Urteil im Prozess zum Tod von Oury Jalloh

Dienst ohne Vorschrift

Im zweiten Prozess um den Tod von Oury Jalloh, der 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte, wurde vom Magdeburger Landgericht das Urteil verkündet.

Erstaunliche geistige Beweglichkeit bewies die Richterin Claudia Methling am Ende des Prozesses um den Feuertod des Sierra Leoners Oury Jalloh. Mit gedanklichen Volten, die jedem Strafverteidiger die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätten, begründete Methling am Donnerstag voriger Woche, weshalb sie den angeklagten Polizeibeamten Andreas S. nicht für mindestens drei Jahre ins Gefängnis schickte. Das juristische Zauberwort, das S. in dem aufsehenerregenden Fall vor dem Knast bewahrte, lautet »unvermeidbarer Verbotsirrtum«. Nach Paragraph 49 des Strafgesetzbuchs wirkt dieser strafmildernd. Methlings Verhandlung hatte ergeben, dass die Polizei Jalloh, der am 7. Januar 2005 unter mysteriösen Umständen in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte, niemals hätte einsperren dürfen.
Weder habe der Verdacht bestanden, Jalloh könne eine Straftat begangen haben, noch sei seine Identität ungeklärt gewesen, erklärte die Richterin. Zudem wäre die Polizei verpflichtet gewesen, das Einverständnis eines Richters einzuholen. Tatsächlich war Jalloh an dem Tag in der Innenstadt festgenommen und an Händen und Füßen fixiert in eine geflieste Zelle gesperrt worden. Vier Stunden später brach ein Feuer aus. Der unter Alkohol- und Drogeneinfluss stehende Jalloh verbrannte.

S. war an jenem Tag als Dienstgruppenleiter der Polizei für den Gewahrsamstrakt zuständig. Gericht und Staatsanwaltschaft glauben, dass der an Händen und Füßen fixierte Jalloh die Matratze, auf der er gefesselt war, selbst angezündet habe. Anwälte und antirassistische Initiativen gehen hingegen davon aus, dass Jalloh von Dritten angezündet worden sei. S. hatte, so viel steht fest, mindestens einmal den Feueralarm abgestellt, statt sofort in die Zelle zu gehen, als das Feuer in Jallohs Zelle ausgebrochen war. Deshalb war er nun schon zum zweiten Mal wegen fahrlässiger Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt. In einem ersten Verfahren hatte das Landgericht Dessau ihn 2008 freigesprochen, der Bundesgerichtshof hatte dieses Urteil wegen Lücken in der Beweiswürdigung im Januar 2010 aufgehoben.
Diesmal machte Methling zugunsten von S. geltend, dass dieser gleich mehreren unvermeidbaren Irrtümern aufgesessen sei. So habe er davon ausgehen müssen, dass seine Kollegen Jalloh eingesperrt hätten, weil ihm irgendeine Straftat angelastet wurde. Dies war aber nicht der Fall – und S. fragte nicht nach. Hinzu kam, dass die Dessauer Polizei eingeräumt hatte, seit Jahren Menschen in Gewahrsam genommen zu haben, ohne dies je – wie vorgeschrieben – einen Richter prüfen zu lassen. Deshalb habe S., leitender Beamter in einem deutschen Polizeirevier, nicht wissen können, dass man Menschen nicht länger in eine Zelle stecken darf, ohne einen Richter zu fragen. »Dieser Irrtum war für ihn nicht vermeidbar«, behauptete Methling. Aus all diesen Gründen lehnte sie es ab, S. wegen Freiheitsberaubung mit Todesfolge – das Strafmaß hätte drei bis 15 Jahre Gefängnis betragen –­ zu verurteilen.

Der einzige Vorwurf, den sie S. machen mochte, war, dass er es versäumt habe, häufiger in der Zelle nach Jalloh zu schauen. Methling erinnerte daran, dass schon drei Jahre vor Jallohs Tod der Obdachlose Mario Bichtemann in der gleichen Zelle an einer Kopfverletzung gestorben war. Auch damals war S. Dienstgruppenleiter. Die Ermittlungen gegen S. wurden damals von der Staatsanwaltschaft eingestellt, weil Bichtemann trotz einer Operation nicht hätte gerettet werden können. Für den Polizisten sei es deshalb aber vorhersehbar gewesen sei, dass Jalloh zu »selbstgefährdenden Handlungen« neigen könnte, sagte die Richterin. Deshalb hätte S. die Zelle häufiger kontrollieren lassen müssen. Offen sei jedoch, ob der Polizist den Asylbewerber hätte retten können, wenn er nach dem ersten Alarm sofort in die Zelle gegangen wäre. Die Richterin verurteilte S. wegen fahrlässiger Körperverletzung mit Todesfolge zu 120 Tagessätzen von 90 Euro. 30 Tagessätze gelten wegen langer Verfahrensdauer als verbüßt. S. ist damit voraussichtlich weder vorbestraft, noch muss er um Pensionsansprüche fürchten. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Strafe von 70 Tagessätzen gefordert. Nach der Schließung der Verhandlung protestierten afrikanische und deutsche Zuschauer im Saal gegen das Urteil und den Verlauf des Verfahrens. Sie riefen »Lügner« und »Heuchler«, in Sprechhören hieß es »Oury Jalloh – das war Mord!« Die Anwältin der Nebenklage, Gabriele Heinecke, sagte, dass der Polizist den Richtervorbehalt nicht gekannt haben soll, sei eine »Kapitulation«. Jeder Polizist müsse sich über diese Vorschriften klar sein.

Die Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh erklärte, sie begegne dem Urteil »mit Wut und Trauer, weil auch diese Kammer die dringliche Mordfrage nicht aufklären wollte«. Sie hatte im Laufe der Verhandlung immer wieder auf eklatante Lücken in der Beweisführung der Staatsanwaltschaft hingewiesen. So geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass Jalloh seine Matratze in der Zelle mit einem Feuerzeug angezündet habe. Die Reste des fraglichen Feuerzeugs wurden aber nicht bei den ersten zwei Durchsuchungen der Zelle gefunden, sondern erst drei Tage später in der Asservatenliste vermerkt. Die Durchsuchung der Zelle wurde von Polizisten gefilmt, doch wichtige Sequenzen fehlen auf den Bändern. An einen Stromausfall, von dem die Spurensicherung sprach, konnten sich die diensthabenden Beamten vor Gericht nicht erinnern. Verschwunden ist auch ein Fahrtenbuch der Polizei; ein Eintrag im Journal des Polizeireviers wurde gelöscht. Im Sommer dieses Jahres wurden an dem Feuerzeug Reste von Polyesterfasern nachgewiesen. Diese stimmen jedoch nicht mit der Kleidung Jallohs oder dem Material der Matratze in der Zelle überein. Bei der Untersuchung von Jallohs Urin wurden keine Reste des Stresshormons Noradrenalin gefunden, das bei einem Hitzeschock im Normalfall ausgeschieden wird. Ein Verbrennen ohne den Ausstoß von Noradrenalin wäre nach Auffassung der Nebenklage denkbar, wenn Jalloh bereits bewusstlos war. Schließlich stehen die Aussagen des Brandsachverständigen im Widerspruch zur Hypothese über den Brandhergang. Die Weise, in der Leichnam und Matratze verbrannt sind, passe nicht zur Annahme der Selbstentzündung. »Wir sind uns bewusst, dass es Ermittlungsfehler gegeben hat«, sagte Methling, etwa die vernichtete Handfessel oder die gelöschten Videos. »Was daraus zu schließen wäre, muss offen bleiben.« Es könne »nicht nachgewiesen werden, dass Beweismittel gezielt vernichtet wurden«. Für sie sei »nicht ersichtlich«, wie das Feuerzeug nachträglich in die Asservatentüte gekommen sein soll. Es sei »nicht vorstellbar«, dass das LKA – das für die kriminaltechnische Untersuchung zuständig war– sich an einer solchen Manipulation beteilige. Es sei vorstellbar, dass die Matratze mit Spiritus angezündet worden sei. Diese Annahme sei jedoch »abstrakt-theoretisch«, so Methling. Der leitende Oberstaatsanwalt Folker Bittmann legte am Freitag Revision beim Bundesgerichtshof ein. Er will prüfen lassen, ob die Verstöße gegen das Polizeigesetz und die Gewahrsamsordnung nicht doch zu einer Verurteilung wegen Freiheitsberaubung mit Todesfolge führen müssten.