Immer mehr ADHS-Diagnosen in Deutschland

Hör auf zu zappeln!

Einer aktuellen Studie zufolge leiden ­immer mehr Kinder und Jugendliche an ADHS. Offenbar spielen dabei nicht nur medizinische, sondern auch soziale Faktoren eine Rolle.

»Wibbel nicht so, sitz doch endlich still auf deinem Po«, heißt es in einem fröhlichen Kinderlied, das sich auf zwei weithin bekannte Phänomene bezieht. Zum einen gab und gibt es zu jeder Zeit Kinder mit einem erhöhten Bewegungsdrang, und zum anderen wird dieser Drang im Alltag immer wieder als störend empfunden – sei es in der Familie, im Kindergarten oder in der Schule.
In Deutschland scheinen diese beiden Phänome immer häufiger vorzukommen, zumindest legen dies die Zahlen des »Arztreport 2013« der Barmer GEK nahe. In diesem Jahr hat der Report die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) als Schwerpunktthema. Die Zahlen, die präsentiert werden, haben es in sich. Seit 2006 gab es bei den ADHS-Diagnosen einen Anstieg um 42 Prozent. Insgesamt waren 2011 rund 620 000 Kinder und Jugendliche von der vermeintlichen Störung betroffen. Noch höher fallen die Zahlen aus, wenn man sich exemplarisch einen einzelnen Geburtenjahrgang ansieht. Vom Geburtenjahrgang 2000 erhielten im Beobachtungszeitraum von 2006 bis 2011, was für im Jahr 2000 Geborene ziemlich genau der Grundschulzeit entspricht, rund 19 Prozent der Jungen und etwa acht Prozent der Mädchen eine ADHS-Diagnose. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass einer von fünf Jungen nicht mehr bloß ein wenig wibbelt oder zappelt, sondern eine ärztlich attestierte Störung aufweist.

»Von diesen Zahlen waren wir auch überrascht. Obwohl ADHS in den letzten Jahren immer mal Thema war, sind diese Zahlen der Barmer GEK wirklich erstaunlich«, sagt Thomas Grobe, Hauptautor der Studie, die das Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung (ISEG) aus Hannover im Auftrag der Barmer GEK durchgeführt hat. Der Experte hat zusammen mit weiteren Autoren die Daten der Barmer GEK für die Jahre von 2006 bis 2011 ausgewertet. Grundlage sind die Abrechnungen, die die Ärzte bei den kassenärztlichen Vereinigungen einreichen. Seit 2004 werden diese Daten an die jeweiligen Krankenkassen weitergegeben, so dass für diesen Zeitraum eine sehr gute Datenbasis vorliegt.
Da die Ärzte ihre Abrechnungen immer mit Diagnosen belegen müssen, handelt es sich, wenn hierbei der Begriff ADHS auftaucht, nicht bloß um Ratschläge oder Vermutungen der Mediziner, sondern um ausdrücklich gestellte Diagnosen. Diese sind jedoch nicht unumstritten. Es handelt sich bei ADHS strenggenommen gar nicht um eine Krankheit, wie oft fälschlich behauptet wird, weil sie nämlich weder heilbar noch schulmedizinisch im Gehirn eindeutig lokalisierbar ist. Es handelt sich – wie der Name schon sagt – viel mehr um eine Störung, die in der »Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« (ICD 10) unter »F 90« als »Störung von Aktivität und Aufmerksamkeit« beschrieben wird. Im »Diagnostischen und Statistischen Handbuch Psychischer Störungen« (DSM) wird sie ebenfalls angeführt. Hier wird Kindern mit dieser Störung der Schlüssel »314.01« zugewiesen. Nur ob es »F 90« oder »314.01« überhaupt gibt, da sind sich die Fachleute nicht einig, denn die Ärzte gelangen zur Diagnose von ADHS nicht durch einen Blut-, Gen- oder anderen Schnelltest, sondern durch ein anhand eines Fragebogens geführtes Gespräch mit den Angehörigen, in der Regel mit den Eltern.
Dort werden je nach Art des Fragebogens verschiedene Lebensbereiche abgefragt, und wenn man eine bestimmte Anzahl Symptome erreicht hat, steht die Diagnose fest. Eltern müssen hierbei unter anderem einschätzen, ob ihr Kind beständig seit mindestens sechs Monaten »häufig Einzelheiten nicht beachtet oder Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten macht«. Es ist ein sehr subjektives Diagnoseverfahren, denn gestresste Eltern werden die Unruhe ihres Kindes wahrscheinlich viel gravierender erleben als entspannte Eltern.

Für den Göttinger Neurobiologen Gerald Hüther ist ADHS daher keine Krankheit oder Hirnstörung. Er führt die größere Zahl von unruhigen Kindern auf einen Mangel an Erfahrungen zurück, die das kindliche Gehirn für seine Entwicklung braucht. Seiner Ansicht nach ist die Diagnose ADHS schlichtweg bequem, da die Eltern mit einem angeblich genetischen Defizit entlastet werden, die Ärzte froh sind, dass sie mit einer einfachen Medikamentengabe alles regeln können, und die Lehrer aufatmen können, weil sie nicht verantwortlich für die Störungen sind.
Egal, wie gründlich die vermeintliche Diagnose gestellt wird, die therapeutische Maßnahme ist häufig ein und dieselbe. Den Kindern werden Psychopharmaka mit dem Wirkstoff Methylphenidat verschrieben. Am bekanntesten dürfte wohl das Medikament Ritalin sein. Auch beim Verschreiben dieses Medikaments verzeichnet die Studie der Barmer GEK sehr hohe Steigerungsraten. Im Beobachtungszeitraum von 2006 bis 2011 stieg die Verordnung von Präparaten der Methylphenidat-Gruppe bei unter 19jährigen um 35 Prozent. »Wenn man sich anschaut, welche Aufregung es um Doping im Sport gibt, dann erstaunt es schon, warum diese Medikamente so häufig und leichtfertig Kindern und Jugendlichen verschrieben werden«, meint Thomas Grobe, denn diese Medikamente wirken ähnlich wie Doping, nur treiben sie die Kinder nicht zu Höchstleistungen, sondern stellen sie ruhig, so dass ihre Unruhe und ihre Unkonzentriertheit zumindest scheinbar verflogen sind.
Die netten bunten Pillen haben jedoch nachgewiesene Nebenwirkungen. Die Gewichtszunahme mag noch als vergleichsweise harmlos erscheinen, doch es besteht auch der Verdacht, dass sich die Psychopharmaka auf das Wachstum auswirken. Vor allem aber lernen die Kinder und Jugendlichen nicht, sich mit ihrer Aggressivität und Unruhe auseinanderzusetzen.
Wenn man sich die Zahlen der aktuellen Studie genauer ansieht, wird deutlich, dass die ADHS-Diagnosen wohl auch durch andere Faktoren als das Zappeln beeinflusst werden. »Die Diagnose tritt gehäuft bei Jungen im Alter von zehn bis elf Jahren auf. Zwölf Prozent aller elfjährigen Jungen erhalten nach dem vorliegenden Datenmaterial die Diagnose ADHS. Das ist genau der Zeitpunkt des Übertritts von der Grundschule auf die weiterführende Schule«, sagt Grobe. Er vermutet, dass der gesteigerte Leistungsdruck sich auf das Verhalten der Kinder auswirkt. Damit die Kinder es aufs Gymnasium schaffen, werden sie gerade in diesem Alter teilweise über das Maß hinaus gefördert oder es wird mit Medikamenten nachgeholfen. Dass einer Studie des Universitätsklinikums Eppendorf von 2010 zufolge rund ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren unter psychischen oder psychosomatischen Problemen leidet, ist also nicht überraschend.
Darüber hinaus konnten die Autoren der ISEG-Studie nachweisen, dass prozentual häufiger Kinder von jungen Eltern unter 25 Jahren ­betroffen sind. »In dem Alter ist man häufig noch nicht sicher im Job und steht mitunter unter enormem Stress. Wenn es sich dann um das erste Kind handelt, kommen auch Unsicherheiten hinzu«, vermutet Grobe. Noch eine weitere Tatsache tritt in der Studie deutlich zu Tage. »ADHS ist keine Modediagnose der Besserverdienenden«, bringt Grobe die überraschende Erkenntnis auf den Punkt.
Da die Kinder über ihre Eltern versichert sind, konnten die Studienautoren mindestens immer einen Elternteil einer sozialen Schicht zuordnen. Dabei zeigte sich eindeutig, dass Kinder aus finanzschwachen Familien deutlich häufiger betroffen waren. Für Großstädte lässt sich das auch anhand von schulbehördlichen Daten auf Stadtteilebene häufig sehr leicht nachvollziehen. In Hamburg etwa war der »Förderbedarf Verhalten oder Lernschwierigkeiten« im reichen Stadtteil Blankenese in den vergangenen Jahren deutlich geringer als in ärmeren Quartieren. An manchen Grundschulen hat es dort sogar über Jahre hinweg nicht einen einzigen Fall gegeben. Diese statistische Auffälligkeit lässt sich zumindest zum Teil damit erklären, dass in privilegierten Familien, wenn ein Schulversagen droht, die betreffenden Kinder oft auf Privatschulen abgeschoben werden, wo der Betreuungsschlüssel höher ist und das Schulgeld die Schulleitungen milde stimmt. In den Statistiken staatlicher Schulen tauchen sie somit nicht mehr auf.
Auch auf die Bundesrepublik bezogen sind die Fallzahlen sehr unterschiedlich verteilt. Während ganze Landstriche, wie etwa Mecklenburg-Vorpommern, sehr geringe ADHS-Quoten aufweisen, gibt es auch Ausreißer nach oben. Einer der Spitzenreiter ist die unterfränkische Stadt Würzburg. »Eine Lokalredakteurin hat in Würzburg recherchiert, dass es in der Stadt eine bekannte ›Ritalin-Praxis‹ gibt. Dort erhält man sehr leicht das Medikament verordnet«, erzählt Grobe. Interessanterweise stehen an der Universität Würzburg sowohl Kinder- und Jugendpsychologie als auch Sonderpädagogik auf dem Lehrplan.

Sicherlich sollte man bei der derzeitigen Debatte vermeiden, verzweifelte Eltern oder Lehrer zu diskreditieren. Ein Kind mit großer Unruhe kann, egal ob man von Zappelphilipp, Aufmerksamkeitsstörung oder ADHS spricht, eine Belastung für Familien und Schulklassen sein. Da kann im Einzelfall auch die Verordnung von Medikamenten das Mittel der Wahl sein. Das Problem liegt jedoch in der Häufigkeit von Diagnose und Medikation. »Wir haben inzwischen ähnlich hohe Zahlen wie in den USA«, warnte auch Friedrich Schwartz vom ISEG gegenüber der Presse.
Es bleibt den Betroffenen nur zu wünschen, dass man ihre Sorgen ernst nimmt, dass aber auch der Schulstress reduziert und das Leben ein wenig entschleunigt wird. Für die Gesundheit der Kinder wäre es wünschenswert.