Über das Buch »Versuch über den Stillen Ort« von Peter Handke

Mal eben verschwinden

Peter Handke hat das Klo als kontemplativen Ort entdeckt und daraus sein eindringlichstes Buch seit Jahren gemacht.

Weniges ist einfacher, als sich über Peter Handke lustig zu machen. Wer Falter und Feldblumen beschreibt, als seien sie einer romantischen Idylle entsprungen, wer sich den Glauben an die wahre Empfindung nie hat austreiben lassen, wer von einer Zeit weiß, als das Wünschen noch geholfen hat, und sich freimütig zum Bewohner des Elfenbeinturms erklärt, der kann, darin sind sich PoMos und Adornos des 21. Jahrhunderts einig, nicht ganz dicht sein. Darauf würde Handke vielleicht in der für ihn charakteristischen Mischung aus geduldigem Ernst und Mut zur unfreiwilligen Komik antworten, wer sich der unreglementierten Erfahrung öffnen wolle, dürfe überhaupt nicht dicht sein, sondern müsse die Dinge an sich heranlassen. Augenblicke der Ekstasis, der entzückten wie schockhaften Selbstüberschreitung, prägen seine Literatur seit ihren sprachexperimentellen Anfängen, und die Sehnsucht nach ihnen lässt ihn noch im epischen Alterswerk durch Niemandsbuchten und serbische Winterlandschaften streifen. Doch während in Handkes Prosa der frühen siebziger Jahre, besonders in der Erzählung »Die Angst des Tormanns beim Elfmeter«, einem der bis heute bezwingendsten Texte der Moderne, destruktive, ja psychotische Formen der Selbstentäußerung im Mittelpunkt stehen, hat sich seit den Neunzigern der Schrecken aus seinen Werken zurückzogen und ist allenfalls als zarter Hauch aus einer fernen Welt zu spüren. Der Übergang vom Schock zur Epiphanie, vom Grauen zur Spiritualität, der eine Folge von Handkes Hinwendung zur vermeintlich biedermeierlichen Beschreibungsliteratur in der Tradition von Adalbert Stifter war, wird seither als Beweis für seine künstlerische Zurückgebliebenheit angesehen.
Doch anders als bei öden Neoklassizisten wie Durs Grünbein und Martin Mosebach blieb Handkes Hinwendung zum hohen Ton und zur schönen Form stets erkennbar als Reaktion auf die überwältigende Dummheit und Hässlichkeit der Welt. Bei allem Pfäffischen, Wanderpredigerhaften, das seinem späten Werk oft eigen ist, blieb er ein Individualist, der allein in eigener Sache spricht. Seine ebenso unbestechliche wie weltfremde Parteinahme für Serbien im Jugoslawien-Krieg, die ihm bis heute übelgenommen wird, war dafür der deutlichste Beweis. Prägnanter als in Handkes Romanen kommt der Anspruch, das Unwiederholbare, Inkommensura­ble zu erfassen, in den »Versuchen« zum Ausdruck, einer Reihe poetischer Essays, die er seit den späten achtziger Jahren ästhetisch vernachlässigten Gegenständen widmete: 1989 der »Versuch über die Müdigkeit«, 1990 der »Versuch über die Jukebox« und 1991 der »Versuch über den geglückten Tag«. Nun hat er, wie um dem Eindruck einer abgerundeten Trilogie zu widersprechen, einen kuriosen Hybrid über den unpoetischsten und poetischsten Stoff aller »Versuche« nachgereicht, den »Versuch über den Stillen Ort«. Es ist ein Text über das Profane und das Heilige, das Höchste und Niedrigste zugleich. Ein Buch über Klos als Orte der Sammlung und des Rückzugs.
Was bei jedem zeitgenössischen Satiriker oder Hymniker zu Scheiße würde, wird bei Handke zu Gold. Sein Toilettenherbarium versammelt Reflexionen über Klos aus Kärnten und Berlin, Japan und Frankreich, über Plumps- und Uni­klosetts, Friedhofs-, Bahnhofs- und Krankenhaustoiletten. Der Abwechslungsreichtum der von Handke im Laufe seines Lebens aufgesuchten Klos ruft überhaupt erst ins Bewusstsein, dass man die stillen Orte bislang insgeheim in all ihrer Vielfalt als irgendwie gleichförmig wahrgenommen hat, ganz einfach, weil alle irgendwann dorthin müssen, um mehr oder weniger Ähnliches zu tun. Dem verächtlichen Vorurteil, dass zumindest vor dem Scheißhaus alle gleich sind, stellt Handke ein emphatisches Verständnis der Toilette als Ort individuellen Rückzugs entgegen, den man weniger aus Notdurft denn aus freiem Entschluss aufsucht. Urbild des stillen Ortes ist für ihn die Toilette des katholischen Internats, in dem er sich als Neuling, unter der Qual des scheinbar endlosen Abendgebets, beim Hinsetzen an den Esstisch in die Hosen gepinkelt hat. Erst danach, allein in der Nacht, hat er die Toilette des Internats aufgesucht, die er nach seiner öffentlichen Blamage als Residuum von Intimität und Freiheit empfand: »Ich habe kein Licht angeschaltet beim Eintritt, (…) bin nur im Stockfinstern gestanden, umgeben von dem Rauschen, einerseits von den Pissoirs, andererseits aus ein, zwei der Kabinen, wo die Spülung undicht war. Lange habe ich mich nicht von der Stelle gerührt. Meine Notdurft war ja, wohl oder übel, schon woanders verrichtet. Aber das dort war jetzt der Ort für eine ganz verschiedene Not, und da zu bleiben hat die (… ) gestillt, zumindest fürs erste – für den Anfang im Internat. Erstmals war ich es, war es meine Person, um die es ging an dem Stillen Ort. (…) Was so sich hören ließ, war nicht allein das vielerlei Rauschen, innerhalb und außerhalb der gleichbleibend kalten Mauern, vielmehr das (…) gedämpfte Lärmen (…) der Mitzöglinge oben in den Etagen, welches derart nicht mehr als Lärm ankam, nicht mehr als Gegell und Gebrüll, sondern, für Momente, fast als etwas Heimeliges, fast.«
Das Rauschen, bei Eichendorff noch ein romantischer Naturtopos, in dem sich die Selbsttranszendenz des Subjekts reflektierte, hat sich von den Wäldern und Bächen in die kaputte Klosettspülung zurückgezogen. Die glückliche Selbstvergessenheit, die sich in der romantischen Literatur auf Gipfeln und Lichtungen ereignete, kann nur mehr dort statthaben, wohin jeder geht, wenn er muss, um nicht länger zu bleiben als nötig. Die Toilette ist der Ort der wirklichen Einkehr inmitten der klösterlichen Abgeschiedenheit, die in Wahrheit längst keine mehr ist. Das Lachen, das dieses Abrutschen naturlyrischer und mystischer Metaphern in den Orkus hervorruft, reagiert auf die traurige Einsicht, dass die Sphäre bloßer Notdurft zum letzten Rückzugsort intimer Individualität geworden ist. Weil diese Einsicht der leitende Gedanke seines Versuchs ist, und nicht wegen einer albernen Vorliebe für Sprachpreziosen, bevorzugt Handke die Bezeichnungen »Abort« und »Abtritt«, die den privativen und zugleich heimeligen Charakter des Ortes hervorheben. Deshalb beginnt er seinen Text mit der Reverenz an einen Roman A. J. Cronins, dessen Protagonist die Toilette immer dann aufsucht, wenn »ihm die Gesellschaft der anderen, der Erwachsenen, der Familie, über wird«; deshalb schließlich endet er mit der Erinnerung an eine Toilettenerfahrung, in der das »Toben und Kreischen draußen« sich mit einem Mal verwandelt habe in ein »Weltgeräusch«.
Mal eben zu »verschwinden«, wie der von Handke geschätzte Euphemismus für den Klogang lautet, ist auch der innerste Wunsch seiner Dichtung, und indem er ihn unbeirrt verfolgte, hat er sich von der Niemandsbucht ins WC verirrt. Berührend ist, mit welchem Ernst er der schalen Komik trotzt, die mit dem Sujet verbunden ist, und jede Häme an sich abprallen lässt. Dieser Ernst wäre kaum möglich ohne den heterodoxen Katholizismus, der seinen Versuch grundiert. Nicht zufällig spielen neben Friedhofstoiletten auch Beichtstühle eine Rolle, die genau besehen ja tatsächlich nichts anderes sind als Klosetts für die Seele. Der Abort figuriert bei Handke als ihr letzter säkularisierter Rest. Dass das Kloster im Klo zu sich selbst kommt – nie ist das so eindringlich, bar aller plumpen Blasphemie, in Worte gefasst worden.

Peter Handke: Versuch über den Stillen Ort. Suhrkamp, Berlin 2012, 110 Seiten, 17,95 Euro