Wer spekuliert mit Nahrungsmitteln

Der organisierte Lebensmittelentzug

Für den Welthunger werden oft Nahrungsmittelspekulanten verantwortlich gemacht. Wichtige andere Faktoren werden hingegen ignoriert.

Manchmal scheint alles so einfach zu sein. Im Jahr 2007 stiegen die Preise für Nahrungsmittel um fast 80 Prozent an und lösten die größte Nahrungsmittelkrise der vergangenen Jahrzehnte und anschließend Hungerrevolten in Dutzenden von Ländern an der Peripherie des kapitalistischen Weltmarkts aus. Damals waren die Schuldigen schnell ausgemacht. Peter Wahl etwa, damals Mitglied des Koordinierungskreises von Attac und Vertreter der deutschen NGO World Economy, Ecology & Development (WEED), sah im erweiterten »Einstieg in die Warenterminspekulation mit Lebensmitteln« die Hauptursache der Nahrungsmittelkrise. Zum gleichen Ergebnis kam im Oktober 2008 eine Studie der international einflussreichsten, auf die Nahrungsmittelproduktion spezialisierten NGO Grain. Auch Jean Ziegler, der damalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, sah in den »Großspekulanten« das Hauptproblem der fehlenden Nahrungsmittelsicherheit in weiten Teilen der Welt: »Mit Termingeschäften, Futures und so weiter treiben sie die Grundnahrungsmittelpreise in astronomische Höhen.«

Obwohl es den Befürwortern des Freihandels auf den Lebensmittelmärkten nach wie vor gelingt, größere Einschränkungen der Spekulation mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln zu verhindern (Jungle World, 11/2012), weht ihnen der Wind seither ordentlich ins Gesicht. Bereits im Juni 2008 wies sogar der Welternährungsgipfel der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Fao) – entgegen den Interventionen des damaligen Weltbankpräsidenten Robert Zoellick, der eine weitere Deregulierung der Agrarmärkte forderte – auf die »spekulative Unruhe auf den Getreidemärkten« hin. Diese trage dazu bei, rund eine Milliarde Menschen zu Hungernden zu machen. Olivier de Schutter, Zieglers Nachfolger als UN-Sonderberichterstatter für Nahrungsmittelsicherheit, meinte, durch die Spekulation seien mindestens 40 Millionen Menschen zu den chronisch Hungernden hinzugekommen. Drastischer noch formulierte Milliardär George Soros die Kritik an der Spekulation: Es sei, »als ob man in einer Hungerkrise heimlich Lebensmittel horte, um mit den steigenden Preisen Profite zu machen«, erklärte er den Lesern des Stern im Sommer 2008.
Studien über die Spekulation mit Rohstoffen schossen seitdem wie Pilze aus dem Boden. Eine der wichtigsten davon, über die »verheerenden Konsequenzen« der Deregulierung auf dem Nahrungsmittelmarkt, hat zuletzt der Journalist Harald Schumann im Auftrag der NGO Foodwatch vorgelegt. Die »massenhafte Kapitalanlage in Index-Fonds auf Rohstoffe« habe zur Folge, »dass die Rohstoffpreise über lange Zeiträume nicht mehr den Veränderungen bei Angebot und Nachfrage folgen, sondern allein dem Herdentrieb der Anleger«, schreibt Schumann. Zu einem etwas anderen Ergebnis waren die Autoren des Untersuchungsberichts der Uno »World Economic Situation and Prospects« für die Nahrungsmittelkrisenjahre 2007 und 2008 gekommen. »Die Spekulation mit dem tatsächlichen, physischen Warenhandel hat die Preisentwicklung mit Sicherheit beeinflusst«, heißt es darin, es sei aber »nicht ausgemacht, ob der Handel mit Futures mehr bewirkt als eine Steigerung der Warenpreis-Volatilität«.
Wäre das richtig, wären all die meist noch einflusslosen Initiativen zur Einschränkung der Spekulation auf den Weltagrarmärkten nichts als Makulatur, deren Wirkung im Einzelfall allerdings gelegentlich überlebensnotwendig sein könnte, und Wahlkampfgetöse. Manchmal ist es aber auch nur Werbung, wie zuletzt im Falle der Commerzbank, die im August ankündigte, vorsorglich alle Grundnahrungsmittel aus dem Rohstoff-Fonds »ComStage ETF CB Commodity EW Index TR« herauszunehmen. Es ist zwar richtig, dass die Freigabe der Positionsgrenzen für den Erwerb von Rohstoffen durch den US-Kongress im Jahr 2005 de facto den Übergang zum unregulierten Handel bedeutete, was zu vermehrten Ausschlägen und auch einem Anstieg der Preise der wichtigsten Lebensmittel führte. Aber es ist absurd, dies völlig von den realen Entwicklungen abzukoppeln. Einen ersten Hinweis darauf gab bereits der im Sommer 2008 einsetzende Fall der Getreidepreise, der allerdings nicht von langer Dauer war. Aber auch die Wirtschaftskrise selbst war weniger das Werk teuflischer Spekulanten als eine Folge der Verschränkung langfristiger Entwicklungen mit kurzfristigen Ausfällen. Im Jahr 2007 hatte etwa die Reisproduktion das geringste Niveau seit 1976 erreicht, während die Missernten in Australien und der Ukraine – zwei der größten Getreideexporteure – die Ausfuhren um jeweils 60 und 75 Prozent reduzierten. Vor dem Hintergrund der ganz normalen kapitalistischen Verkehrsformen auf dem Weltmarkt führte dies die Katastrophe herbei.

Bereits seit Mitte der neunziger Jahre ist die globale Getreideproduktion gesunken – in einigen Jahren nicht nur pro Kopf, sondern auch absolut. Nach Angaben der FAO wurde der Höhepunkt der Pro-Kopf-Produktion der achtziger und frühen neunziger Jahre später nicht wieder erreicht.
Die »Grüne Revolution«, die seit den fünfziger Jahren – trotz aller sozialen und ökologischen Verwerfungen – die Erträge pro Hektar global immerhin auf das Dreieinhalbfache erhöhen half, stößt offenbar an ihre Grenzen. Denn es wird immer schwieriger, neue Böden zu erschließen, die Böden erodieren, die Umweltverschmutzung nimmt zu, die Biodiversität verschwindet. »Wir erleben derzeit eine epochale Veränderung auf dem globalen Nahrungsmittelmarkt: Die Nachfrage übersteigt erstmals wieder seit langer Zeit das Angebot«, so fasst Wolfgang Hirn diese Entwicklung in seinem Bestseller »Der Kampf ums Brot« zusammen. Erst vor diesem Hintergrund sind die zunehmende Spekulation sowie die Landnahmen durch Staatsfonds und private Anleger, auch land grabbing genannt, erklärbar – als Ausdruck sich verschärfender Konkurrenz. »Kaufen Sie Land. Es wird keines mehr gemacht«, wusste bereits Mark Twain.
Erschwerend kommt hinzu, dass immer größeren Mengen von Futtermais für die Biotreibstoffproduktion verwendet und immer mehr Lebensmittel verschwendet werden. Das alles geschieht auf Kosten von Millionen von Hungernden. Einem Bericht der FAO mit dem Titel »Global Food Losses and Food Waste« zufolge, der im Mai vergangenen Jahres veröffentlicht wurde, wird rund ein Drittel der globalen Nahrungsmittelproduktion schlichtweg vergeudet, weil es dorthin exportiert wird, wo man es zwar theoretisch bezahlen, aber de facto nicht gebrauchen kann.
Statt wie die Freunde der Regulation des Kapitals den Blick immerzu auf die Spekulation zu richten, könnte es angesichts dieser Entwicklungen hilfreich sein, auf die Mechanismen der Ressourcenverschwendung des rational-irrationalen Akkumulationsprozesses, wie Marx ihn verstanden hat, hinzuweisen. Das wäre nicht nur analytisch korrekter, sondern auch ein Ausgangspunkt für das Überleben immer größerer Teile der Menschheit. Die Feststellung, dass die »Fehlentwicklung« (Ilse Aigner über die Nahrungsmittelspekulation) also in dem Warencharakter der von den Menschen benötigten Güter fixiert ist, könnte ausnahmsweise nicht die Konkurrenz um den Mangel ins Zentrum der Diskussionen rücken, sondern die Debatten um den gesellschaftlich bewusst geplanten Umgang mit den Ressourcen fördern. Nur so wäre ein Ende der Barbarei des organisierten Entzugs von Lebensmitteln trotz aller berechtigter Kritik am Zynismus von Politik und Big Business möglich.