War bei der Räumung eines Protestcamps von Flüchtlingen in Amsterdam dabei

»Wir sind Flüchtlinge, nicht obdachlos«

In den Niederlanden ist eine besondere Sans-Papiers-Bewegung entstanden: Es sind die abgelehnten Asylsuchenden, die in verschiedenen Städten Protestcamps organisieren. Vergangene Woche wurde ein Zeltlager in Amsterdam nach zwei Monaten geräumt.

Am Ende verhökert der Bürgermeister All-inclusive-Angebote. So scheint es zumindest, als er dort auf den Stufen vor der leeren Schule steht, umringt von einer Menschenmenge mit Kapuzen, Mützen und hochgezogenen Schultern. »Bett, Bad und Brot« hat er im Angebot, drei unschlagbare Argumente, wie er findet. Jedes dieser drei Worte hinterlässt eine Atemwolke, die wie ein Ausrufezeichen in der eiskalten Luft steht. »Fünf Wochen Unterkunft«, unternimmt Eberhard van der Laan noch einen Versuch, »bis zum 2. Januar, in kleinen Grüppchen. Sie können also mit Ihren besten Freunden zusammenbleiben.« Und dann fügt er noch an: »Sie werden dort gut versorgt, dafür garantiere ich.«
Kein Zweifel, so klingt das Ende. Jeder hier weiß: Dies ist der letzte Abend des Camp in Osdorp, einem Stadtteil im tiefsten Westen von Amsterdam. Zwei Monate lang haben die Asylsuchenden, die meisten aus afrikanischen Ländern, dort gewohnt. Die Gruppe ist immer größer geworden: Am Anfang waren es nur 20, am Ende mehr als 130. Genau darum will die Stadt das Zeltlager nun räumen. Zu viele Menschen auf kleinem Raum, so heißt es, schlechte Hygiene auf dem Gelände, das drei rote Plastiktoilettenhäuschen hat, aber keine einzige Dusche, und auch verdorbenes Essen seien die Gefahren. Ein Gericht bestätigte diesen Zustand vor einigen Tagen, und darum kommt der Bürgermeister nun mit dem letzten Angebot: vorübergehende Unterbringung in Notunterkünften oder Räumung und Festnahme früh am nächsten Morgen.
Eine Stunde bleibt den Bewohnern des Camps, sich zu entscheiden. Spannend ist das nicht, die Entscheidung ist längst gefallen. »Was passiert nach dem 2. Januar?« fragt jemand, und der Bürgermeister, ein Sozialdemokrat, von dem alle sagen, dass er eigentlich ein guter Mann sei, legt seine Stirn in Falten. »Das ist eine schwierige Frage. Darauf habe ich keine Antwort.« Dann strecken sich ihm die Mikrophone entgegen und van der Laan spricht dort hinein, er wolle »alles getan« haben. Selbst um ein paar hölzerne, freundliche Schlussworte ist er bemüht: »Dann nehmen wir jetzt Abschied voneinander. Ich wünsche Ihnen das Allerbeste.« Bizarr wirkt das. Wahrscheinlich, weil er es wirklich so meint.

Als das Ultimatum der Stadt abläuft, hängt hier und da Essensgeruch über dem einstigen Schulhof. Ein Kochzelt gibt es nicht, warme Mahlzeiten werden von den Nachbarn aus den neunstöckigen Wohnblocks rundum gebracht. Die wenigen Sitzgelegenheiten sind weiße Campingstühle. Ein Mann aus Somalia beugt sich im Stehen über seinen Plastikteller. Natürlich blieben sie alle, sagt er: »Wir schlafen hier noch eine Nacht, dann kommen sie uns holen.« Beeindruckt ist er davon offenbar kaum und in die Notunterkunft treibt ihn diese Aussicht ganz sicher nicht: »Wir sind Flüchtlinge, nicht obdachlos.«
So manche hier haben an diesem Tag ihre Bekanntschaft gemacht mit Notunterkünften. Mehrere Kommunen in den Niederlanden hatten Betten in sozialen Einrichtungen angeboten, um zu helfen. Am Morgen verließen dann tatsächlich ein paar Dutzend Bewohner den Hof, und bei der Stadtverwaltung dürfte man aufgeatmet haben, denn je größer das Zeltlager wurde, desto häufiger berichteten die Medien darüber. Was wiederum noch mehr Menschen anlockte.
Nur wenige Stunden später kehren die ersten schon zurück. »Wir wollen nicht mit Betrunkenen in einem Raum schlafen«, lautet ein Satz, den man am Nachmittag oft zwischen den Zelten hört. »Obdachlos kann nur jemand werden, der in einem Land wirklich lebt«, sagt der 29jährige Ali aus Burundi. Umstehende pflichten ihm bei. Ein Schlafplatz, okay, aber was macht man mit dem Rest des Tages, wenn man ihn morgens verlassen muss? Dann doch lieber der zugige Hof am Notweg in der Betonwüste Osdorps, wo sich gut 20 Zelte dicht an dicht drängen, wenige große und viele kleine, notdürftig mit orangen und grünen Planen bedeckt und innen mit Decken und Matratzen ausgelegt, wo Paletten helfen, den dazwischen liegenden Morast zu überbrücken.
»Kamp tegen de Kou« (Camp gegen die Kälte), steht auf einem Banner am Eingangszaun. Dass Plastik und Textil auf Dauer als Schutz gegen den einbrechenden Winter zu wenig sind, weiß auch die Somalierin Eman Farah. Ihre Situation ist besonders schwierig: »Ich bin schwanger, fünfter Monat«, sagt sie, und deutet auf die Wölbung unter ihrer dunklen Jacke. Mit drei anderen Frauen teilt sie sich ein Zelt. Seit ihr Antrag endgültig abgelehnt wurde, kommt sie ab und an bei anderen Somaliern unter – oder auf der Straße. »Fürchterlich«, ist ihr knapper Kommentar. Das Angebot des Bürgermeisters will auch sie nicht annehmen. »Vier Frauen, die heute in eine Unterkunft umziehen wollten, landeten in einem crazy people’s camp.« Auch sie, sagt Eman Farah, kehrten im Lauf des Nachmittags zurück.
Immerhin ist man hier zusammen, und das ist das Einzige, was den Bewohnerinnen und Bewohnern des Camps bleibt. Einen von ihnen zitiert die Tageszeitung NRC Handelsblad am Nachmittag zur Frage nach einer alternativen Unterbringung mit den Worten: »Es hieß, wir könnten nah bei­einander bleiben. Doch so werden wir auseinandergespielt.« Eine erst räumliche, dann politische Spaltung will man um jeden Preis verhindern, denn schließlich ist das Camp eine Demonstration mit dem Ziel, die Regierung zu Verhandlungen über den Aufenthaltsstatus dieser Menschen zu bewegen. Deren Wirksamkeit steht und fällt mit ihren Ausmaßen. Ein Zeltlager ist mehr als ein Dach über dem Kopf – es ist die letzte Waffe. Und ohne breite Basis ist sie stumpf.
Das Camp in Osdorp ist nicht das erste in den Niederlanden. Seit Ende vergangenen Jahres gibt es im Norden bereits drei Zeltlager, die im Dorf Ter Apel bei Groningen – in unmittelberarer Nähe des größten Asylbewerberheims des Landes – errichtet wurden. Die Bilder aus Ter Apel, die eher an Nachrichten aus Krisengebieten erinnern, sind seither zum Sinnbild der Zustände in Flüchtlingslagern geworden. Mehrere Flüchtlinge in Osdor hatten ihr Zelt schon in Ter Apel aufgeschlagen.
Bestimmte Aspekte ihrer Biographien sind immer dieselben: Asylantrag, Ablehnung, Revision, Ablehnung, Ausweisungsbefehl, Abtauchen. Irgendwann laufen sie alle einer Kontrolle ins Netz. Als nächstes kommt die Abschiebehaft und dann wieder die Straße. Denn was die Bewohnerinnen und Bewohner von Osdorp eint, ist auch dies: Selbst wenn sie wollten, wäre eine Rückkehr in ihre Herkunftsländer oft unmöglich. Dass es in Somalia keine richtige Administration mehr gibt, räumt selbst das zuständige Ministerium für Sicherheit und Justiz ein. Auch verschiedene afrikanische Länder erlauben abgelehnten Asylbewerbern nicht die Rückkehr. Das Camp in Ter Apel war etwa aufgrund der Weigerung der irakischen Regierung, bei der Rückkehr irakischer Flüchtlingen zu kooperieren, im April errichtet worden. Den meisten Menschen bleiben in dieser Lage nur zwei Möglichkeiten: Gefängnis oder Straße.

Neu ist in diesem Herbst ist, dass die Camps die Peripherie verlassen haben. Seit Ende September zelten irakische Flüchtlinge in Den Haag auf halbem Weg zwischen Bahnhof und Stadtzentrum, gerade zehn Minuten zu Fuß vom Parlament entfernt. Auch ihnen droht die Räumung. Der einstige Schulhof von Osdorp ist seit Wochen Dauerthema in den niederländischen Medien. »Es können auch mehr Camps werden«, sagt Jo van der Spek, »und zwar so lange, wie sie Menschen auf der Straße krepieren lassen.« Er ist der Sprecher der unterstützenden Bewegung »Migrant2Migrant«, die sich in den vergangenen Jahren formiert hat und eine niederländische Variante der Sans-Papiers-Bewegung ist.
»Mit dem Camp wollen wir die Zustände hier skandalisieren«, sagt van der Spek, der in gelber Allwetterjacke beständig über den Hof eilt. »Gleichzeitig rufen wir die Migranten und die Bevölkerung dazu auf, sich am Camp zu beteiligen. Von Anfang an haben wir die Nachbarschaft eingeladen, hier mitzumachen. Und das funktioniert.« Tatsächlich sieht man in der Dunkelheit nicht nur No-Border-Aktivisten, sondern auch so manche Bewohner des Quartiers durch das Camp laufen.
Zu Beginn der Räumungsnacht gerät der Platz in Bewegung. Aus den Zelten kommen Menschen mit Gepäckstücken, die sie lieber an einen sicheren Ort bringen wollen, solange der Zugang noch frei ist. Auch Bayissa Ayana, gehüllt in eine knallrote Jacke mit dem Logo einer linken niederländischen Wochenzeitung auf dem Rücken, zieht mit seinem Koffer Richtung Tor. Sechs Monate saß der papierlose Äthiopier, der sich selbst einen Unterstützer der Oromo Liberation Front nennt, in Haft. Weil die nötigen Dokumente zur Abschiebung fehlten, landete er statt im Flugzeug nach Addis Abeba im niederländischen Städtchen Amersfoort. »Sie setzten mich auf die Straße, genau dort habe ich die letzten zwei Jahre verbracht.« Was ihn morgen erwartet, weiß der 33jährige genau: »Erst nehmen sie mich fest, dann setzen sie mich irgendwo aus. Ich habe keine Alternative.«
Zwei Dinge begegnen einem immer wieder auf dem Hof, egal ob es hell ist oder dunkel ist. Das eine ist ein grüner Plastikfußball, den sich Migranten und No-Boder-Personal unentwegt zukicken. An diesem Abend wird er zum meistgefilmten Ball der Niederlande, denn noch immer ziehen Kamerateams über das Gelände. Das zweite ist das Trommeln, und das bedeutet, dass »Papa Sakho« nicht weit ist. Wie er überhaupt immer irgendwo im Spiel ist, wenn es um Papierlose in der Bredouille geht. Genau dadurch ist der Mittvierziger aus Senegal zu einer Ikone geworden, denn Papa Sakho ist einer der Überlebenden des Brands im Abschiebegefängnis auf dem Flughafen Schiphol im Oktober 2005. Elf Menschen starben dabei in ihren Zellen.
Heute hat Papa Sakho eine Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre. Freuen kann er sich darüber nicht. »Ich habe sie wegen der Toten«, sagt er. Das Camp in Osdorp erinnert ihn an seine eigene Geschichte, »auch wenn es nicht ganz das gleiche ist«. Eben stand Sakho in der Menge, als der Bürgermeister seine Abschiedsrede hielt. Seine hochgewachsene Gestalt ragte über die Köpfe hinaus, und als van der Laan fertig war, griff er das Wort: »Was ist mit der Zukunft dieser Leute?« Eine rhetorische Frage, klar. Die Lage wird vermutlich noch schwieriger, denn die neue niederländische Regierung will Illegalität künftig als Straftat behandeln.
Lange bevor es hell wird, beginnt der Auszug aus den Zelten. Mit Taschen, Koffern und Plastiktüten treten die Bewohner des Camp auf den Hof. Es ist kurz nach fünf, die Kälte fährt in die Knochen und schneidet in jedes unbedeckte Stück Haut. Vor den Stufen, auf denen am Abend der Bürgermeister stand, sammeln sich die Menschen und harren der Polizei, die mit dem Morgengrauen angekündigt ist. Alles verläuft in völliger Stille. Einige tragen A4-Blätter, auf denen Sprüchen stehen wie: »We want a solution« und »We want a normal life«.
In dem kleinen Holzhäuschen, in dem früher die Schulkinder spielten, sitzt ein Mann auf einem Campingstuhl und wärmt sich die Hände über ein paar Teelichtern. Aufregung sieht anders aus. Auch der grüne Plastikball fliegt schon wieder über den Asphalt. Ein junger Camp-Bewohner singt »I’m not afraid« vor sich hin, während er zum Schuss ansetzt. Andere räumen auf, fegen den Abfall mit einem Besen zusammen, um ihn dann mit Schaufeln aufzulesen.
Ein beliebtes Motiv für die ersten Kameraleute. Ihre Objektive folgen den Menschen, die noch immer mit Gepäck beladen zum Schulgebäude ziehen. Man kann sich das Bild am Ende des Beitrags schon vorstellen: Der Migrant von hinten, mit Tasche unterwegs in eine ungewisse Zukunft. Der öffentliche Rundfunk wird live zur Räumung schalten.
Vor dem Eingang versammeln sich inzwischen die Unterstützer. »Ich verwehre mich gegen den Begriff ›Aktivist‹. Ich bin einfach ein Mensch«, sagt einer von ihnen. Am schmalen Tor hängt ein Zettel. »Jeder hat das Recht zu demonstrieren, aber niemand hat das Recht, jemanden einzusperren«, steht darauf. Und darunter: »Sprecher des Bürgermeisters von Amsterdam nach Aktion von Neofaschisten beim Protestcamp der Illegalisierten«. Sympathisanten der rassistischen Organisation Voorpost hatten im November nachts das Eingangstor mit einem Schloss abgesperrt.
Kurz nach Sonnenaufgang durchbricht die Polizei die Kette vor dem Tor und beginnt, die Migranten einzeln abzuführen. Zwei Tage später wird in Amsterdam-West eine leerstehende Kirche besetzt, die zuletzt als Kletterhalle benutzt wurde. Ziel der Aktion ist es, den Asylsuchenden von Osdorp einen Unterschlupf zu ermöglichen. Der Besitzer ist mit dieser Nutzung für das kommende halbe Jahr einverstanden. Inzwischen sind die meisten Camp-Bewohner aus dem Polizeigewahrsam entlassen worden und dorthin gezogen. Unter dem Namen »Vluchtkerk« (Fluchtkirche) wird die Versorgung mit allem Nötigen organisiert. Auch Bayissa Ayana ist dort eingezogen. »Besser als nichts«, sagt er. »Aber eine Lösung ist das natürlich auch nicht.«