Reformieren!

Neustart für mehr Effektivität!

Der Verfassungsschutz bedarf einer radikalen Umstrukturierung. Abschaffen lässt er sich nicht.

Der Verfassungsschutz steht zu Recht im Zentrum heftiger Kritik. Es ist die unheimliche Heimlichkeit der Geheimdienste, die die Forderungen nach ihrer Abschaffung beflügelt. Das Gegenmittel zur fehlenden Kontrolle ist aber nicht Abschaffung, sondern eine radikale Reform.
Die Aufgabe, die Verfassung zu schützen, besitzt Verfassungsrang. Die Aufgabe als solche kann nicht abgeschafft werden. Denn die »Ewigkeitsklausel« im Grundgesetz verbietet es sogar dem Parlament, bestimmte Grundsätze unserer Verfassung (wie die Menschenrechte und den Sozialstaat) abzuschaffen. Wenn diese Grundsätze selbst vor dem Parlament geschützt sind, müssen sie erst recht vor einem gewaltsamen Umsturz bewahrt werden.

Der bisherige Verfassungsschutz ist dafür völlig ungeeignet. Der Dienst arbeitet auf Grundlage rechtsstaatlich höchst fragwürdiger Gesetzesvorschriften, die unsere Gesellschaft immer stärker in einen »Überwachungsstaat« verwandeln. Nach dem 11. September 2001 ist unser Freiheitsverständnis ins Wanken geraten. Immer häufiger wird die Freiheit aus Gründen vermeintlicher Sicherheit beschnitten. Die gesetzlichen Vorschriften sind so unbestimmt, dass die Dienste de facto »Narrenfreiheit« haben.
Außerdem überwacht der Verfassungsschutz oftmals ausgerechnet Personen, denen die Aufrechterhaltung und Stärkung der Grundrechte am Herzen liegt. Dies ist der Fall, wenn es um Proteste gegen Neonaziaufmärsche geht. Mit dem Begriff des »Linksextremismus« wird zivilgesellschaftliches Engagement für mehr Demokratie gebrandmarkt. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und linke Wissenschaftler, wie Andrej Holm und Rolf Gössner, geraten in das Visier des Verfassungsschutzes. Immer noch werden Mitglieder und Abgeordnete der »Linken« überwacht. Gleichzeitig konnte der NSU – trotz zahlreicher V-Leute in der Neonaziszene – ungestört Mordtaten planen und begehen. Noch nie wurde der Verfassungsschutz evaluiert. Ob er als Frühwarnsystem taugt, ist völlig offen.
Die Geheimdienste entziehen sich gegenwärtig einer wirksamen Kontrolle. Ein parlamentarisches Gremium mit nicht einmal einem Dutzend Mitgliedern ist nicht in der Lage, über die Kontrolle dreier Geheimdienste zu wachen. Bisher lässt es die Gesetzeslage zu, dass Kontrollumfang und Kontrolltiefe allein in der Hand der Regierungsfraktionen liegen, weil Minderheitenrechte fehlen. Das ist so, als würde der Angeklagte in seinem Prozess über den Umfang der Beweisaufnahme entscheiden. Ein Freispruch wäre so gesichert.
Es bedarf einer radikalen Reform der Arbeits- und Kontrollstrukturen des Verfassungsschutzes. Nur durch einen solchen »Neustart« wäre eine staatliche Behörde möglich, die effektiv vor Angriffen auf Verfassungsgrundsätze (Rechtsstaat, Sozialstaat etc.) und Grundrechte schützt. Eine Behörde, die zum Beispiel Mordtaten wie die des NSU durch Vorfeldbeobachtung verhindert. Ein solches Amt hätte – wie immer man es nennt – wenig mit den heutigen Verfassungsschutzämtern gemein.

Es müsste eine radikale Reform und Umstrukturierung stattfinden. Hierzu gehört eine umfassende Überarbeitung der Rechtsvorschriften für die Nachrichtendienste. Die administrative Kontrolle gehört massiv verstärkt. Hieran muss sich eine lückenlose parlamentarische Kontrolle anschließen. Die Demokratie darf keine kontrollfreien Räume zulassen. Ein Geheimdienstmitarbeiter darf nicht mehr wissen als ein Abgeordneter.
Eine solche reformierte Institution muss effektiv arbeiten können. Die Arbeit darf nicht an den Ländergrenzen der Bundesländer aufhören. In begrenztem Maße müssen auch nachrichtendienstliche Mittel zur Verfügung stehen. Denn die gewaltsamen Gegner unseres Verfassungssystems und der Grundrechte werden regelmäßig geheim agieren. Freilich gibt es nachrichtendienstliche Befugnisse, auf die verzichtet werden kann und muss. Eines davon ist der Einsatz von V-Leuten, denen gegen staatliche Zahlung ein »ehrliches Verraten« abverlangt wird. Auch unverhältnismäßige Eingriffe in die Freiheitsrechte wie Onlinedurchsuchungen gehören abgeschafft.
Wenn Abschaffungsbefürworter die Aufgabe, die Verfassung zu schützen, der Polizei übertragen wollen, geraten sie in einen nicht behebbaren Konflikt mit dem sogenannten Trennungsgebot. Dieses fordert eine strikte Trennung zwischen Polizei und Geheimdiensten. Demnach soll die Polizei zwar viel tun dürfen, aber nicht alles wissen. Der Geheimdienst darf viel wissen, aber nicht alles tun. Wer nun beides vermischt, der sorgt für Polizisten, die mit voller exekutiver Macht die Überwachung der politischen Gesinnung betreiben können. Das gab es schon einmal. Es war an Unheimlichkeit nicht zu übertreffen.

Der Autor war von 2002 bis 2005 Richter am Bundesgerichtshof. Seit 2005 ist der parteilose Politiker Abgeordneter des Deutschen Bundestags für die Linkspartei. Sein vollständiges Positionspapier zur Reform des Verfassungsschutz kann im Internet nachgelesen werden: