Verlassene Fabriken in Genua

Relikte des Industriezeitalters

In der italienischen Stadt Genua befand sich eine der größten Industrieansiedlungen Europas. Doch seit den neunziger Jahren kriselt die Stahlindustrie und auch infolge der gegenwärtigen Wirtschaftskrise wurden viele Fabriken geschlossen. Ein Bericht über die Geschichte der Industrie in Genua und die Entwicklung der indus­triellen Arbeit in Italien.

Vom Val Polcevera wird ein gewöhnlicher Tourist, der Genua besucht, wohl kaum etwas zu sehen bekommen. Eher wird er sich an der Altstadt Genuas erfreuen – die größte zusammenhängende Altstadt Europas – und die Yachten im porto antico, dem alten Hafen, bewundern. Dass sich in diesem Tal eine der größten Industrieansiedlungen Europas befand, lässt sich heute kaum noch erahnen. Das alte Hafengebiet hat Stararchitekt Renzo Piano in eine Touristenattraktion verwandelt. Einige der alten Krananlagen bilden ein dekoratives Ambiente, ein großer Silo, der 1901 eingeweiht wurde und das erste mit Stahlbeton errichtete Gebäude Europas war, ist auch noch zu sehen.
Näherte man sich bis vor wenigen Jahren der Stadt vom Westen her, konnte man die Schlote der Industrieanlagen dennoch nicht übersehen. Nach dem Strukturwandel, der ähnlich wie in anderen europäischen Städten verlief, jedoch hier etwas später einsetzte als im Ruhrgebiet, mussten viele Fabriken schließen. Die Umwandlung dieser Gebiete ist noch lange nicht abgeschlossen, in einigen Gegenden trifft man noch auf Ruinen und Brachen, da es trotz Zuschüssen von der EU an Mitteln fehlt, um alle Gebäude und Flächen zu sanieren.
Neben der Stahlproduktion gibt es in Genua noch einige weitere bedeutende Industrien. Die Firma Ansaldo etwa stellt heute unter anderem Züge und Signalsysteme für den europäischen und asiatischen Markt her, ihre Tochterfirma Ansaldo Energia baut Kraftwerke.
Auch die chemische Industrie spielte früher in Genua eine große Rolle. In der Fabrik Mira Lanza, die im Stadtteil Bolzaneto gelegen ist, wurden Waschmittel hergestellt. In den sechziger und siebziger Jahren war diese Firma Marktführerin für Waschmittel in Italien und beschäftigte mehr als 2 000 Personen.
Heute befindet sich diese Fabrik in einem Zustand malerischen Verfalls. Einen ähnlichen Anblick bieten die Reste einer Gießerei im Stadtteil Multedo, deren zweckmäßige Architektur das Industriezeitalter in Erinnerung ruft.
Die großen Anlagen der Petrochemie, die mit ihren riesigen Tanks einst das Stadtbild prägten, sind heute teilweise noch zu sehen. Typisch für die Stadt sind außerdem zahlreiche Tunnel für Fußgänger und Brücken, die aufgrund der besonderen geographischen Lage von Genua gebaut werden mussten, um Täler oder auch Eisenbahnlinien und Flüsse zu queren.
In Certosa, einem Arbeiterviertel im Val Polcevera, erzählt Venanzio Maurici von der Gewerkschaft CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro) von der Geschichte der Industrie in Genua, die exemplarisch für die Entwicklung der industriellen Arbeit in Italien ist: »Die Nachfrage nach immer neuen Produkten hat zu neuen Industriezweigen geführt«, sagt er und schildert die Veränderungen in der Chemieindustrie, als in den sechziger und siebziger Jahren plötzlich nicht mehr nur Seifen hergestellt wurden, sondern Waschmittel und Reinigungsmittel aller Art auf dem Markt kamen. »Um diese Nachfrage zu befriedigen, entstanden in Cornigliano und Bolzaneto riesige Produktionsanlagen, und um diese herum wurden ganze Viertel gebaut, in denen die Arbeiter wohnten.«
Die Firma Ansaldo errichtete große Produktionsanlagen zum Bau von modernen Signalanlagen für Hochgeschwindigkeitszüge. Die häufig sehr schnell, innerhalb weniger Jahre vor sich gehenden Umwälzungen betrafen nicht nur den Hafen, der sich durch die Einführung der Container veränderte, sondern haben die gesamte Stadt geprägt.

»Bis in die vierziger Jahre waren große Teile der Industrie mit der Produktion von Waffen beschäftigt«, erzählt Maurici. »Den eigentlichen Höhepunkt der Produktion erlebte Genua erst danach, in den sechziger und siebziger Jahren, nachdem dieselben Produktionsstätten für zivile Produkte weiter genutzt und ausgebaut wurden.« Oder wie es der Arbeiter Paolo Mandato* auf den Punkt bringt: »Bei Ansaldo wurde einfach alles produziert: Eine Zeit lang waren es Waffen, dann Turbinen, wir haben eben einfach hergestellt, was gerade gebraucht wurde. Alle haben sich darauf eingestellt.« Durch die veränderten Marktbedingungen in Europa, die spätestens Ende der achtziger Jahre einen Niedergang der Schwerindustrie einleiteten, wurde ein Strukturwandel nötig.
»Mit der Abwicklung der Umwandlung von industriellen Gebäuden und Flächen wurde eine staatliche Holding beauftragt, die in den dreißiger Jahren von Benito Mussolini gegründet worden war«, führt Maurici aus. Diese Einrichtung war das Institut für den Industriellen Wiederaufbau, das IRI (Istituto per la Ricostruzione Industriale).
Zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg hatte diese Holding die Aufgabe, den Konkurs der wichtigsten italienischen Banken zu verhindern, die damals kurz vor dem Kollaps standen. Das war die Folge der Weltwirtschaftskrise von 1929 und auch der Krise der Schwerindustrie, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges einsetzte, als die zuvor stark ausgebauten Waffenproduktionsstätten nicht mehr benötigt wurden.
In den achtziger und neunziger Jahren gelang es dem IRI, zahlreiche Flächen und Gebäude einer neuen Nutzung zuzuführen. Fabriken wurden zum Beispiel in Einkaufszentren umgewandelt, teilweise aber auch von neuen Unternehmen genutzt – häufig von kleineren Start-ups aus der Medien- oder Dienstleistungsbranche. Ende der neunziger Jahre wurde allerdings der Beschluss gefasst, die staatlichen Beteiligungen an der Industrie nach und nach abzuschaffen, und das IRI wurde im Jahr 2000 schließlich aufgelöst.

Francesco Napoletano* war als Arbeiter direkt von allen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte betroffen, vielleicht hat er deswegen eine sehr pragmatische Sicht auf seine Lebens- und Arbeitssituation. Er denkt vor allem an den Verlust von Arbeitsplätzen. Er erinnert in diesem Zusammenhang an ein Referendum im Jahr 1987, eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen es durch massive Proteste gelang, eine direkte Beteiligung der italiensichen Bürger an politischen Entscheidungen zu erreichen. Bei dem Referendum, das unter dem Eindruck des Reaktorunfalls in Tschernobyl abgehalten wurde, ging es unter anderem darum, ob sich die damalige staatliche Energiebehörde Enel (Ente Nazionale per l’Energia Elettrica) weiterhin an der Entwicklung von Atomkraftwerken im Ausland beteiligen dürfe. Mehr als 71 Prozent sprachen sich gegen eine solche Beteiligung aus. Napoletano macht eine andere Rechnung auf: »Die Produktionsstätten für Bauteile an Kraftwerken und auch die Verarbeitung von radioaktiven Stoffen wurden daraufhin nach Frankreich verlagert«, erzählt er auf einen Spaziergang entlang des Polcevere, der an den Ansaldo-Fabriken vorbeiführt, »damit sind für Genua die Arbeitsplätze verloren gegangen.« Gäbe es jedoch in Frankreich einen Atomunfall, wäre auch er in Italien davon betroffen. Seine Ansicht, dass der Erhalt von Arbeitsplätzen über alles geht, ist möglicherweise nicht typisch für die Arbeiter und die Bewohner Genuas, jedoch ist sie symptomatisch für einige der gegenwärtigen Konflikte. Soll die Gesundheit der Arbeiter und der Bevölkerung im Mittelpunkt stehen oder sollen die Arbeitsplätze auch um den Preis einer verschmutzten Umwelt erhalten bleiben?
Anders als bei »saubereren« Hightech-Produktionen stellt sich diese Frage in Genua derzeit auch für eine andere bedeutende Firma, nur ist die Lage hier noch etwas komplizierter: Es geht dabei um die Hochöfen der Firma Ilva, bei der Napoletano selbst im Logistik-Bereich beschäftigt ist. Die großen Probleme, vor denen die Firma steht, veranschaulichen beispielhaft eine Fehlentwicklung der vergangenen Jahre. Nach einigen unabhängigen Untersuchungen zur Messung der Umweltbelastungen, die von den Hochöfen der Firma ausgingen, stand zu Beginn des neuen Jahrtausends endgültig fest, dass die Stahlproduktion für einige Krankheitsbilder, unter anderem eine bestimmte Krebsform, sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den Arbeitern verantwortlich ist. Auch die Beschäftigten waren sich nach einiger Zeit darin einig, dass die einzig mögliche Konsequenz daraus die Stilllegung der Hochöfen in Genua-Sampierdarena sei. Die stillgelegten Hochöfen wurden schließlich 2007 abgerissen.

Das Problem mit den hochtoxischen Emissionen wurde damit allerdings nicht gelöst, stattdessen wurde die Produktion kurzerhand komplett nach Süditalien verlagert, nach tarent in Apulien. Anstatt zumindest zu diesem Zeitpunkt über neue Installationen und Nachbesserungen an den Hochöfen nachzudenken, wurde in Apulien unter genau den gleichen Bedingungen weiter produziert wie zuvor in Genua. In Genua dagegen wurde der in Apulien produzierte Stahl weiter verarbeitet, wodurch der Stadt eine große Anzahl von Arbeitsplätzen erhalten werden konnte.
Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis in Tarent dieselben Probleme auftraten, die bereits von der Produktion in Genua bekannt waren, zumal die Hochöfen in Tarent ebenfalls im Stadtgebiet liegen.
Anfang Oktober wurde der Firma von der örtlichen Staatsanwaltschaft ein Ultimatum gestellt, welches die Produktion in Tarent ebenfalls zum Stillstand bringen könnte. Innerhalb von fünf Tagen sollten die Hochöfen in Apulien abgeschaltet werden. Bereits am Tag darauf meldeten sich in der Presse allerdings einige Techniker, die darlegten, dass ein Hochofen nicht einfach innerhalb von fünf Tagen stillgelegt werden könne, sondern dass man, um eine kontrollierte Abschaltung zu gewährleisten, mehrere Wochen benötige.
Sollte es wirklich zu einer Stilllegung kommen, wäre die Firma Ilva in Genua ebenfalls gefährdet, da man dort zu 100 Prozent von den Stahllieferungen aus dem Süden abhängig ist. Dabei geht es um rund 1 600 Arbeitsplätze in Genua. Die Beschäftigen der Firma Ilva organisierten daraufhin einen Streik und einen Protestmarsch von der Fabrik in Sampierdarena zum Salone Nautico im Zentrum der Stadt. Doch auch die Arbeiter sehen natürlich die Probleme, die aus der extremen Umweltbelastung durch den Betrieb der Hochöfen resultieren. Aus den Hochöfen austretendes Dioxin und Benzopyren, das sich als feines Pulver auf die Stadt legt, gehörte auch in Genua vor bis vor kurzem noch zum Alltag.

* Namen von der Radktion geändert