Maurizio Lazzarato im Gespräch über Verschuldung und Subjektivierung

»Schulden sind eine Technik der Zerstörung von Solidarität«

Der italienische Soziologe und Philosoph Maurizio Lazzarato betrachtet Schulden als ein Instrument neoliberaler Herrschaft. Ein Gespräch über ungleiche Machtverhältnisse, Wissensfabriken und Franz Kafka.

Im Hinblick auf die Krise in Griechenland sprechen deutsche Medien häufig nicht von einer Bankenkrise, sondern von einer Schuldenkrise, auch kursiert das Bild des »verschwenderischen Südeuropäers«, der seine Schulden nicht zahlen kann. Was hat Sie dazu bewogen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen?
Schulden sind ein Machtverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, das mit der Krise der privaten Verschuldung in den USA und der Staatsschuldenkrise in Europa offensichtlich geworden ist. Es steht seit den achtziger Jahren im Zentrum kapitalistischer Organisationsweise, wurde aber fast nie als Machtbeziehung untersucht. Zusammen mit ihrer Kehrseite, den Krediten, standen Schulden im Zentrum neo­liberaler Strategie. Was als Liberalisierung der Wirtschaft bezeichnet wurde, war in erster Linie eine Liberalisierung der Kreditvergabe, des Kapitalverkehrs, in derem Zuge wirtschaftliche und politische Maßnahmen zu Ungunsten des Schuldners ausgeweitet wurden. Was wir bei der Krise der Staatsschulden beobachten können, ist die Ausbeutung der Schuldner durch die Gläubiger.
Würden Sie das genauer erläutern?
Die »Finanzialisierung« der Wirtschaft war eine stete Ausweitung der kontinuierlichen Beziehungen zwischen Gläubigern und Schuldnern. Als diese Politik mit der Subprime-Krise gescheitert war, wurde die Kreditpolitik in eine Schuldenpolitik umgewandelt. Eine kapitalis­tische Strategie, die den Wohlfahrtsstaat durch den Zugang zu Krediten ersetzte. Diese Politik ist gerade in den USA zu beobachten, wo das neoliberale Projekt nahezu vollendet ist. Soziale Rechte wie das Recht auf Bildung, auf Gesundheit und Rente wurden durch den Zugang zu Krediten ersetzt, das Recht darauf also, Schulden zu machen. An die Stelle der Rente im Umlageverfahren traten Pensionskassenbeiträge im Kapitaldeckungsverfahren; anstatt Lohnsteigerungen vorzunehmen, wurden Verbraucherkredite gewährt; die öffentliche Krankenversicherung wurde durch private ersetzt; statt das Recht auf Wohnen zu garantieren, wurden Kredite zum Kauf eines Eigenheims gewährt. Letztere Kreditvergabe löste die Krise aus.
Denn das auf Kredit gekaufte Haus wurde, wie Alan Greenspan gesagt hat, zur Bank. Sein Wert stieg stetig, was erlaubte, weitere Kredit­linien bis zum Gehtnichtmehr anzuzapfen, das heißt, bis die Krise schließlich explodierte. Schuldner konnten zwar Kredite aufnehmen. Allerdings nicht einkommensgemäß, es wurde immer schwieriger, die Schulden zurückzahlen. Die Vergabe von Krediten trägt also zur Schaffung von Armut bei, wenn gleichzeitig Löhne eingefroren oder sogar gesenkt werden, sozi­ale Transferleistungen beschnitten und wenn Schuldzinsen nicht mehr gezahlt werden können. Nicht nur die untersten sozialen Schichten, auch die Mittelschicht ist mehr und mehr einem Prozess der Verarmung ausgesetzt.
Voriges Jahr haben Sie sich im Rahmen der Tagung »Bonds: Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten« im Berliner Haus der Kulturen der Welt mit den Universitäten und den US-amerikanischen Studierenden in der neoliberalen Gesellschaft beschäftigt. Erstere seien zu Finanzunternehmen geworden, die Studierenden die Inkarnation privater Verschuldung. Was meinen Sie damit?
Die amerikanische Universität stellt die Utopie des allgemeinen Finanzkapitalismus dar. 60 Prozent der Studierenden sind verschuldet. In den Universitäten treffen sie auf Studierende aus reichem Haus, auf Kinder von Gläubigern. Die Klassenspaltung vollzieht sich in den Wissens­fabriken also nicht über den Gegensatz von Kapital und Arbeit, sondern über den von Schuldnern und Gläubigern.
Es ist interessant zu sehen, wie der Tempel des Wissens sich zu einem finanziellen Unternehmen gewandelt hat. Vor ein paar Monaten ist der Quartalsbericht der New York Federal Reserve veröffentlicht worden. Er gibt nicht nur Auskunft über die Verschuldung der Haushalte, sondern hält auch Daten zur Verschuldung der Studierenden bereit. Am 31. März 2012 belief sich der Gesamtbetrag der Kredite, die zur Ausbildungsfinanzierung aufgenommen worden waren, auf 904 Milliarden Dollar – 30 Milliarden mehr als noch drei Monate zuvor. Nur um einen Vergleich zu haben: Diese Summe entspricht etwa der Hälfte der Schulden von Ita­lien oder Frankreich, von Ländern mit mehr als 60 Millionen Einwohnern. Wegen einer Schuldensumme, die weit niedriger ist, haben die EU und der IWF nicht gezögert, ein Land wie Griechenland, das sich inzwischen im sechsten Jahr der Rezession befindet, zu zerstören. Und jetzt greifen sie Spanien, Italien und Portugal an. Sie drängen für vergleichbare oder niedrigere Staatsschulden Millionen Menschen einen strikten Sparkurs auf, der Opfer, Arbeitslosigkeit, Armut und Rezession nach sich zieht.
Die Zahl der US-Amerikaner, die sich für einen Studienabschluss verschuldet haben, liegt heute bei 37 Millionen. Sie haben kaum Aussichten, ihre Schulden zurückzuzahlen. Ein Trend, der durch die Studie der Federal Reserve aufgezeigt wird: 32 Prozent der Schuldner sind jenseits der 40, fünf Prozent sogar älter als 60 Jahre. Man verschuldet sich also, bevor man in den Arbeitsmarkt eintritt, und bleibt es dann ein Leben lang. 19 Prozent der Haushalte mussten im Jahr 2010 Studiendarlehen zurückzahlen, das sind doppelt so viele wie 20 Jahre zuvor und 15 Prozent mehr als im Jahr 2007.
Die Studiendarlehen stellen die zweitgrößte Schuldensumme der US-Haushalte im Jahr 2010 dar. Sie sind damit noch höher als die Schulden, die sich über Kreditkarten ergeben. Die höchste Schuldensumme ergibt sich aus den Immobilienkrediten.
Aufgrund der Krise haben viele Absolventen große Mühe, einen Job zu finden. Die Arbeitslosenquote unter den Hochschulabsolventen unter 24 Jahren beträgt mehr als 15 Prozent. Die Studie zeigt auch, dass der Anteil der Schuldner, die länger als drei Monate in Verzug sind, bei Studiendarlehen mit 8,69 Prozent im ersten Quartal sogar höher ist als jene bei Hypotheken und Darlehen für den Kauf eines Automobils.
In ihrer Zeitdiagnose löst der »homo debitus« den »homo oeconomicus« ab. Welche Merkmale bestimmen diese neue Figur des verschuldeten Menschen?
Was für die Studierenden gilt, ist fast paradigmatisch für die Gesamtgesellschaft: Durch Verschuldung vollzieht sich eine Subjektivierung. Der Hochschulabsolvent muss nicht nur sich selbst als ein »Kapital« verstehen, dessen Wert er durch eigene Investitionen – den Kredit, den er aufnimmt, um zu studieren – steigern muss. Er ist gezwungen, wie ein Einzelunternehmen zu denken und zu handeln. Schulden verlangen, dass Menschen, die noch nie ein Unternehmen von innen gesehen haben, unternehmerische Organisationsformen beherrschen und sich mit dem Rechnungswesen auskennen.
Welchen Stellenwert Schulden in unserem Leben einnehmen, lässt sich an der gegenwärtigen Austeritätspolitik in allen europäischen Ländern ablesen. Man muss Gläubiger bezahlen, die die eigentlichen Verantwortlichen der Krise sind. Koste es, was es wolle. Darum gibt es die Lohn- und Einkommenskürzungen und die Einschnitte im sozialen Netz.
Ihrer Meinung nach ist Verschuldung zur politischen Kernstrategie geworden. Schulden fungieren nur noch als Dispositiv zur Produktion und Führung von Subjektivitäten. Gestalten sich die Verhältnisse schuldenbedingt neu?
Schulden bringen eine besondere Subjektivierung mit sich. Die Kontrollmacht und die Zwänge wirken nicht von außerhalb, wie in der Dis­ziplinargesellschaft, sie arbeiten im Innern des Schuldners selbst. Der Student ist sein eigener Unternehmer, sein eigener Kontrolleur.
Arbeiter wurden für eine begrenzte Zeit in einem geschlossenen Raum, einer Fabrik, kontrolliert, und zwar von Menschen und Dispo­sitiven, die ihnen äußerlich und gleichzeitig leicht erkennbar waren. Um Widerstand zu leisten, konnte der Arbeiter auf individuelle »Ressourcen« zurückgreifen und sich mit dem Arbeitskollektiv solidarisieren. Die Kontrolle durch ein Schulden-Dispositiv verläuft anders. Dessen Raum ist nicht geschlossen, und die Zeit, über die Kontrolle und Zwang ausgeübt werden, ist nicht begrenzt. Raum und Zeit sind vielmehr die des gesamten Lebens. Dem Schuldner bleiben 20 bis 30 Jahre, um sein Leben im Hinblick auf die Rückzahlung von Schulden zu organisieren. Schulden bilden so eine Brücke zwischen der Gegenwart und der Zukunft, sie besitzen das Recht, die Zukunft zu bestimmen. Durch die gegenwärtige Verschuldung versucht man, zukünftiges Verhalten zu bestimmen und zu kontrollieren.
David Graeber hat in seinem Buch »Debt. The First 5 000 Years« Schulden als ein moralisches Prinzip beschrieben. Was unterscheidet Ihre These von der Graebers?
Die wichtigsten Differenzen betreffen die Art der Schulden. Ich glaube im Gegensatz zu Graber, dass im Finanzkapitalismus die Schulden unendlich sind. Es ist unmöglich, die Schulden abzutragen, da das Kapital als Geld, das heißt, als Kredit selbst per definitionem mit Schulden identisch ist.
Wenn Sie aus Geld einen Kredit, also Schulden machen – das A und O des Kapitalzuwachses –, wird die Rückzahlung nie abgeschlossen sein, denn das würde die Auflösung des Kapitalverhältnisses bedeuten. Die Beziehung von Gläubiger und Schuldner kann nie aufgelöst werden, da sie die Beziehung politischer Herrschaft und wirtschaftlicher Ausbeutung einer durch die Finanzwirtschaft dominierten Ökonomie begründet. Man kann ein paar Schulden begleichen, aber niemals alle.
Der Kredit ist der Motor der gesellschaftlichen Produktion und der Macht. Der Kredit muss immer zurückerstattet, aber sofort und zwangsläufig bis ins Unendliche erneuert werden. Der Kapitalismus befreit uns nicht von den Schulden, er kettet sie an uns. Dadurch, dass wir den Schuldendienst bedienen, können wir uns nicht von den Schulden befreien. Nicht durch das Zahlen, sondern nur durch einen politischen Akt, einen Bruch, eine Ablehnung können wir das Verhältnis der Schuldenherrschaft brechen.
Im Unterschied zu vielen polit-ökonomistischen Analysen fragt Ihre Studie auch nach der subjektiven Dimension der Verschuldung des Menschen.
Um die Funktion von Krediten noch präziser zu bestimmen, können wir uns auf literarische Kategorien beziehen. Franz Kafka eignet sich besonders gut, um den Zustand des Schuldners zu beschreiben. Wie K. sind wir alle schuldig, ohne etwas Falsches getan, ohne einen Schuldenvertrag unterzeichnet zu haben. Die Schulden des Staates stehen nicht in unserer Verantwortung, sondern sind die Schulden des finanziellen und politischen Systems. Die zeitgenössische Form von Schulden erscheint weniger als »scheinbare Tilgung« – man wechselt von einer Schuld zur anderen, man begleicht einen Kredit mit einem neu aufgenommenen –, sondern als unbeschränkter Zahlungsaufschub, bei dem man auf fortgesetzte und dauernde Weise verschuldet bleibt. Die Schuld darf nie abbezahlt sein. Der Kredit wird nicht gewährt, damit er zurückgezahlt wird, er muss kontinuierlich variiert werden. Dies ist die Situation der amerikanischen Konsumenten. Aber es ist auch eine Situation, in der sich immer größere Teile der Weltbevölkerung befinden.
Wie wirkt sich das auf die Gesellschaft und den Einzelnen aus?
Schulden sind eine Technik der Zerstörung von Solidarität und Möglichkeiten, kollektiv zu handeln. Der Verschuldete ist allein, individuell verantwortlich gegenüber dem Kreditsystem. Er kann auf keine Solidarität zählen, höchstens auf die der Familie, fühlt sich beschämt und schuldig. Amerikanische Studierende begehrten ein einziges Mal dagegen auf, und zwar im Zuge der »Occupy Wall Street«-Bewegung. Freuds düstere Theorie des Über-Ichs – ich befehle mir und beschuldige mich – könnte man ohne große Übertreibung übertragen auf die Beziehung des Schuldners zum Gläubiger. Das Gläubiger-Über-Ich diktiert dem Schuldner seine Bedingungen, so dass die Erpressung, das schlechte Gewissen und die Schuld sich allein im Innern des Subjekts abspielen. Der Feind, der Schuldige, ist im Innern der Subjektivität zu suchen.

Maurizio Lazzarato: Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Essay über das neoliberale Leben. b_books, Berlin 2012, 148 Seiten, 12, 80 Euro