Das schönste Unentschieden aller Zeiten

Vierzuvier, vierzuvier, vierzuvier

Ungeplante Nichtsiege sind die besten, und mit dem Remis gegen Schweden war nicht zu rechnen. Jungle World-Autoren erzählen, wie sie das schönste Unentschieden von allen erlebten.

Die Sehnsucht nach dem »starken Mann«
Kaum hatte Rasmus Elm mit dem vierten schwedischen Tor das unsägliche »Sieg«-Geplärre der deutschen Zuschauer im Berliner Albert-Speer-Stadion endgültig zum Verstummen gebracht, schon wussten die Experten landauf, landab, wie dieser geschichtsträchtige Punktverlust zu vermeiden gewesen wäre: Mit ’nem Führer hätt’s das nicht gegeben! »Was einst Typen wie Beckenbauer, Matthäus oder Klinsmann auszeichnete, nämlich die Kollegen mitzureißen, hat die heutige Generation schier vermissen lassen«, greinte beispielsweise der Herausgeber des Kicker, Rainer Holzschuh, und in zahlreichen Internetforen setzte das Wehklagen darüber ein, dass in Joachim Löws Team ja niemand mehr die Blut-Schweiß-und-Tränen-Fraktion repräsentiere.
Dabei scheinen all jene, die jetzt so laut nach »Führungsspielern« rufen, ein ziemlich schlechtes Gedächtnis zu haben. Zwei Gegentore in der letzten Viertelstunde nach eigener Führung etwa kassierten die Deutschen auch bei der WM 1994 gegen Bulgarien, was für den Weltmeister das Aus bereits im Viertelfinale bedeutete. Zehn Jahre vorher hatten sich »Führungsspieler« wie Rummenigge, Matthäus und Völler um das Halbfinale der Europameisterschaft gebracht, indem sie im entscheidenden Gruppenspiel Sekunden vor Schluss ein Gegentor kassiert hatten. Doch offenbar trübt die Erinnerung an die vermeintlich besseren Zeiten des deutschen Fußballs das Urteilsvermögen bisweilen erheblich.
Zudem geht die Sehnsucht nach dem »starken Mann« nachgerade »ins Pathologische«, wie der Sportjournalist Raphael Honigstein auf Twitter sehr zu Recht befand. »Einen Chef braucht man in der Küche, nicht auf dem Platz.« Denn dort vermögen viele Köche durchaus Schmackhaftes anzurichten, wie insbesondere die spanische Auswahl regelmäßig zeigt.
Alex Feuerherdt
Aus, vorbei, verpasst
Da schaut man einmal, ein-mal nicht hin, und dann das. Statt deutsche Siegeshysterie und moderatorisches Schwedendissen auf der Couch mitzuerleben, schien es vernünftiger, mit netten Leuten richtiges Wiener Schnitzel essen zu gehen. War es auch, schließlich entwarfen wir statt Dessert den coolsten Reiseplan von allen: mit der Transsibirischen Eisenbahn bis Wladiwostok, von dort aus nach China und Japan und Kanada und natürlich in die USA, wo wir einen Extra­schlen­ker nach Dingens machen, weil man dort ganz toll Hummer essen kann. Das war also der Plan, der im Original natürlich weit ausgefeilter war, zumal man Reisen mit der Transsibirischen Eisenbahn vom Zielort aus planen muss, damit man beim Unterwegs-aussteigen und ein, zwei Tage Städte-Besichtigen auch wirklich die richtigen Anschlüsse erwischt. Und dann, wir überlegten gerade, wann wir losfahren müssen, um den Indian Summer mitzubekommen, klingelte das Telefon: »Vierzuvier!« Und nicht nur das, der entscheidende Ausgleichstreffer war auch noch kurz vorm Schlusspfiff gefallen. Schweden wurde dann allerdings trotzdem nicht in den großen Reiseplan aufgenommen, dafür aber per Smartphone gleich nachgeguckt, wie das große Ereignis in Schweden kommentiert wurde. Um es kurz zu machen: Man freute sich sehr, aber vollkommen ohne Häme, was ein bisschen schade war. Beim nächsten Vierzuvier sitze ich dann aber doch wieder auf der Couch. Oder vielleicht in der Transsibirischen Eisenbahn, was aber eher ungünstig wäre, denn Internet gibt’s da anscheinend keines.
Elke Wittich
Ein Couchabend vom Feinsten
Vor einigen Jahren musste ich feststellen, dass ich der perfekte Glücksbringer für jede Mannschaft bin, die im Olympiastadion zu Berlin ein Heimspiel austrägt. Egal wo und wann ich dieses Stadion betrete, die Heimmannschaft gewinnt immer. Die gespenstische Serie begann im Herbst 1998, als meine Tennis Borussia als Gastgeber die im DFB-Pokal im heimischen Stadion auswärtige Hertha mit 4:2 demütigte, das zweitbeste Spiel, dass ich je live erleben durfte. Sie setze sich bei diversen Europapokal-Spielen Herthas, die ich stets im Gästeblock verfolgte, fort und fand ihren unrühmlichen Höhepunkt im Viertelfinale der WM 2006, als es selbst die Argentinier nicht fertigbrachten, Deutschland aus dem Wettbewerb zu kegeln. Ein Horrormärchen und gar schrecklicher Tag. Neben mir stand ein Trottel mit schwarz-rot-goldener Pickelhaube auf dem leeren Kopf, und die Rückfahrt mit der S-Bahn setzte sich sofort an die Spitze der Tabelle der schlimmsten Nahverkehrserlebnisse meines Lebens. Seitdem habe ich mir einen Olympiastadion-Bann auferlegt. Vor zwei Wochen habe ich dies nun zum ersten Mal bereut. Für einen kurzen Moment war ich gar versucht gewesen, ins Stadion zu gehen. Henrik Larsson, die WM 94, Refused sowie ein schöner Sommerurlaub 1993 hatten dafür gesorgt, dass ich schon des längeren eine leichte Schweden-Affinität verspürte. Doch die Vernunft hat gesiegt. Ich wollte mir nun wirklich nichts vorwerfen lassen können. Und so verbrachte ich den schönsten Couchabend seit langem. Die letzte halbe Stunde, in der die Deutschen einbrachen und sich einnässten, Tom Bartels Entsetzen, ein Torschütze namens Lustig, Zlatans One Man Show, Schweinis Gestammel nach dem Abpfiff – all dies war zu schön, um wahr zu sein. Nur im Stadion wär’s noch besser gewesen.
Endi Endemann
Memorial Beat
Beim 3:0 hatte ich resigniert abgeschaltet. Das Spiel war offensichtlich gelaufen, es gab keinen Grund, das unsägliche »Sieg!«-Gebrüll der Zuschauer im Berliner Stadion noch länger zu ertragen. Außerdem gab es Wichtigeres zu tun – bei Glitch (siehe Jungle World 37/2012) wollten Bäume geknuddelt und Krabben bei Laune gehalten werden. Doch zum Glück leben wir in der Social-Media-Ära: Diverse Tore später informierte mich Twitter, dass sich die letzten zehn Minuten des Spiels vielleicht doch noch lohnen könnten, und so kam ich wenigstens noch in den Genuss des 4:4.
80 Millionen deutsche Möchtegern- und ein amtierender Nationaltrainer grübeln nun noch immer über dem Schwedenrätsel, wieso Jogis Jungs plötzlich spielten, als hätte man ihnen in der Halbzeitpause Schwarzgebrannten aus den Wäldern rund um Kiruna ins Wasser gemischt. Ich hingegen lehne ich mich schadenfroh zurück und schaue zu, wie in meinem Glitch-Garten blaue und gelbe Blümchen heranwachsen, um eine schwedische Flagge zu formen.
Schade nur, dass die Schweden nicht auch noch gewonnen haben. Dann wäre ich nämlich sogar bereit gewesen, großzügig zu verzeihen, dass Ikea gerade in Hamburg, quasi direkt vor meiner Haustür, seine welterste innerstädtische Filiale hinklotzt. Aber man kann ja nicht alles haben.
Svenna Triebler
Zlatan!
Ich war gerade in einer Kneipe irgendwo in Duisburg-Hochfeld, als ich das Ergebnis erfuhr, und noch bevor ich irgendetwas über den Hergang des Spiels gelesen hatte, war ich mir sicher, dass eigentlich nur Zlatan Ibrahimović hinter dieser Sensation stecken konnte. In diesem Zeitalter glattpolierter und austauschbarer Musterprofis ist er einer der letzten Stars, die diesen Name noch wirklich verdienen. Messi etwa mag ein hervorragender Fußballer sein, vielleicht einer der besten, die es je gab, aber er ist auch so nett und so zahm wie ein Golden Retriever. Ibrahimović dagegen ist nicht nur ein hervorragender Fußballer, er polarisiert. Es ist fast unmöglich, keine Meinung zu ihm zu haben. In Italien beschimpften ihn Inter-Fans als »Zigeuner«. Der Spiegel nannte ihn »arrogant«, die Süddeutsche »Rüpel«, das Hamburger Abendblatt »Diva« – Worte, aus denen der Neid auf und der Abscheu gegen einen Spieler sprechen, der es wie einst Maradona wagt, auch mal aus der Rolle zu fallen, dem es völlig egal ist, was andere über ihn denken, und der gerade deswegen einer der wenigen Spieler unserer Tage ist, die nicht vollkommen belanglos sind. Einen wie ihn sucht man beim DFB vergebens, nachdem mit Kevin-Prince Boateng der einzige Spieler aus Deutschland, der zurzeit Starpotential hat, weggejagt wurde. Die Folgen sind ebenso traurig wie absehbar. Löws Elf spielt zwar meist guten Fußball, ist aber dennoch so langweilig, dass es schon ein Übermaß an sogenanntem Patriotismus braucht, damit sie einem nicht total egal ist.
Jan Tölva