Über Freeganer

Ein Platz an der Tonne

Es ist lange her, dass sich Ivo Bozic für Robbenbabys und Pandabären eingesetzt hat. Als ihm aber eine Ausgabe der Zeitschrift »Tierbefreiung« in die Hände fällt, kann er sich nur wundern über den neuen revolutionären Geist der Bewegung.
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Die Welt am Kiosk ist ja recht übersichtlich geordnet. Da gibt es für jeden ein Eckchen, für jede Marotte eine Zeitschrift. Wer sich die Zeitung Modelleisenbahner kauft, erfährt, wofür sich Modelleisenbahner interessieren, und wird nicht erstaunt sein, dass es vor allem Modelleisenbahnen sind. Und dass man dort das neue H0-Modell der 37 162 von Fleischmann liebevoll bis ins kleinste Detail beschrieben und bebildert findet. Wer sich eine Anglerzeitung kauft, findet Anglerzubehör und Angeltipps, wer eine Pferdezeitschrift kauft, tolle Pferdegeschichten und -Poster. Was aber findet man vor, wenn man die Zeitschrift Tierbefreiung, das aktuelle Tierrechtsmagazin aufschlägt? Nun: Um Tiere geht es darin nicht. Nicht auf einer der 103 Seiten. Tiere kommen dort nur in Form von totem Fleisch und Pelzmänteln vor, man könnte meinen, eine Zeitschrift der Metzger- oder Kürschnerinnung vor sich zu haben. Und wenn doch mal von lebenden Tieren die Rede ist, dann nur von eingesperrten, gedemütigten Opfern, unter der Knute der Menschheit. Kein Wort über die faszinierende Wanderung des Monarchfalters, die unglaublichen Ballettaufführungen der Winkerkrabbenkolonien oder über spektakuläre Kämpfe zwischen Tigern und Krokodilen.
Nein, nicht für Tiere interessiert sich der Tierrechtler, sondern ausschließlich für Tierrechtler. Auch andere Menschen sind ihm kaum der Rede wert, ausgenommen Jäger, Metzger, Pelzhändler, Zoo- und Zirkusdirektoren. Die einzige Spezies außer dem Tierrechtler, die der Diskussion für würdig befunden wird, ist offenbar der »Tierschützer«, aber in seinem Fall geht es lediglich darum, ob man noch mit ihm reden, ob man einen kennen darf, ob man sich eventuell sogar am selben Ort wie so einer aufhalten darf. Und ob der überhaupt zu den »menschlichen Tieren« gehört, wie Tierrechtler die Menschen nennen, um sie klarer von den »nichtmenschlichen Tieren« zu unterscheiden.
Seit mir die September-Ausgabe der Tierbefreiung in die Hände gefallen ist, bin ich geradezu süchtig danach geworden. Die Welt der Tierrechtler ist ein ebenso faszinierender Mikrokosmos wie die aufregende Welt der Giraffenhalskäfer, der Bachforellen und Gelbzahnmeerschweinchen. Ich bin den Tierrechtlern geradezu verfallen, ich möchte nun alles über sie wissen, ja, ich möchte einen Wikipedia-Eintrag über sie anlegen, in dem steht, wo ihr bevorzugter Lebensraum ist, was sie für Nahrung zu sich nehmen, wie ihr Fortpflanzungs- und Sozialverhalten ist. All das kann man in dieser Zeitung tatsächlich erfahren.
Vor allem um die Nahrungsaufnahme geht es natürlich. Denn das Essen bzw. die Essstörung ist bekanntlich das Grundmotiv des Tierrechtlers heute. Nicht die großen Augen der Pandabären oder Robbenbabys, wie das damals bei mir war, als ich Tierschützer wurde und schließlich sechs Jahre lang als Präsident des Tierrettungsdienst (T.R.D.) mit unserem Ehrenmitglied Prof. Dr. Dr. Bernhard Grzimek eine immer größer werdende Bewegung anführte, bis ich schließlich mit 14 keine Zeit mehr dafür hatte, weil ich mich dann um den Weltfrieden kümmern musste. Ich hatte damals verständlicherweise wenig Zeit für Mädchen, aber hätte ich mich neben den Robben und Atomraketen auch noch um sie kümmern können, wäre mir aufgefallen, dass sie alle magersüchtig waren. Heutzutage gelten Anorexie und Bulimie aber als ziemlich out, stattdessen gibt es Veganismus. Und ebenso wie die Magersucht ermöglicht der den Betroffenen, andauernd übers Essen nachzudenken oder zu reden wie die Skipper vom Meer. Natürlich kommen falsche Scham und Eitelkeit bei jeder Essstörung dazu, und umso erfreulicher ist es, dass es eine komplette Ideologie gibt, nach der die Essstörung gar keine Störung ist, sondern quasi die Speerspitze der Revolution, eine sowohl ethische wie politische Notwendigkeit. Das absolut Gute und Wahre im absolut Falschen und Bösen.
Leider ist veganes Essen nicht ganz billig. Für die ganzen Soja-Produkte muss man in den Bioladen gehen, dort kostet alles gerne mal das Doppelte. Gleichzeitig sind die Veganerinnen und Veganer aber erst 20 und verfügen über kein eigenes Einkommen. Sie überlegen ja noch, was sie studieren sollen: Bei den Postcolonial Studies geht es irgendwie zu viel um Menschen, bei Biologie zu viel um Tiere, aber wo, fragen sich die Tierrechtlerinnen und Tierrechtler, wo zum Teufel geht es denn mal um uns, um Tierrechtler? Sehnlichst erwarten sie daher die Einführung des Studiengangs »Human Animal Studies«, und tatsächlich dürfen sie hoffen, bald auch Bafög zu kriegen.
Reich wird man aber so auch nicht. Wie wir in der Zeitschrift Tierbefreiung lernen können, haben sich viele von ihnen daher einer weiteren Bewegung angeschlossen, die sich »Freeganer« nennt. Als Freeganer zieht man abends um die Häuser und wühlt in Mülltonnen. Man guckt, ob da noch was Brauchbares zu finden ist. Ja, im Grunde wie ein Penner, nur dass man eben keiner ist und Mama und Papa jeden Monat die Miete zahlen. Nicht die Not treibt die Freeganer an, es geht vielmehr darum, der konsumgeilen kapitalistischen Welt eins auszuwischen. Die Wegwerfgesellschaft anzuklagen, indem man komplett vom Weggeworfenen lebt, das ist die raffinierte Strategie dieser neuen politischen Avantgarde. Sollten die Freeganer eines Tages Erfolg haben mit ihrem Kampf gegen den Überfluss, müssten sie kläglich verhungern – oder zumindest hungern, bis zum Wochenende, wenn sie zu den Eltern fahren, um sich den Bauch vollzuschlagen.
Versetzen wir uns mal in die Lage eines solchen durch und durch guten und ethisch vollkommenen Menschen: Wir stöbern wie jeden Abend vorm Penny-Markt im Müllcontainer, stecken uns hier eine Tomate ein, och, die ist ja noch völlig in Ordnung, und dort ein paar Kartoffeln, eine Dose Erbsen, gerade erst abgelaufen, also noch gut, und plötzlich liegt da vor uns so ein schönes, großes eingeschweißtes Stück Gouda, in tadellosem Zustand. Hm, das haben wir ja lange nicht mehr gegessen. Ein Tierprodukt zwar, also böse. Andererseits … Wir kommen ins Grübeln, während uns der Gouda an­lächelt. Andererseits ist er ja nun eh schon in der Welt, der Gouda, das Mitnehmen und sogar das Essen würde die Nachfrage nicht steigern, und daher kein bisschen Tierleid erzeugen. Außerdem ist es dunkel, wir sind allein, das würde auch gar keiner mitbekommen, nicht so wie im Bioladen, wo jeder jeden kennt. Also was machen wir? Werden wir schwach? Vergreifen wir uns am Gouda und womöglich nächstes Mal sogar an einem Stück Wurst?
Tatsächlich ist es genau so. Immer mehr vegane Freeganer werden schwach und können der Sünde, der Verführungskraft der ach so bunten Containerwelt, dem Gesang der Müllsirenen nicht widerstehen. Die Abfalltonne wird zu Sodom und Gomorrha, zum Sündenpfuhl, zum Titti Twister.
In der Tierbefreiung empört sich daher ein Autor: »Mittlerweile ist mit dem Freibrief-Adjektiv ›freegan‹ der Konsum von Tierprodukten bis tief in die Bewegung hinein allgemein akzeptiert. Mehr noch – wenn auch sicher von anderen Free­ganer_innen strikt abgelehnt – reicht die Palette bisweilen vom Naschen von öffentlich rumstehenden Gelatine-Gummitieren bis hin zum Eigenverzehr des alljährlichen wie unumgänglichen Milka-Weihnachtsmanns von Oma & Opa.«
Man sieht, die Bewegung ist durch und durch von Ketzern und Häretikern durchsetzt, der Verfall der Werte scheint unaufhaltsam, aufrechte Veganer fallen wegen ein bisschen Müll vom Glauben ab, verraten die eigene Gemeinschaft, ihr ganzes Leben. Und natürlich das Tier! Denn dass der Käse aus dem Müll nicht die Nachfrage steigert, macht ihn deswegen ja noch nicht zu einem Stück Tofu. »Mord bleibt Mord«, stellt der Autor verbittert fest. Müllkäse oder -joghurt zu essen, zeuge von »Gleichgültigkeit gegenüber den Lebewesen«. »Das geschieht«, heißt es weiter, »auf Kosten der Empathie und letztlich unserer gesamten Identität. Kein Mensch, der Joghurt isst, kann sich in diesem Augenblick mit Kühen identifizieren. Etwas in uns wird es für Sekunden verbieten. Was ihn potentiell genießbar macht, ist immer mit einer inneren Negation und Dekonstruktion der Kuh als fühlendes Lebewesen verbunden. Selbst wenn der Veganismus als Theorie in unseren Köpfen bleibt, wird er mit jedem Löffel aus unserer Gefühlswelt geprügelt.«
Wir sehen, die Bewegung ist ins Mark getroffen, es geht bei den Veganern um die Wurst. Umso erstaunlicher und löblicher, dass in der Tierbefreiung nicht etwa eine Fatwa gegen Müllkäseesser verhängt und ein Kopfgeld auf die Ergreifung von Schinkensammlern ausgesetzt wird, sondern dass sogar eine Gegenposition zu Wort kommt, die explizit fordert, den gefundenen Gouda mitzunehmen und weiterzuverteilen. Nicht aus Fleisches- oder Käselust, gottbewahre, das natürlich nicht, sondern ebenfalls ausschließlich im Dienste der Moral und der Revolution. Ein Autor schreibt: »Nichtve­gane Produkte werden auch von VeganerInnen mitgenommen. Sie könnten die Nachfrage im Kaufverhalten bei den Mitmenschen senken, die nicht ausschließlich vegan leben. Der Joghurt, die Butter, der Käsesalat oder die Milchschokolade kann von vegetarischen MitbewohnerInnen oder omnivoren Familienmitgliedern verwertet werden, die diese Produkte dann weniger einkaufen und damit potentiell weniger Leid erzeugen, weil sie auf dem Markt weniger nachfragen.«
Wie gewieft muss man sein, um solch eine ausgebuffte revolutionäre Strategie zu entwickeln?! Respekt. Und mit Sicherheit werden weitere Bewegungen entstehen, immer raffiniertere, immer revolutionärere. Bestimmt werden wir schon bald von Freefreeganern lesen, die nur das essen, was die Freeganer in den Müll geschmissen haben. Und dann von Totalfreefreeganern, die sich vom Kot der Freefreeganer ernähren. Ist das eigentlich vegan?
Sie sehen, mit Tierrechtlern wird’s einfach nicht langweilig. Ich bin derart begeistert von diesen kleinen Lebewesen, dass ich mir überlegt habe, mir selbst welche zuzulegen. In einem mittelgroßen, gut beleuchteten Terrarium möchte ich sie halten und sie bei ihren kleinen Späßen und ihrem vergnügten Rumgebalge beobachten, vielleicht lassen sie sich auch ein wenig dressieren. Ja, eigentlich bin ich sogar ganz sicher, das ginge. Teuer ist die Haltung von Tierrechtlern jedenfalls nicht. Man kann sie ohne schlechtes Gewissen mit Müll füttern. Es gilt ihnen als Delikatesse.