Ayad Ahram im Gespräch über politische Gefangene in Marokko

»Wer fühlt, dass er unterstützt wird, schöpft Hoffnung«

In Marokko gibt es Hunderte politische Gefangene. Um den willkürlichen Fest­nahmen, den Gefängnisstrafen und dem Schweigen darüber etwas entgegenzusetzen, rief die französische Menschenrechtsorganisation »Association de Défense des Droits de l’Homme au Maroc« (Asdhom) am 17. November vorigen Jahres eine Briefpatenschaftskampagne für politische Häftlinge in Marokko ins Leben. Asdhom besteht seit 1984 und hat in den neunziger Jahren bereits eine ähnliche Aktion erfolgreich durchgeführt. Die Jungle World sprach mit dem Generalsekretär von Asdhom, Ayad Ahram (49), über die Kampagne und die jüngsten ungerechtfertigten Verurteilungen im Königreich Marokko.

Was beabsichtigen Sie mit Ihrer Kampagne?
Wir haben zwei Ziele. Erstens, Solidarität mit den politischen Gefangenen zu schaffen, um sie aus ihrer Isolation und Abschottung herauszuholen, zweitens, Druck auf die marokkanischen Behörden auszuüben, indem wir auf die schlechte Behandlung und die Ungerechtigkeiten gegenüber den Häftlingen aufmerksam machen. Ein politischer Gefangener fühlt sich dank eines Briefes einer unbekannten Person ermutigt, seinen Kampf gegen die Ungerechtigkeit weiterzuführen. Das stärkt seine Moral, was uns verschiedene politische Häftlinge bestätigt haben. Wer fühlt, dass er unterstützt wird, schöpft Hoffnung für den geführten Kampf.
Und wenn die marokkanischen Behörden von Bürgerinnen und Bürgern aus aller Welt angeschrieben werden, dann stört sie das. Denn das stellt das beschönigende Bild in Frage, das das Königreich Marokko gegenüber der internationalen Gemeinschaft bezüglich seiner Menschenrechtssituation verbreitet.
Wie sieht Ihre Bilanz der Kampagne bisher aus?
Nach drei Monaten haben wir ungefähr für die Hälfte der politischen Häftlinge, die zu Beginn auf einer Liste vorgeschlagen worden waren, Briefpaten finden können. Das ist eine gute Sache. Jede Woche erstellen wir einen Wochenrückblick. Er geht an alle Patinnen und Paten, an die Presse und soziale Netzwerke im Internet, die wir über den Verlauf der Kampagne informieren. Sie gewinnt derzeit an Boden. Die Briefe der Patinnen und Paten werden verschickt und die marokkanischen Behörden sind angeschrieben worden. Wir re­gistrieren ungefähr zehn neue Patenschaften pro Monat. Das ist ermutigend.
Wie viele politische Häftlinge gibt es derzeit in Marokko? Wie viele davon wurden nach dem Ausbruch der Proteste der landesweiten Bewegung »Mouvement du 20 Février« (M20F) vor zwei Jahren festgenommen?
Am 17. November, bei der Lancierung der Kam­pagne, hatten wir 170 Kandidaten auf unserer Patenschaftsliste. Davon wurden acht Kandidaten zu mehreren Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Zwei Kandidaten sind auf freiem Fuß, werden aber verfolgt. Vier Häftlinge des M20F wurden nach abgesessener Strafe freigelassen. Zwölf Aktivisten der Union Nationale des Étudiants du Maroc (Nationaler Studentenbund) wurden in Meknès und Fès nach Beginn der Kampagne festgenommen und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Insgesamt zählen wir derzeit 172 politische Gefangene, verteilt auf sieben Gruppen. Davon werden unter anderem 23 der Gruppe der »Islamisten« zugerechnet, 34 dem M20F und 23 den »Sahrauis« (Bewohnerinnen und Bewohner der von Marokko annektierten Westsahara, Anm. d. Red.). 70 der 172 Gefangenen wurden nach dem 20. Februar 2011 inhaftiert. Das sind 40 Prozent aller politischen Gefangenen in Marokko.
Eine der jüngsten Verurteilungen betrifft 24 Sahrauis, die am 17. Februar vom Militär­gericht in Rabat zu 20 und mehr Jahren ver­urteilt wurden, neun davon zu lebenslänglicher Haft. Angeklagt waren sie wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung, Gewalt gegen einen Funktionär und Verstümmelung einer Leiche. Im November 2010 hatten Sicherheitskräfte in der Nähe von Laayoune in der Westsahara das Protestcamp Gdeim Izik gestürmt, mit dem die Sahrauis gegen ihre Marginalisierung demonstrierten. Dabei starben elf Sicherheitsleute und zwei Sahrauis. Im Wochenrückblick von Mitte Februar schreiben Sie von einem »katastrophalen« Urteil. Warum?
Katastrophal war das Urteil in jeder Hinsicht, vor allem für den Kampf, den wir für die Menschenrechte führen. Der marokkanische Staat wollte ein Exempel statuieren. Er bediente sich nationaler und internationaler Beobachter, um den Prozess gegen die angeklagten Sahrauis zu legitimieren, von denen die meisten Menschenrechtsverteidiger und bekannt für ihr gewaltfreies Engagement sind. Die Weigerung des Gerichts, die Zeugen der Verteidigung anzuhören, ist nur ein Beispiel für die Regelwidrigkeit dieses Prozesses. Die Beschwerden der Angeklagten, dass sie für Schuldgeständnisse gefoltert und erpresst wurden, wurden nicht berücksichtigt. Bereits die Tatsache, dass Zivilisten von einem Militärgericht verurteilt werden, stellt ein Problem dar. Das Urteil zeigt, dass das Gericht nicht bestrebt war, die Wahrheit herauszufinden.
Sie sagten, dass für gut die Hälfte aller politischen Gefangenen eine Patenschaft besteht. Haben Sie ein Beispiel?
Als wir die Kampagne ins Leben riefen, konzen­trierten wir uns auf das Schreiben von Briefen. Es bedarf keines finanziellen Engagements. So hat sich zum Beispiel eine Schweizer Rentnerin, die bereits einen Sahraui unterstützte, entschieden, mit uns weiterzumachen, weil ihr Patenkind auf unserer Liste steht. Sie schickt uns regelmäßig Briefe, die sie mit ihrem Patenkind austauscht. Wir publizieren sie dann auf unserer Seite.
Die Kampagne begann mit Seddik Kebbouri, einem bekannten ehemaligen politischen Häftling. Unter den Gefangenen befinden sich mit dem Rapper Mouad Belghouat, alias El Haqed, und Younès Belkhdim, dem »Poeten des Volkes«, zwei bei der marokkanischen Opposition populäre Aktivisten. Rückt Asdhom bewusst bekannte Häftlinge in den Vordergrund, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen?
Wir haben uns der Kampagne für die Freilassung von Seddik Kebbouri, dem Gewerkschafter und Menschenrechtsaktivisten, nach den sozialen Protesten im Mai 2011 im ostmarokkanischen Bouarfa angeschlossen. Wir haben unsere Solidarität ausgedrückt, indem wir mit anderen zusammen das »Comité de soutien et d’appui au mouvement du 20 Février« (Unterstützungskomitee für das M20F) in Paris gründeten. Bei den politischen Gefangenen gehen wir nun genauso vor. Ein politischer Häftling ist zunächst ein Opfer einer krassen Missachtung seiner individuellen Rechte. Sein Name ist dabei egal. Wir haben keine Auswahlkriterien bei unserer Arbeit. Unsere Liste zeigt dies ohne Ausnahme.
Im Kampagnentext steht, dass Asdhom einen »Schwung der Solidarität in Frankreich und andernorts« bewirken will. In welchen Ländern spricht man von der Kampagne?
Im Moment erreichen wir vor allem Frankreich, die Schweiz und Belgien. Wir wünschen uns, dass man uns auch in anderen Ländern wahrnimmt. Das Internet hilft uns dabei enorm.
Sie haben mehrere Veranstaltungen angekündigt, um für die Patenschaftskampagne zu werben.
Wir bemühen uns um Treffen mit der »Action des Chrétiens pour l’Abolition de la Torture« (Christen für die Abschaffung der Folter), mit der »Association des Travailleurs Maghrébins en France« (Verein der Arbeiter aus dem Maghreb in Frankreich) und mit Amnesty International. Außerdem wollen wir ein Treffen aller Patinnen und Paten mit Gilles Perrault organisieren, dem französischen Schriftsteller und offiziellen Paten der Kampagne, um uns auszutauschen und der Kampagne neuen Schwung zu verleihen. Einen festen Termin gibt es noch nicht, vermutlich aber wird das Treffen noch vor Ende Juni stattfinden.
Wie groß ist die Solidarität mit den Gefangenen in Marokko selbst? Und welche Bedeutung haben dabei Marokkanerinnen und Marokkaner in Frankreich?
Die Kampagne hat realen Einfluss. Leider haben wir nicht die Möglichkeit, dies in Marokko zu überprüfen. Wir tun aber alles, um alle Opfer von Rechtsverletzungen zu erreichen. In Marokko machen Menschenrechtsorganisationen eine andere Kampagne, eine für die Befreiung der Gefangenen des M20F und aller anderen politischen Häftlinge. Unsere Kämpfe sind komplementär und haben das gleiche Ziel. In Frankreich führt Asdhom diesen Kampf, doch wir versuchen, alle anderen aus der marokkanischen Einwanderung hervorgegangenen Vereine mit einzubeziehen. Die größte Herausforderung ist, die marokkanischen Bürgerinnen und Bürger in großem Umfang zu sensibilisieren.