Wie ein neuer Maßstab für die Zufriedenheit der Deutschen gesucht wird

Can’t relax in Deutschland

Die Enquete-Kommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« des Bundestags hat ihre Vorschläge zur Messung der Lebensqualität in Deutschland präsentiert.

In einem Land, in dem es häufig dunkel ist, ist es nicht einfach, angemessene Kriterien für Wohlstand und Lebenszufriedenheit zu finden. Gerade mal 22,5 Sonnenstunden zählten die Statistiker im vergangenen Monat in Deutschland. So wenig gab es im Januar seit sechs Jahrzehnten nicht mehr.
Subjektiv mögen die klimatischen Verhältnisse viel zum persönlichen Wohlbefinden beitragen. Objektiv ist die Lebenszufriedenheit aber nur sehr schwer zu erfassen. Die Enquete-Kommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« des Deutschen Bundestags hat sich dennoch in den vergangenen zwei Jahren mit der undankbaren Aufgabe beschäftigt, allgemein verbindliche Kriterien zu formulieren, mit denen die Lebensqualität zu messen ist. Kürzlich hat sie ihr Konzept vorgestellt – und damit viel Kritik auf sich gezogen.
Notwendig wurde diese Aufgabe, weil die bisherigen Indikatoren immer offener in Frage gestellt wurden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) galt jahrzehntelang als die entscheidende Größe, um den Lebensstandard festzustellen. Die Ermittlung der in einem Jahr produzierten Waren und Dienstleistungen bot schließlich einen entscheidenden Vorteil. Aus der schier endlosen Datenmenge ließ sich eine objektive Zahl generieren, die man regelmäßig vergleichen konnte. Wenn das BIP stieg, dann nahm offensichtlich auch der Wohlstand zu. Es diente als Beweis dafür, dass die kapitalistische Gesellschaft offenbar grenzenlos expandieren kann – und damit auch der Wohlstand ihrer Bürger.

Die Kritik an diesem Modell, die in den vergangenen Jahren wegen der Finanzkrise noch vehementer wurde, entwickelte sich im Zuge der Umweltdebatte. Die Unzulänglichkeiten des alten Maßstabs zeigen sich bereits an einfachen empirischen Erkenntnissen. So vergrößern sich die sozialen Unterschiede in den westlichen Industriestaaten trotz wirtschaftlichen Wachstums teils erheblich, in Deutschland sogar besonders stark. Verdienten die obersten zehn Prozent der Bevölkerung hier vor zwei Jahrzehnten noch sechsmal soviel wie die ärmsten zehn Prozent, so ist es heute achtmal so viel. Theoretisch kann das BIP auch steigen, weil ein kleiner Teil der Bevölkerung enorme Vermögenszuwächse erzielt, während im Land eine Hungersnot herrscht, wie dies beispielsweise in einigen afrikanischen und südamerikanischen Ländern in der jüngeren Vergangenheit der Fall war. Auch in den westlichen Industrienationen spiegeln die Zahlen in vielen Fällen eine bizarre Logik wieder. In den USA, einem Land mit einer exorbitant hohen Anzahl an Strafgefangenen, gehen die Ausgaben für den Vollzug positiv in das BIP ein – was wohl kaum als ein Ausdruck hoher Lebensqualität gelten kann. Seit geraumer Zeit wird daher nach einem adäquaten Maßstab gesucht und mit unterschiedlichen Vorschlägen experimentiert.

Bekannt wurde etwa der Burger-Index, der den Preis für einen Big Mac in verschiedenen Währungen vergleicht und in US-Dollar umrechnet. Mehr Mühe machten sich die Vereinten Nationen mit ihrem »Human Development Index«, der die Wirtschaftsleistung mit Daten zur Lebenserwartung und dem Bildungsniveau kombiniert. Nach diesem Index liegen europäische Staaten wie Dänemark oder Norwegen an der Spitze. Eine andere Gewichtung liegt dem »Happy Planet Index« zu Grunde. Er misst die Zufriedenheit der Bewohner, ihre Lebenserwartung sowie die ökologische Belastung. In dieser Zählung liegen Länder der Karibik und Lateinamerikas weit vorne, allen voran Costa Rica. Besonders ambitioniert ist das kleine Königreich Bhutan im Himalaya, dass das »Bruttonationalglück« seit 2008 sogar in die Verfassung aufgenommen hat.
Offenbar hat sich auch die Enquete-Kommission von den vielen Ansätzen inspirieren lassen, denn ihr System zur Messung des jährlichen Wohlbefindens erscheint wie ein Konglomerat aus den unterschiedlichen Methoden. So bleibt das Bruttoinlandsprodukt als wichtige Größe erhalten, worauf vor allem die Vertreter aus der Regierungskoalition Wert gelegt hatten. Allerdings soll es künftig nur noch eines unter vielen Kriterien sein, die unter den Kategorien materieller Wohlstand, Soziales und Teilhabe sowie Ökologie erfasst werden.
Insgesamt sind 20 Indikatoren vorgesehen, die zusammen als »Dashboard« funktionieren sollen, ähnlich wie ein Armaturenbrett im Auto. Für jeden Bereich tragen Experten jährlich exakte Daten zusammen. In der Kategorie Ökologie wird beispielsweise ein Index für die nationale Vielfalt der Vogelarten erstellt, ebenso wie für die emittierten Treibhausgase und den Überschuss an Stickstoff in Böden und Gewässern. Je nach Zustand sollen die Indikatoren grün oder rot leuchten. Steigen beispielsweise die Immobilienpreise und Aktienkurse in extremer Weise, wechselt das Lämpchen für »Finanzielle Nachhaltigkeit des Privatsektors« die Farbe. Zusammen bilden die einzelnen Bereiche ein blinkendes Warnsystem, das die Kommission gerne mitten im Reichstagsgebäude installieren möchte. Die Abgeordneten könnten dann ab dem kommenden Jahr jederzeit sehen, wie es um den gesellschaftlichen Lebensstandard bestellt ist.

Allerdings sind nicht alle glücklich über den Entwurf. »Es ist auf jeden Fall ein Kompromiss«, meint die Vorsitzende der Enquete-Kommission, Daniela Kolbe (SPD). Niemand in der Projektgruppe habe seine Vorstellung über Lebensqualität vollständig durchsetzen können. Andere finden den Entwurf hingegen lächerlich. »Herausgekommen ist ein abstruses Zahlenspiel mit Warn- und Hinweislampen«, meinte Matthias Birkwald (Die Linke). Und auch die Grünen halten das Konzept für wenig alltagstauglich.
Immerhin kann man dem Konzept zugutehalten, dass es zumindest versucht, den Begriff der Lebensqualität umfassender zu betrachten. Als neues Element wurde etwa die sogenannte »Nicht-Marktvermittelte Produktion« mit aufgenommen. Darunter fallen Tätigkeiten wie Hausarbeit, die Erziehung von Kindern oder Ehrenämter, die bislang gar nicht berücksichtigt wurden, aber viel zum allgemeinen Wohlbefinden beitragen. Ein Problem besteht jedoch darin, dass für diesen Bereich bislang keine ausreichende Datenbasis vorliegt.
Die ausschließlich quantitative Erfassung bringt aber noch grundsätzlichere Probleme mit sich. Wie wirkt es sich auf das Wohlbefinden aus, wenn die CO2-Emissionen sinken, die soziale Ungleichheit aber wächst? Wenn die Zahl der Vogelarten steigt, die Aktienkurse hingegen fallen? Die empirische Datenerhebung lässt kaum qualitative Aussagen zu und vermittelt Zusammenhänge nur unzureichend.
Auch vermeintlich eindeutige Kategorien können oft nur widersprüchliche Ergebnisse liefern. In den vergangenen Jahren nahm beispielsweise in Deutschland, gemessen am Bruttosozialprodukt, der materielle Wohlstand zu. Ob damit aber auch das allgemeine Wohlbefinden wuchs, ist zumindest zweifelhaft. Denn gleichzeitig sind in Deutschland seit 2006 die Krankheitstage wegen »Burn-out« um das 18fache gestiegen, die Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen und Klinikaufenthalten wegen Depression haben sich nach Angaben der Techniker Krankenkasse in den vergangenen fünf Jahren um 50 Prozent erhöht. Vielen bleibt da trotz grüner Lämpchen nichts anderes übrig, als auf bessere Zeiten zu hoffen. Und auf besseres Wetter.