Auch die Briten sollen sparen

Sparen um jeden Preis

Die britische Regierung verfolgt weiterhin eine strenge Austeritätspolitik. Dies hat besonders in ärmeren Gemeinden fatale soziale und wirtschaftliche Folgen.

»Die Tories hassen den öffentlichen Sektor wie die Pest. Im Grunde wollen sie ihn stilllegen und die Dienstleistungen ihren Freunden verticken, so dass diese daraus Profit schlagen können«, wettert Clare Harwood gegen die konservative britische Regierung. Harwood arbeitet in Gateshead, südlich von Newcastle, für Connexions, einer Sozialberatungsstelle, die Jugendliche bei der Arbeits- und Wohnungssuche unterstützt und sie bei Drogen- und Finanzproblemen berät. Der Zuschuss, den die lokalen Behörden dafür von der Zentralregierung erhalten, ist jedoch stark gekürzt und die Verpflichtung zur Bereitstellung eines solchen Dienstes aufgehoben worden. Ob sie die Connexions-Zentren weiterführen oder durch eine Website ersetzen wollen, ist den lokalen Behörden überlassen. Harwood hatte Glück: Ihr Zentrum existiert noch – allerdings nur noch mit der Hälfte des Personals. »Das ist verrückt. Unsere Beratungsdienste sind immer stärker gefragt, weil immer mehr junge Menschen ihren Job verlieren.« Zum zusätzlichen Stress wegen des Personalmangels komme die Sorge, wie lange sie ihren Job noch behalten werde. Die Lokalregierung kann jederzeit entscheiden, die Sozialberatung ganz abzuschaffen.

Besonders stark von den Sparmaßnahmen der britischen Regierung ist der Nordosten des Landes betroffen. Die Einsparungen der Gemeinden sind hart: Die Stadt Newcastle etwa muss bis 2014 28 Prozent ihrer Ausgaben einsparen, für das laufende Fiskaljahr ergeben sich daraus Budgetkürzungen in Höhe von 30 Millionen Pfund. Gekürzt wird in allen Bereichen, von Bibliotheken und Kultur über Kindertagesstätten, Wohnberatungsservice und Obdachlosenhilfe bis hin zu Straßenunterhalt und Müllabfuhr. In der Region Nordost werden im öffentlichen Sektor dem Gewerkschaftsverband Trades Union Congress zufolge 2 000 Stellen pro Monat gestrichen. Für die Re­gion ist das verheerend, denn nachdem der industrielle Sektor dort in den achtziger Jahren eingebrochen war, sorgte der Staat für viele Arbeitsplätze – über ein Viertel aller Beschäftigten sind heute im öffentlichen Dienst tätig. Die Arbeitslosenquote im Nordosten liegt bei über zehn Prozent, höher als sonst in Großbritannien.
Zu den Einsparungen in den Gemeinden kommen die landesweiten Sparmaßnahmen. Für Angestellte im öffentlichen Dienst dürfen die Gehälter seit zwei Jahren nicht mehr steigen. Im Gesundheitswesen sollen bis 2015 im Rahmen sogenannter Effizienzeinsparungen 20 Milliarden Pfund gekürzt werden. Das führte dazu, dass im vergangenen Jahr im Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) 31 000 Stellen gestrichen wurden. Trotz heftigen Protests von Gesundheitsverbänden hatte die Regierung Anfang des Jahres die Health and Social Care Bill, ein Gesetz zur Neuorganisation des NHS, durchgesetzt. Demzufolge sollen private Unternehmen eine größere Rolle in der Gesundheitsversorgung spielen und viele Aufgaben von öffentlichen Einrichtungen übernehmen. So wurde die Grainger Medical Group in Newcastle bereits vom Gesundheitskonzern Care UK übernommen, Teil einer Private-Equity-Gesellschaft. Care UK geriet im Frühjahr in die Kritik, als 6 000 Röntgenbilder einfach in der Schublade verschwanden, ohne analysiert worden zu sein.

Auch bei den Sozialleistungen will die Regierung sparen, bei der Unterstützung für Behinderte sollen etwa zwei Milliarden Pfund (2,4 Milliarden Euro) eingespart werden, rund 20 Prozent des Budgets. Zu diesem Zweck sollen Empfänger von Unterhaltsbeihilfen für Behinderte einer rigorosen Prüfung unterzogen werden, um festzustellen, ob sie tatsächlich empfangsberechtigt sind. Verantwortlich für die Tests ist ausgerechnet die Firma Atos. Der französische Dienstleistungskonzern nahm für die britische Regierung bereits ähnliche Arbeitsfähigkeitstests für Kranke und Behinderte vor und wurde scharf kritisiert: Hunderttausende Menschen, die als arbeitsfähig eingestuft wurden, fochten den Entscheid gerichtlich an – und rund ein Drittel gewann. Der neue Auftrag an Atos kostet die Regierung 400 Millionen Pfund (490 Millionen Euro). Um die zwei Milliarden Pfund einzusparen, müssen die Unterhaltsbeihilfen von rund einer halben Million Menschen gestrichen werden.
Bemerkenswert ist, dass bislang erst zwölf Prozent der Sparmaßnahmen überhaupt umgesetzt worden sind. Doch bereits jetzt zeigt sich, wie stark die regionalen Unterschiede sind. Die partei­unabhängige Wohltätigkeitsorganisation Joseph Rowntree Foundation stellte fest, dass die Gemeinden am stärksten betroffen sind, die bereits finanzielle Probleme haben, während reiche Lokalbehörden relativ gut davonkommen.
»Den Nordosten Englands trifft es immer am härtesten«, sagt Mickey Thompson, ein Funktionär der Transportarbeitergewerkschaft RMT. Er sitzt in seinem Büro in South Shields, einer ehemaligen Schiffbaustadt an der Mündung des Flusses Tyne, und spricht mit breitem Newcastle-Akzent. »Schiff- und Bergbau – darauf gründete früher unsere Wirtschaft. Heute jedoch gibt es keine Schwerindustrie mehr«, meint er. Die Schließung der Minen unter Margaret Thatcher habe verheerende Folgen für die Region gehabt. Von der Zerstörung der Communities und der Massenarbeitslosigkeit habe sich der Nordosten bis heute nicht erholt. Die geringen Einkommen und die Arbeitslosigkeit wirkten sich auf den Rest der Wirtschaft aus. »Heute haben wir zwar Starbucks, McDonald’s, Burger King und so weiter, aber Dienstleistungsbetriebe können nur überleben, wenn die Leute auch genügend Geld haben, das sie ausgeben können.« Thompson erzählt von den Problemen der Beschäftigten des regionalen Straßen- und U-Bahnsystems: Die Transportbehörde Nexus habe eine Konzession an die Deutsche Bahn Regio vergeben, die für den Betrieb des Systems verantwortlich sei. Das deutsche Unternehmen habe wiederum einen Reinigungsvertrag mit einem Privatunternehmen, das seinen Angestellten den Mindestlohn von 6,08 Pfund zahle (7,46 Euro), Krankengeld gebe es nicht. Direkt bei Nexus Beschäftigte stünden aber nicht viel besser da. Seit drei Jahren seien ihre Löhne eingefroren, während die Mehrwertsteuer von 17,5 auf 20 Prozent erhöht worden sei. »Zählt man noch die Inflation hinzu, haben sich die Lebenshaltungskosten für die Angestellten massiv erhöht«, erläutert Thompson. Viele junge Leute haben Probleme bei der Jobsuche. Thompsons 20jährige Tochter arbeite Teilzeit, weil sie nichts anderes finde, und müsse wegen ihres geringen Einkommens noch zu Hause wohnen.

Gut möglich, dass der konservative Finanz- und Wirtschaftsminister George Osborne anderes im Kopf hat als das Schicksal von Thompsons Tochter. Obwohl die Wirtschaft seit drei Quartalen schrumpft, das Staatsdefizit nicht sinkt, sondern steigt, der Privatsektor zu wenig investiert und der Internationale Währungsfonds Osborne nahegelegt hat, sein Sparprogramm zu überdenken, weil es die wirtschaftliche Erholung abwürge, lässt er sich von seinem Kurs nicht abbringen. Es sei jetzt nicht an der Zeit umzukehren, sagte Osborne Anfang Oktober, die Austeritätspolitik werde fortgesetzt, im gleichen Ausmaß und mit der gleichen Geschwindigkeit.
Der Widerstand dagegen hält sich noch in Grenzen. Obwohl die konservativ-liberaldemokratische Regierung den öffentlichen Sektor seit zwei Jahren zusammenstreicht, mehr als zweieinhalb Millionen Menschen arbeitslos sind und die Wirtschaft in einer Rezession steckt, hatte es seit anderthalb Jahren keine Demonstration mehr gegen die Austeritätspolitik gegeben. Am Samstag demonstrierten schließlich offiziellen Angaben zufolge wieder über 150 000 Britinnen und Briten in London.