelve« für ganz Arme.
Dadurch entsteht ein seltsamer Hybrid von Film: Einerseits die üblichen Loach-Stoffe – Sozialamt, asoziale Politik von oben, liebenswürdiges Proletariat –, andererseits mäßig spannende Thriller-Optik mit Boulevard-Elementen. »Kinder der Klamotte« wäre auch ein passender Filmtitel gewesen. Natürlich muss der Depp mit der 18-Dioptrien-Brille die kostbare Flasche zerdeppern. Die kleptomane Borderlinerin klaut mal wieder das Falsche, alle fluchen gern und bleiben beim Sprung über den Stacheldraht mit dem Schottenrock hängen. Darunter läuft man sich alles wund, worüber das Publikum gemeinsam mit der schottischen Polizei lachen soll. Es bleibt die Frage, ob es dem Prekariat Europas nicht schon schlecht genug geht, als dass es noch als Witzfigur herhalten müsste.
Warum solch eine Komödie? »Um widersprüchlich zu sein«, sagt der Regisseur. Die Figuren erlebten eben Dinge, die manchmal lustig seien, manchmal nicht. »Wir dachten, wir suchen uns einen der komischen Momente heraus.« Bemüht, einen charmanten Helden zu zeigen, der von ganz unten aufsteigt, um mit der Liebsten in den Sonnenuntergang zu fahren, denunziert der Regisseur das gesamte Personal: Nach dem dritten schlechten Gag ist jedem bewusst, dass die da unten grenzenlos doof sind. Einige aber sind fit genug, um ihr Ding zu machen, mit denen lässt sich reden.
Der Verdacht drängt sich auf, dass hier in eine bestimmte Richtung gelacht werden soll: aus der Mittelschicht nach unten. Zur Untermalung wird schlimmer Achtziger-Jahre-Stadionrock eingesetzt, der umso stärker die gewisse Leichtig- und Humorigkeit vermitteln soll, je verstaubter er daherkommt.
Alles ein bisschen verrutscht. Und so wirkt der Film bisweilen wie eine Karikatur der Ken-Loach-Filme, wie man sie kannte. »The Angels’ Share« ist, leider und ganz untypisch, soziales Kino mit den Mitteln von Matthias Richling. An den Schauspielern liegt es im Übrigen nicht: Die sind zum großen Teil Laien und machen ihr Ding.
Loach hat Recht: ein Film, der Widerspruch erfordert.

The Angels’ Share. Regie: Ken Loach. Darsteller: Paul Brannigan, Siobhan Reilly u. a. Kinostart: 18. Oktober