Boliviens Führung orientiert sich an der Mittelschicht

Das gute Leben reicht nicht für alle

Statt der indigenen Selbstbestimmung und dem Wohl von »Mutter Erde« befördert die in Bolivien regierende »Bewegung zum Sozialismus« unter Evo Morales inzwischen den Bergbau und die industrielle Landwirtschaft.

Vor einigen Wochen durfte sich die Bevölkerung Boliviens an einer glamorösen Veranstaltung erfreuen. Anfang September heiratete der ehemalige Guerillero, linke Intellektuelle und derzeitige bolivianische Vizepräsident, Álvaro García Linera, die Fernsehmoderatorin Claudia Fernández. Gleich einer Prinzessin stand die aus der weißen Oberschicht stammende Fernández neben ihrem ebenso hellhäutigen Gemahl zwischen den Trümmern Tihuanacos, einer antiken indigenen Kultstätte, während um sie herum Menschen in Ponchos in Muscheln bliesen und Blätter verbrannten und ihre Kolleginnen vom Fernsehen die stundenlange Live-Übertragung nutzten, um das von einem französischen Designer entworfene und mit indigenen Symbolen bestickte Brautkleid zu loben.
Die peinliche Show diente der »revolutionären« Regierung von Evo Morales in vielerlei Hinsicht, um ihren Frieden mit dem Establishment zu schließen. Selbst ihr wichtigster Ideologe, García Linera, ist nun zu den Werten jener Klasse zurückgekehrt, der er entstammt. Gleichzeitig stand die Veranstaltung sinnbildlich für das, was von dem kulturellen Projekt der Regierung übriggeblieben ist: Die Inszenierung des Indigenen, die einst einen subversiven Charakter hatte, da sie Boliviens rassistische Gesellschaftsordnung in Frage stellte, wird zu belangloser Folklore.

Boliviens politische Führung inszenierte damit symbolisch, was sie praktisch schon vor geraumer Zeit begonnen hat: die Orientierung an der Mittelschicht und den Schulterschluss mit den konservativen Kräften insbesondere im Osten des Landes. Gleichzeitig hat sich die Regierungspartei der »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) stetig von jenen Bevölkerungsgruppen entfernt, die sie 2006 an die Macht gebracht hatten. Das Verhältnis zwischen der selbsternannten »Regierung der sozialen Bewegungen« und den Bewegungen selbst ist schon seit 2009 angespannt. Damals änderte die Regierung gemeinsam mit der rechten Opposition ohne jedes demokratisches Mandat den von der Verfassungsgebenden Versammlung verabschiedeten Verfassungstext teilweise stark ab. Spätestens seit der Wiederwahl von Morales im selben Jahr ist die Politik des MAS immer stärker hierarchisch organisiert.
Zum endgültigen Bruch der indigenen Organisationen mit der Regierung kam es im vergangenen Jahr. Nachdem die Regierung trotz Protesten an ihren Plänen festhielt, eine Überlandstraße quer durch das im Amazonasgebiet gelegene »Indigene Territorium und Nationalpark Isiboro Sécure« (Tipnis) zu bauen, veranstalteten die wichtigsten indigenen Organisationen des Landes einen Protestmarsch vom Departamento Beni im Osten bis zum Regierungssitz La Paz. Sie befürchteten den Zustrom von Kokabauern aus dem Hochland, die bereits einen Teil des Tipnis gerodet haben, sowie eine Zunahme illegaler Abholzung. Die Regierung des »ersten indigenen Präsidenten Boliviens« ließ sich jedoch nicht auf Verhandlungen mit den vor allem aus dem Tiefland stammenden Indigenen ein. Stattdessen versuchte sie, die Marschierenden zunächst mit einer Verleumdungskampagne aufzuhalten, schließlich wurden sie von der Polizei angegriffen und gewaltsam in andere Landesteile gebracht. Den darauf folgenden enormen Solidaritätsbekundungen hatte die Regierung aber nichts entgegenzusetzen, so dass sie sich Ende vorigen Jahres gezwungen sah, den Bau der Straße durch das indigene Territorium per Gesetz zu untersagen. Nur wenige Tage später setzte sich allerdings ein vermutlich von der Regierung selbst initiierter zweiter Protestmarsch in Bewegung, mit dem der Straßenbau nun doch durchgesetzt werden sollte. Die Lösung des Gesetzgebers, ein Referendum über den Bau abzuhalten, lehnten die indigenen Organisationen des Tipnis ab. Sie argumentierten, dass es sich erstens nicht, wie vom internationalen Recht vorgesehen, um eine »vorherige Befragung« handele, da die beiden schon existierenden Teilstücke der Straße mittlerweile bis an die Grenzen des Tipnis reichten. Überdies befürchteten sie, dass sich die Regierung in den Entscheidungsprozess einmischen könnte.
Mit ihren Vorbehalten sollten die Organisationen Recht behalten: Seit Mitte dieses Jahres tingeln Vertreterinnen und Vertreter der Regierung durch die indigenen Gemeinden des Tipnis und verschenken Handys, Außenbordmotoren und Parabolantennen. Ende August rief Morales ein 800 Soldaten starkes »Ökologisches Bataillon« ins Leben, das seinen Stützpunkt mittlerweile im Tipnis errichtet hat. Berichte, denen zufolge unliebsame Autoritäten der indigenen Gemeinden einfach abgesetzt und Dokumente des Referendums gefälscht werden, häufen sich. Nach Angaben der indigenen Organisationen befinden sich über die Hälfte der knapp 70 Gemeinden des Tipnis im aktiven Widerstand gegen das Referendum. Die Regierung erklärte hingegen kürzlich, über zwei Drittel der indigenen Gemeinden des Nationalparks hätten dem Bau der Überlandstraße zugestimmt. Zwar soll die Befragung noch bis Jahresende andauern, dennoch hat Morales im Oktober den ersten Vertrag für die Fertigstellung der Straße unterschrieben – den Zuschlag erhielt eine Straßenbaufirma, die Kokabauern gehört.

Eine Strategie der Spaltung und Repression verfolgt die bolivianische Regierung auch auf nationaler Ebene. Im Juli besetzten Polizisten und Soldaten die Geschäftsräume der Cidob, der wichtigsten Organisation der indigenen Gruppen des Tieflandes, nachdem deren Führungsriege von regierungstreuen Gruppen entmachtet worden war. »Wir haben jetzt zwei Cidob«, erklärt der indigene Aktivist Leandro Candapei, »eine, die die indigenen Gemeinden repräsentiert, und eine zweite, die die Regierung repräsentiert.«
Wie die Regierung des 2009 zum »plurinationalen Staat« erklärten Bolivien ihre Politik in Zukunft durchzusetzen gedenkt, zeigt auch die Entstehung des Mitte Oktober erlassenen »Rahmengesetzes der Mutter Erde und integralen Entwicklung zum Guten Leben«. Es gehe um einen Ausdruck der »Denk-, Produktions- und Lebensweise der originären indigenen Nationen«, sagte García Linera. Deren Auslegungen der Konzepte von »Mutter Erde« und »Gutem Leben« sind weitgefächert. Sie reichen von reaktionärem Ethnonationalismus bis zu ernstzunehmender Kapitalismuskritik. Im Gesetz ist ständig von der »Mutter Erde« die Rede, der man huldigen solle, letztlich geht es aber darum, dass der Staat die Nutzung der Ressourcen verwaltet. Die Grundlagen des Entwicklungsmodells der Regierung, das vor allem auf der Förderung von Bodenschätzen und der Ausweitung industrieller Landwirtschaft beruht, sind dort ebenso festgehalten.
Indigene Organisationen indes erklärten, sie seien bei der Erarbeitung des Rahmengesetzes übergangen worden. Durch dieses wird nicht nur der Import genetisch manipulierten Saatguts erlaubt, vor allem erkennt es indigenen Gruppen kein Recht auf eine gesetzlich bindende Mitbestimmung im Falle von Großprojekten in ihren Territorien zu. Damit unterhöhlt es eine der Grundlagen des »plurinationalen« Staatmodells: die indigene Selbstbestimmung. »Das Gesetz ist vor allem dazu bestimmt, der Regierung die Fortführung des extraktivistischen Entwicklungsmodells zu ermöglichen«, resümiert der indigene Intellektuelle und Sprecher der Koordination der indigenen Organisationen des Amazonasbeckens, Carlos Mamani. »Die Regierung redet vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts, doch die Rechte der Bauern und indigenen Völker Boliviens werden dabei vollkommen ignoriert – stattdessen stellen wir uns heute dem Kolonialismus des 21. Jahrhunderts entgegen.«