50 Jahre »deutsch-französische Freundschaft«

Hunnen und Gallier

Beim 50. Jahrestag des Elysée-Vertrags stehen wirtschaftliche Themen im Vordergrund. In der Vergangenheit waren oft eher außen- und sicherheitspolitische Fragen Ansporn der »deutsch-französischen Freundschaft«.

Eine Scheidungsurkunde als Geschenk zum Hochzeitstag gab es zwar nicht, als am Dienstag dieser Woche der 50. Jahrestag des Elysée-Vertrags zwischen Frankreich und der Bundesrepublik begangen wurde. Dennoch sprachen manche Medien von wachsenden politischen Differenzen und Verstimmungen zwischen beiden Staaten. So titelte etwa die konservative französische Tageszeitung Le Figaro am vergangenen Freitag: »Zwischen Paris und Berlin wird der Graben tiefer.« Die Jahrestagsfeiern vermiesen konnte dies jedoch nicht.
Gleich 400 Abgeordnete beider Kammern des französischen Parlaments – Nationalversammlung und Senat – nahmen am Dienstag zusammen mit Staatspräsident François Hollande und Premierminister Jean-Marc Ayrault das Flugzeug nach Berlin. In der deutschen Hauptstadt angekommen, nahmen sie an einer gemeinsamen Sitzung der beiden Kabinette und Parlamente teil, die begleitet wurde von einem großem Konzert mit Klängen von Beethoven und Saint-Saëns. Wie es sich gehört, wurden auch zwei Texte veröffentlicht, die feierlich an die »gemeinsamen Verpflichtungen Deutschlands und Frankreichs« erinnern und darüber hinaus Bereiche binationaler Zusammenarbeit von Kultur und Jugendaustausch bis hin zu Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Energiepolitik definieren.
Zuvor hatte es Unstimmigkeiten über den genauen Charakter der Festivitäten in Berlin gegeben. Die französische Seite wollte ihnen eine stärker »politische Natur« geben, die deutsche sprach von »volkstümlichen« Feierlichkeiten – also eher Dschingderassabumm als tiefgründige Debatten. Tatsächlich blieb der politische Anspruch niedriger als noch beim letzten runden Jahrestag, der 2003 in Paris begangen wurde. Damals stand die politische Positionierung der Regierungen beider Länder eindeutig im Vordergrund. In Abgrenzung zu den damals laufenden Vorbereitungen des Angriffs von US-Amerikanern und Briten auf den Irak versuchten die beiden Kontinentalmächte, zu denen sich später auch noch Russland gesellte, sich als Gegenblock zu konstituieren und mit dem Argument der Friedenserhaltung für die eigenen Interessen zu werben.
In diesem Jahr lieferte die Weltgeschichte allerdings kein in vergleichbarer Weise einigendes Ereignis. Die Euro-Krise der beiden zurückliegenden Jahre und die Unterschiede in der wirtschafts- und europapolitischen Ausrichtung haben die beiden Mächte eher in Konflikt miteinander gebracht. Trotz eines klar wirtschaftsliberalen Kurses mit einigen sozialpolitischen Einsprengseln ist die französische Wirtschaftspolitik aus deutscher Sicht noch immer »zu keynesianisch«. Anfang November hatte der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sogar laut darüber nachgedacht, ob Frankreich nicht vielleicht der nächste »kranke Mann Europas« sei. Die soeben in Paris eingeleiteten wirtschaftsliberalen »Reformen« kämen »zu spät« und die sogenannten »Arbeitsmarktreformen« seien »zu schwach« – was, wenn man die Hartz-Gesetze als Maßstab anlegt, aber wohl für so ziemlich jede mögliche Reform gelten würde.

Bekanntlich sorgt nichts so sehr für Annäherung wie gemeinsame Feinde. So war es auch, als der Elysée-Vertrag unterzeichnet wurde. Vorausgegangen war eine vielbeachtete Reise des französischen Präsidenten Charles de Gaulle durch das westliche Nachkriegsdeutschland im Herbst 1962. Am 9. September hielt er in Ludwigsburg bei Stuttgart seine berühmte »Rede an die deutsche Jugend«. Sie wird häufig als Musterdokument der Aussöhnung beider Länder nach den Kriegen von 1870, 1914 und 1940 betrachtet. Demnach habe sie viel zum Abbau von Vorurteilen zwischen zwei »Erbfeinden« und zur Versöhnung zwischen beiden Bevölkerungen beigetragen. In Wirklichkeit stand aber in dieser Ansprache sehr stark die Beschwörung eines gemeinsamen Feindes im Mittelpunkt, nämlich des Kommunismus, unter dem man den autoritären Staatssozialismus sowjetischer Prägung verstand.
»Das Leben in dieser Welt birgt jedoch Gefahren. (…) Es geht darum zu wissen, ob im Laufe der Umwälzungen der Mensch zu einem Sklaven in der Kollektivität wird oder nicht«, führte de Gaulle aus und meinte damit nicht so sehr die Gefahren der Volksgemeinschaft, sondern eher jene des Marxismus. »Darum«, fuhr er fort, »geht es bei der großen Auseinandersetzung in der Welt, die sie in zwei getrennte Lager aufspaltet und die von den Völkern Deutschlands und Frankreichs erheischt, dass sie ihrem Ideal die Treue halten, es mit ihrer Politik unterstützen und es, gegebenenfalls, verteidigen und ihm kämpfend zum Sieg verhelfen.« Es war – zumindets in Teilen – eine Rede zur Mobilmachung im Ringen mit dem sowjetischen Block um die weltpolitische Vorherrschaft.
Es kann nicht bestritten werden, dass es zwischenmenschliche Annäherungen durch Städtepartnerschaften, Jugendaustausch und Klassenfahrten gab, genauso wenig wie ihr Nutzen geleugnet werden kann. Deutsche Jugendliche lernten in manchen Fällen auf französischem Boden erstmals Kommunisten kennen – die sie sich bis dahin eher mit mongolischen Gesichtszügen und Russenmütze vorstellten – oder erlernten eine Sprache, die nicht nur zwischen Ärmelkanal und Alpen gesprochen wird, sondern mit der man sich aus historischen Gründen auch in Mali oder auf Madagaskar verständigen kann. Die politische Intention hinter all dem war jedoch eine ganz andere.
Der Zeitpunkt der Rede war keineswegs zufällig. Unmittelbar vorausgegangen waren mehrere Ereignisse, die sowohl westdeutschen wie auch französischen Politikern verdeutlicht hatten, dass sich ihr jeweiliger Staat in der internationalen Hackordnung im Abstieg befand. Im Juli 1962 musste Frankreich Algerien nach einem achtjährigen und extrem blutigen antikolonialen Befreiungskrieg in die Unabhängigkeit entlassen. Die meisten anderen Kolonien und Besitzungen hatte Frankreich schon kurz zuvor in die »kontrollierte Unabhängigkeit« entlassen, auch wenn es versuchte, weiterhin Einfluss und wirtschaftliche Kontrolle auszuüben. Dieser Verlust Algeriens wog innenpolitisch sehr schwer.
Westdeutschland wiederum war sein relativer Bedeutungsverlust besonders durch die Ereignisse des August 1961 vor Augen geführt worden. Der Bau der Mauer zwischen den West- und Ostsektoren Berlins, dem in den folgenden Monaten der Aufbau von Befestigungsanlagen entlang der DDR-Grenze folgte, zementierte die »deutsche Teilung« auf längere Sicht. Die Träume mancher bundesdeutscher Politiker, die Westalliierten würden sich diesen »Affront« von Sowjetunion und DDR nicht bieten lassen und eingreifen, wurden enttäuscht. Viele Politiker der Westallierten waren sogar eher erleichtert, dass vorläufig der Druck aus der deutschen Frage herausgenommen war.
Kurz zuvor waren zudem Ambitionen westdeutscher Politiker auf eine eigene atomare Bewaffnung der Bundeswehr, die vor allem Franz-Josef Strauß vorangetrieben hatte, erst einmal gescheitert. Das Thema tauchte jedoch auch in den folgenden Jahrzehnten immer wieder auf der Tagesordnung auf – oftmals im Zusammenhang mit der westdeutsch-französischen politischen Annäherung. Im Sommer 1987 etwa eröffnete der vormalige französische Verteidigungsminister Charles Hernu – ein Sozialist, der gerade die Oppositionsbank drückte – eine Debatte darüber, ob Frankreich nicht der Bundesrepublik einen »Zweitschlüssel« zur Mitverfügung über das nationale Nuklearwaffenarsenal »Force de frappe« (Schlagkraft) anbieten solle, um dadurch einerseits Westdeutschland ein wenig aus der engen strategischen Bindung an die USA zu lösen, gleichzeitig aber auch eigenen atomar-militärischen Ambitionen bundesdeutscher Politiker zu begegnen.
Auch dass der Freistaat Bayern im April 1989 sein Vorhaben aufgab, in Wackersdorf in der Oberpfalz eine riesige Plutoniumfabrik zu bauen, in der große Mengen waffenfähigen Spaltstoffs verarbeitet worden wären, war ein ausschlaggebender Grund, dass die französische Regierung damals mit einer Beteiligung an der vergleichbaren Wiederaufbereitungsanlage in La Hague lockte. Bis zu 49 Prozent daran sollten die Deutschen mitbesitzen dürfen. Das Projekt scheiterte jedoch in den folgenden Monaten, und das Ende des Kalten Kriegs durch die Implosion des Ostblocks und der UdSSR relativierte ohnehin die Bedeutung des Besitzes von Atomwaffen.

Heute sind diese militärpolitischen Diskussionen obsolet. Die deutsche Politik hat sich ganz gut in ihrer Rolle als wirtschaftliche Supermacht mit zwar vorhandener, aber überschaubarer militärischer Rolle eingerichtet, auch wenn man ein Jahrhundert früher eine solche Strategie den Briten noch als »Krämerimperialismus« angekreidet hatte. Die wirklich wichtigen Diskussionen zwischen den Regierungen in Paris und Berlin drehen sich derzeit um die Wirtschaftspolitik.
Laut einer Umfrage von Deutschlandradio, Radio France, ARD und Arte unter 25 000 Deutschen und Franzosen, die aus Anlass des Jahrestags bereits am vergangenen Dienstag vorgestellt worden ist, fühlen sich vor allem die Oberklasse und Bildungselite in Frankreich vom »deutschen Modell« angezogen. Deutschland gilt demnach 44 Prozent der Franzosen als Vorbild, während nur 22 Prozent der Deutschen in Frankreich ein solches erblicken. Wirtschaftlicher Erfolg zählt dabei offensichtlich ungleich mehr als kulturelle Symbole. Während rund 60 Prozent der befragten Franzosen gern in Deutschland arbeiten würden, wo man oft wesentlich mehr verdient, zieht es nur ein Drittel der deutschen Umfrageteilnehmer in die entgegengesetzte Richtung. Allerdings würden 94 Prozent von ihnen gern ihren Urlaub dort verbringen. Wenn es um Essen, Trinken, Gesang und Strand geht, dann sind die Franzosen offenbar in Ordnung. Nur eine Wirtschaft können sie nicht zusammenhalten, so die verbreitete Meinung.