Zwangsräumungen in Spanien

Umgeben von Bad Banks

In Spanien gibt es immer mehr Zwangsräumungen von Wohnungen und Häusern. Doch einige Schuldner organisieren sich selbst. Sie sind nicht die einzigen, die die Vergabepraxis von Krediten und Hypotheken kritisieren.

Schon am frühen Morgen bildet sich eine Menschentraube vor der Filiale der Caixa Penedès in der katalanischen Provinzhauptstadt Lleida. Als die ersten Bankangestellten kommen, drängt die Gruppe mit roten Stoppschildern und in gelben Warnwesten in die Bank. Es sind Aktivistinnen und Aktivisten der Plattform der Hypothekenbetroffenen (PAH). Über Mikrophon verkündet Eduard Baches, Sprecher der PAH in Lleida, die Forderungen: »Faire Bedingungen für Isabel und ihre Tochter.« Die alleinerziehende Mutter war von der Caixa Penedès vor die Haustür gesetzt worden. Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, konnte sie die Raten für die Hypothek nicht mehr pünktlich zahlen, es folgte der Räumungsbeschluss.
Weit über 400 000 Zwangsräumungen sind seit Beginn der Krise in Spanien vollstreckt worden, nur knapp über 500 davon konnten Mitglieder der landesweit organisierten PAH seit ihrer Gründung 2009 verhindern. Auch die Protestaktion am Dienstag vergangener Woche konnte Isabel lediglich etwas Zeit bis zur Zwangsvollstreckung und zur Versteigerung der Immobilie verschaffen. Doch die Schulden ist die 28jährige damit noch lange nicht los. Die geräumten Wohnungen werden versteigert und geraten so häufig in den Besitz der Gläubigerbank – und zwar zu einem Preis, der weit unter dem realen Wert und vor allem weit unter dem durch Spekulation hochgetriebenen Kaufwert der Vorkrisenjahre liegt. Anders als zum Beispiel in den USA sind Hypothekenschulden in Spanien mit der Übergabe der Wohnung an die Bank nicht abgegolten. Die Differenz zuzüglich Verzugszinsen bleibt als Schuld bestehen. Eine Privatinsolvenz gibt es nicht.
»Schulden sind eine Strafe auf Lebenszeit«, findet Marta Afuera Pons, Sprecherin der PAH in Girona. Der Erlass der Restschuld nach der Zwangsversteigerung oder Rückgabe der Immobilie an die Bank ist eine der Hauptforderungen der PAH. Außerdem will die Bürgerinitiative, dass in leerstehenden Häusern Sozialwohnungen entstehen. »Unsere Verfassung schreibt nicht nur das Recht auf Wohnraum vor, sondern legt auch fest, dass Wohnraum einen sozialen Nutzen haben muss«, erklärt Afuera Pons. Doch noch immer werden täglich über 500 Wohnungen in Spanien zwangsgepfändet und Menschen auf die Straße gesetzt, während verschiedenen Schätzungen zufolge zwischen 600 000 und mehr als drei Millionen Wohnungen im ganzen Land leerstehen. Die von der Regierung jüngst geschaffene Bad Bank hat sogar den Auftrag, Wohnblöcke abzureißen, für die es am Markt keinen Bedarf gibt.
Außerdem verlangt die PAH, dass vor allem Familien mit Kindern und ältere Menschen die Möglichkeit bekommen sollen, im eigenen Haus oder der Wohnung zu bleiben. »Sei es zur Miete oder indem die Rückzahlung des Kredits gestreckt wird und dadurch die einzelnen Raten verringert werden«, sagt Afuera Pons. All diese Forderungen sind Inhalt eines Volksbegehrens, für das die PAH bis zum 25. Januar Unterschriften sammelt. Baches ist optimistisch, dass zum Ende der Frist weit mehr als die nötigen 500 000 Unterschriften vorliegen werden. Er hofft, dass die Zwangsräumungen im Parlament zumindest debattiert werden. »Es ist unsere letzte Chance. Wir haben alle anderen rechtlichen und administrativen Möglichkeiten, auf die Regierung einzuwirken, bereits ausgereizt«, sagt Baches. »Es muss einfach klappen.«

Schon im dritten Quartal des vorigen Jahres hatte es mehr Zwangsräumungen als im Jahr zuvor gegeben: Die Gerichte vermeldeten rund 50 000 Zwangsvollstreckungen ohne Prozess und 77 000 von den Gerichten in erster Instanz entschiedene. Auch Selbstmorde von Verzweifelten nahmen zu, mehrere Menschen sprangen kurz vor der Zwangsräumung ihrer Wohnung aus dem Fenster oder vom Balkon. In der ersten Januarwoche verbrannten sich innerhalb von 24 Stunden unabhängig voneinander zwei Männer in Málaga. Dies sei nur die Spitze des Eisbergs, betont Afuera Pons.
»Die Menschen stehen unter Schock«, sagt Baches. Viele würden sich nicht einmal dann gegen eine Zwangsräumung wehren, wenn sie gute Aussichten auf Erfolg hätten. Ihnen fehle die Kraft. »Oft steht die Zwangsräumung am Ende einer langen Kette von Schicksalsschlägen«, so Baches. Es fange oft mit dem Verlust der Arbeit an, dann ende nach einigen Monaten die Arbeitslosenhilfe vom Staat. Mit der ersten nicht bedienten Monatsrate oder Mietzahlung fallen Verzugszinsen in Höhe von 18 bis 21 Prozent an – es geht unaufhaltsam abwärts. Rund sechs Millionen Spanier sind ohne Arbeit. Ganze Großfamilien leben oft nur noch von einem einzigen Einkommen, in manchen Haushalten hat überhaupt niemand mehr ein Gehalt. »Gäbe es keine Essensspenden der Kirche oder der Caritas, hätten wir längst Hungerrevolten«, ist Baches überzeugt. Er berichtet von endlosen Schlangen vor Ausgabestellen für Kindernahrung und von Massenschlaflagern, die in einem alten Priesterseminar in Lleida entstanden seien. Der Familienverband und die Nachbarschaftsgemeinschaften würden die Folgen der Krise auffangen.
»Wir erleben eine Situation, in der extreme Armut zum Massenphänomen wird«, beklagt Afuera Pons. Die alleinerziehende Mutter hat an sich selbst und ihrem Sohn beobachten können, wie sehr der Verlust des Wohnraums verunsichert. Innerhalb kürzester Zeit geriet ihr geordnetes Leben mit Eigenheim, einer guten Anstellung und Ehe aus den Fugen. Auf die Scheidung folgte die Arbeitslosigkeit, dann die Zwangsräumung. Angeordnet wurde diese von einer Bank, bei der Afuera Pons nie Kundin war. Sie hatte ihren Kredit bei einer der lokalen Sparkassen aufgenommen, die in Spanien gemeinnützig und ohne Gewinnstreben arbeiteten. Nachdem die Sparkassen pleite und in Privatbanken aufgegangen waren, galten für die Kunden die Bedingungen des neuen Kreditinstituts. Afuera Pons versuchte dagegen zu klagen – erfolglos. Das Gesetz, sagt sie, schütze die Banken, nicht aber die Menschen.

Teilweise sind sie sogar Opfer von kriminellen Machenschaften, wie Rómulo Bedoya. Er habe jahrelang jeden Cent, den er übrig hatte, der Bank in den Rachen geworfen, erzählt der Mann mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn. Dann hörte er von Betrugsfällen innerhalb seiner Bank, der Caja Madrid, ließ seinen Vertrag überprüfen und erstattete Anzeige gegen seinen Filialleiter. Es kam zum Verfahren, weil Banker in den Kreditverträgen zusätzliche Kommissionen versteckten – in Bedoyas Fall 60 000 Euro – und so vor allem Migrantinnen und Migranten und Menschen mit niedrigem Bildungsniveau abzockten. Auf Schadensersatz wartet Bedoya bis heute, der Räumungsbeschluss von Bankia, der Großbank, in der die Caja Madrid inzwischen aufgegangen war, kam sofort, als Bedoya 2008 arbeitslos wurde und die Ratenzahlungen einstellte. Viermal haben die Aktivistinnen und Aktivisten der PAH Girona ihn und seine vier Kinder seither vor der Vollstreckung bewahrt.
Weniger offensichtlich, aber systematisch ist Afuera Pons zufolge die Täuschung vieler Bankkunden abgelaufen. Oft wurden auf dem Notariat im Fünf-Minuten-Takt Verträge unterzeichnet, die die Kundinnen und Kunden zuvor nicht einsehen konnten. Die Aktivistin, die sich durch ihre frühere Arbeit bei einer Versicherung mit Verträgen auskennt, erlebte viele Überraschungen. »Oft steht im Kleingedruckten, dass die Bank die Immobilie in ihren Besitz überschreiben kann, sobald der Kreditnehmer säumig wird. Dann kann die Bank die Zwangsräumung ohne Anwalt oder Richter anordnen.« Was viele Kreditnehmer auch übersahen: Bis Ende 2008 wurden 98 Prozent der Hypotheken in Spanien mit einer flexiblen Rate unterzeichnet. Auch heute noch haben 85 Prozent der neuen Hypotheken so einen Zinssatz – in Deutschland sind es nur 15 Prozent. Als die Banken in die Klemme gerieten, erhöhten sie die Rückzahlungsraten schlagartig. Die wenigsten Schuldner wurden zuvor über dieses Risiko auf­geklärt, selbst eine feste Anstellung ist keine Garantie dafür, nicht auf der Straße zu landen, wenn die Monatsraten plötzlich das Gehalt übersteigen.
Für ihre Kreditvergabepraxis sind die Banken bisher nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Die in verschiedene Betrugsskandale verwickelte Bankia erhielt vielmehr im vergangenen Herbst eine Finanzhilfe von 4,5 Milliarden Euro aus dem staatlichen Rettungsfonds, nachdem das Bankhaus durch seine Verluste im Immobiliengeschäft in eine Krise geraten war. 60 Milliarden Euro will die Regierung für die Sanierung der Banken aufwenden, für die geprellten Kunden wird noch immer nichts getan. Ministerpräsident Mariano Rajoy reagierte auf die Zwangsräumungen erst, als die Selbstmordfälle durch die Presse gingen. Nun ist ein Moratorium von bis zu zwei Jahren in Härtefällen vorgesehen. Um davon zu profitieren, dürfen die jährlichen Einkünfte einer Familie 19 000 Euro nicht überschreiten und die im Elternhaus lebenden Kinder nicht über drei Jahre alt sein. Auf gerade einmal zwei der 202 Zwangsräumungen, die Anfang 2013 im 140 000 Einwohner zählenden Lleida anstehen, würden diese Kriterien zutreffen, kritisiert Baches.

Während die Politik zögert, kommt Unterstützung von den Gerichten und Anwaltskanzleien. Das US-amerikanische Modell, Schulden mit der Rückgabe der Immobilie an die Bank zu tilgen, fordern einflussreiche Richter und Staatsanwälte auch für Spanien. »Die Geldinstitute haben die Gerichte zu ihren Inkassobüros gemacht«, beklagt der Richterverband APM. Er hält die spanische Gesetzgebung aus dem Jahr 1909 für veraltet und kritisiert, dass sie den Wohnungseigentümern in den Räumungsverfahren kaum eine Chance lasse. Der spanische Generalrat der Justiz lehnte im Herbst Reformen ab und erhielt kurz darauf eine Rüge vom Europäischen Gerichtshof, der befand, dass das spanische Zwangsräumungsgesetz europäische Normen verletze, weil es den Kunden nicht vor missbräuchlichen Vertragsklauseln bei der Hypothekenvergabe schütze. Nun hat er über eine Sammelklage spanischer Juristen zu entscheiden, Grundrechte würden in Spanien durch die Gesetzespraxis systematisch verletzt. Mehrere Regionalgerichte haben bis zum Richterspruch aus Luxemburg alle Zwangsräumungsprozesse auf Eis gelegt. Die Kutxabank aus dem Baskenland versprach nach dem Selbstmord einer beliebten Ratsfrau in Barakaldo umgehend, auf Zwangsvollstreckungen zu verzichten. Die valenzianische Gemeinde Alzira hat leerstehende Immobilien aus dem Bestand einer Bank verstaatlicht, um sie als Sozialwohnungen zu nutzen. Die größte spanische Polizeigewerkschaft SUP sicherte Polizisten juristische Hilfe zu, die nicht an Zwangsräumungen teilnehmen wollen. Und die Aktivistinnen und Aktivisten, die am Dienstag voriger Woche die Caixa Penedès besetzten, wurden von den eingetroffenen Beamten der katala­nischen Autonomiepolizei nicht etwa vertrieben, sondern erhielten Solidaritätsbekundungen. Nach sieben Stunden Besetzung gab sich der Bankdirektor kompromissbereit. Doch am Tag darauf bekam Isabel einen Drohanruf der Bank.