Kein Kanzler aus Niedersachsen
Es ist ein öder Landstrich. »Sturmfest und erdverwachsen« seien hier die Leute, heißt es im Niedersachsenlied. Es gibt attraktivere Gegenden als das flächenmäßig zweitgrößte, aber dünn besiedelte Bundesland. Doch wenn am Sonntag um 18 Uhr die Wahllokale schließen, werden die Blicke trotzdem auf den Norden der Republik gerichtet sein. Denn es geht um mehr als die Frage, ob der biedere Sozialdemokrat Stephan Weil den aalglatten Christdemokraten David McAllister aus dem Ministerpräsidentenamt drängen kann. Die Landtagswahl in Niedersachsen gilt nicht nur als Testlauf für die Bundestagswahl, sie könnte gar eine Vorentscheidung bringen. Wer verliert, wird es jedenfalls im Herbst schwer haben.
Die Ausgangslage ist die gleiche wie im Bund: Schwarz-Gelb tritt gegen Rot-Grün an. Auch die Kräfteverhältnisse sind vergleichbar. Erschien vor noch nicht allzu langer Zeit die Lage für CDU und FDP aussichtslos, spricht inzwischen alles für ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Es gehörte weder Mut zum Risiko noch besonderer Weitblick dazu, um vor der vergangenen Bundestagswahl den Wahlsieg von Schwarz-Gelb zu prognostizieren. Dass die Landtagswahl im Saarland im März 2012 mit einer Großen Koalition endete, war ebenso wenig eine Überraschung wie zwei Monate später die absolute Mehrheit für Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen. In Niedersachsen scheint kurz vor der Wahl jedoch kaum eine Konstellation mehr unmöglich.
Dabei sah es lange danach aus, als ginge es nur noch um die Höhe des rot-grünen Wahlsiegs. Im Januar 2012 lagen CDU und FDP in den Umfragen bis zu 14 Prozentpunkte hinter SPD und Grünen. Die Niedersachsenwahl werde eine perfekte Steilvorlage für die Bundestagswahl liefern, waren SPD und Grüne überzeugt. Doch seitdem geht es bergab. Grund zur Beunruhigung sahen die Wahlkampfstrategen im Willy-Brandt-Haus und in der Bundesgeschäftsstelle der Grünen deswegen bis zum Jahreswechsel trotzdem noch nicht: Dank der prognostizierten Schwäche der kleineren Parteien schien immerhin eine klare Mehrheit der Mandate fest gebucht. Ein solches Ergebnis brächte Schwung für die Bundestagswahl, zumal ein Regierungswechsel in Niedersachsen die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat verändern würde. Erstmals seit 1999 gäbe es wieder eine Mehrheit jenseits von Union und FDP in der Länderkammer. Die von SPD und Grünen geführten Landesregierungen besäßen dann die für die meisten Beschlüsse erforderliche absolute Mehrheit. Eigene Gesetzesinitiativen über den Bundesrat einbringen zu können, über die dann der Bundestag zu entscheiden hat, ist ein nicht zu unterschätzendes Wahlkampfinstrument.
»Nach einem Wahlsieg in Niedersachsen wird auf der Bundesebene Rot-Grün als eine echte Option nach den Bundestagswahlen ernst genommen werden«, gibt sich der SPD-Spitzenkandidat Weil siegessicher. Doch der 54jährige Oberbürgermeister Hannovers könnte sich irren. Inzwischen müssen SPD und Grüne sogar ein Desaster befürchten. Den aktuellen Umfragen zufolge haben sie bestenfalls einen knappen Vorsprung. Weil sich der schwer angeschlagene Koalitionspartner der CDU auch Dank McAllisters Hilfe wieder zu berappeln scheint, kann dieser sich Hoffnungen machen, sein Ministerpräsidentenamt zu behalten. Auch ohne offizielle »Leihstimmen«-Kampagne könnten sich die Signale, die er zugunsten der FDP an seine Anhängerschaft aussendet, für ihn auszahlen.
Laut den größeren Meinungsforschungsinstituten liegt die SPD derzeit in der Wählergunst bei 33 Prozent, die Grünen sind bei 13 Prozent. Die FDP käme mit fünf Prozent knapp wieder in den Landtag, Linkspartei und Piratenpartei blieben hingegen mit jeweils drei Prozent chancenlos. Nur hinsichtlich der CDU sind sich die Demoskopen uneinig: Bei der Forschungsgruppe Wahlen kommt die CDU derzeit auf 39 Prozent, bei Infratest dimap auf 40 und bei GMS auf 41 Prozent. Nur bei zwei Instituten steht Rot-Grün hauchdünn vorne, eines sieht ein Patt der Blöcke.
Auch wenn vieles dafür spricht, ist es nicht mehr sicher, dass die Linkspartei den Wiedereinzug verpasst. Die Berliner Info GmbH sieht in ihrer jüngsten Umfrage die von vielen bereits abgeschriebene Partei bei sechs Prozent. Für die zwei kleinen Parteien geht es am Sonntag um viel, wenn nicht um alles. Falls sie deutlich den Einzug ins Parlament verfehlen sollten, wären die Folgen fatal. Während für die Piratenpartei der Einzug in den Bundestag in unerreichbare Ferne rücken sein würde, müsste bei der Linkspartei ein Ergebnis wie bei der vergangenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, wo sie mit 2,5 Prozent aus dem Parlament befördert wurde, Erinnerungen an die Bundestagswahl 2002 wachrufen, als die PDS aufgrund ihres desaströsen Abschneidens im Westen die Fünf-Prozent-Hürde nicht schaffte. Gelingt jedoch der Sprung ins Hannoveraner Parlament, könnte das beiden Parteien einen Stimmungsaufschwung bescheren, der sie auch bei der Bundestagswahl beflügeln dürfte.
Insbesondere der Wiedereinzug der Linkspartei würde SPD und Grüne in die Bredouille bringen. Die Konsequenz wäre, dass sie sich mit Koalitionsoptionen beschäftigen müssten, die allesamt risikoreich sind: Schwarz-Rot, Schwarz-Grün, Rot-Grün-Gelb oder Rot-Grün-Rot. Die Alternativen wären bitter für sie: Entweder ließe sich der von SPD und Grünen anvisierte »Lagerwahlkampf« gegen Schwarz-Gelb noch weniger glaubwürdig führen – oder sie bekämen von CDU und FDP einen »Rote-Socken«-Wahlkampf verpasst. Sie müssten sich schnell entscheiden: Es bleiben nur 21 Tage zwischen der Konstituierung des Landtags und der Bestätigung des neuen Kabinetts. Klappt die Regierungsbildung bis dahin nicht, muss der Landtag innerhalb der folgenden zwei Wochen über seine Auflösung beschließen.
Der Ausgang der Wahl in Niedersachsen wird auch Auswirkungen auf einige bundesweit interessante Personalien haben. Verfehlt Rot-Grün die Mehrheit, wird Peer Steinbrück schon jetzt seine Ambitionen auf die Nachfolge Angela Merkels begraben können. Auch wenn es die SPD nicht mehr wagen dürfte, ihren Kanzlerkandidaten noch auszutauschen, wäre das der Anfang vom Ende seiner Politikerkarriere. Die politische Zukunft des FDP-Bundesvorsitzenden Philipp Rösler hängt ebenfalls am seidenen Faden. Und dann ist da noch Sahra Wagenknecht. Auf Großplakaten und in TV-Spots: Die Linkspartei setzt in der Wahlkampfschlussphase auf die Strahlkraft ihrer stellvertretenden Partei- und Bundestagsfraktionsvorsitzenden, der bisher kein intimeres Verhältnis zu Niedersachsen nachgesagt werden konnte. »Wenn das Wahlergebnis es ermöglicht und erfordert«, sei sie »bereit«, sich »an den Verhandlungen über die Regierungsbildung aktiv zu beteiligen und einer entsprechenden Verhandlungskommission anzugehören«, versprach sie. Falls die Kampagne aufgeht, dürfte das Wagenknechts Einfluss in der Bundespartei steigern. An ihr wird dann auch Gregor Gysi nicht länger vorbeikommen. Doch Zweifel bestehen: »Ihr Auftritt ist ein durchsichtiger PR-Coup, auf den Wähler eher allergisch reagieren werden«, urteilt Stefan Reinecke in der Taz.
Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass eine Landtagswahl in Niedersachsen unter bundespolitischen Vorzeichen steht. Erst sein Wahlsieg im März 1998 ermöglichte es dem damaligen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder, seinen Konkurrenten Oskar Lafontaine aus dem Feld zu schlagen und Kanzlerkandidaten der SPD zu werden. »Der nächste Kanzler muss ein Niedersachse sein«, hieß es im Landtagswahlkampf in anonym geschalteten Zeitungsanzeigen, die sich der umstrittene Finanzunternehmer Carsten Maschmeyer 650 000 D-Mark kosten ließ. Wenigstens ein niedersächsischer Kanzler droht diesmal nicht.