Ochsen finden ihren Weg

»Das Blau Ihrer Augen ist unergründlich wie ein Bergsee in den Anden« wäre zweifellos ein schöneres Kompliment gewesen. »Ihre Augen blinken lieblich wie ein Glas Weißwein in der Morgensonne« ist weniger charmant, doch könnte die Angesprochene wenigstens annehmen, Rainer Brüderle sei selbst darauf gekommen. Denn der FDP-Fraktionsvorsitzende kann zwar als Beispiel dafür gelten, dass der treffend als Ochsentour bezeichnete Aufstieg in einer Partei nicht die Klügsten und Talentiertesten an die Spitze bringt, doch dürfte selbst er den Unterschied zwischen einem Kompliment und einer plumpen Anzüglichkeit kennen. Aber es ging an dem vieldiskutierten Abend nicht um einen Flirt, vielmehr wollte Brüderle offensichtlich mit einer pubertären Lümmelei den anderen Männern der Trinkrunde gefallen. Dass sein Verhalten nun von vielen Politikern, Journalisten und Leserbriefschreibern vehement verteidigt, als völlig harmlos bezeichnet oder mit der trotzigen Behauptung gerechtfertigt wird, Männer seien die eigentlichen Opfer, belegt nicht allein die weite Verbreitung sexistischer Ansichten.
Die FDP bezeichnet sich als »bürgerliche Alternative«. Man sollte auch als Linker so fair sein, diese Herabsetzung des Bürgertums zurückzuweisen. Früher zogen sich die Herren nach der Mahlzeit in den Rauchsalon zurück, erst dort wurden Zoten gerissen. Das bezeichnete man als Anstand. Man kann es auch Heuchelei nennen, doch immerhin hielt ein Bürger es damals für angebracht, seine niederen Regungen vor der Öffentlichkeit zu verbergen, sei es aus Schamgefühl oder auch nur aus Sorge um seinen guten Ruf. Den Rüpeln, die heutzutage als Bürger gelten möchten, ist Schamgefühl hingegen völlig fremd, und wenn sie kritisiert werden, schimpfen sie auf die Kritiker. Sie verhalten sich wie pubertierende Flegel und erwarten, für ihr schlechtes Benehmen als Tabubrecher oder lebenslustige Charmeure gelobt zu werden. Vergleicht man das erbärmliche Auftreten der Sarrazins, Brüderles, Putins und Strauss-Kahns mit dem Stil und der Eleganz Barack Obamas, könnte man die Flegelei als Trotzreaktion auf das viel beschworene »Ende des weißen Mannes« betrachten, der zum Abschluss seiner Karriere nochmal richtig auf den Putz hauen will. Man kann sie aber auch als Kriegserklärung werten, als Bekenntnis zu dem Willen, die eigenen Privilegien um jeden Preis zu erhalten. Dafür spricht die Unbeugsamkeit, mit der alle wissenschaftlichen Erkenntnisse etwa über den ökonomischen Nutzen von Frauenquoten ignoriert werden. Je deutlicher die Unfähigkeit der vorgeblichen Leistungsträger hervortritt, desto rabiater kämpfen sie um ihre Macht. Und leider war es eine Ausnahme, dass bei Brüderles Zotenreißerei eine resolute Nanny zur Stelle war, die den ungezogenen Bengel ins Bett schickte.